Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 IV 272



128 IV 272

42. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.280/2002 vom 20. September 2002

Regeste

    Art. 1 StGB, Art. 31 Abs. 2 und Art. 100 Ziff. 3 SVG; Grundsatz
"nulla poena sine lege", Verantwortung des angetrunkenen Begleiters
eines Lernfahrers.

    Der Begleiter eines Fahrschülers ist nicht ein gewöhnlicher Beifahrer;
er ist an der Führung des Fahrzeugs beteiligt und macht sich als Führer
strafbar, wenn er in angetrunkenem Zustand einen Fahrschüler begleitet
(Bestätigung der Rechtsprechung, E. 3).

Sachverhalt

    A.- Das Obergericht des Kantons Luzern verurteilte X. am 30. August
2002 wegen Begleitung eines Fahrschülers auf einer Lernfahrt in
angetrunkenem Zustand (Art. 91 Ziff. 1 SVG [SR 741.01]) und wegen
Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die Strassenverhältnisse (Art. 90
Ziff. 1 i.V.m. Art. 100 Ziff. 3 SVG) zu einer bedingten Gefängnisstrafe
von 3 Tagen und zu einer Busse von Fr. 800.-.

    Der Verurteilung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Am 9.  Dezember
1999 um etwa 06.40 Uhr begleitete X. den Fahrzeuglenker A., Inhaber eines
Lernfahrausweises, auf einer Lernfahrt im Raum Luzern. A. verlor die
Herrschaft über den Personenwagen und verursachte eine Kollision. Beide
Fahrzeuginsassen wurden einer Blutprobe unterzogen; der Lenker wies einen
Blutalkoholgehalt von mindestens 0,64 und sein Begleiter von mindestens
1,42 Gewichtspromillen auf.

    B.- Der Kassationshof des Bundesgerichtes weist die eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde des X. ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Legalitätsprinzips
geltend (Art. 1 StGB: nullum crimen sine lege). Auch wenn sein Verhalten
strafwürdig sei, sei es von Art. 91 Abs. 1 SVG nicht erfasst.

    Die kantonalen Behörden haben sich an die Rechtsprechung des
Bundesgerichtes gehalten. Danach gilt bei einer Lernfahrt der Begleiter des
Fahrschülers als Motorfahrzeugführer. Begründet wird dies damit, dass der
Begleiter nicht nur die Fahrweise des Fahrschülers ständig überwachen und
die nötigen Anweisungen geben, sondern notfalls die Handbremse ziehen oder
das Steuer herumreissen, somit das Fahrzeug selber führen muss. Deshalb
sei es notwendig, dass er fahrtüchtig sei wie ein Lenker. Die Gründe, die
für die Strafbarkeit des angetrunkenen Führers sprächen, würden folglich
im gleichem Ausmass für den Begleiter gelten (BGE 91 IV 147).

    Diese Rechtsprechung wird in der Literatur teilweise kritisiert.
So wird ohne weitere Begründung gesagt, die extensive Auslegung des
Begriffs des "Führens" kollidiere mit dem Legalitätsprinzip (ANDRÉ
BUSSY/BAPTISTE RUSCONI, Code suisse de la circulation routière,
3. Aufl., Lausanne 1996, N. 4.4 zu Art. 91 SVG). Teilweise wird die
bundesgerichtliche Rechtsprechung vorbehaltlos referiert (HANS SCHULTZ,
Die strafrechtliche Rechtsprechung zum neuen Strassenverkehrsrecht, Bern
1968, S. 235; HANS GIGER/ROBERT SIMMEN, Strassenverkehrsgesetz, 5. Aufl.,
Zürich 1996, N. 4 zu Art. 100 SVG, S. 263).

Erwägung 2

    2.  Strafbar ist nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich
mit Strafe bedroht (Art. 1 StGB). Der Gesetzestext ist Ausgangspunkt
der Gesetzesanwendung. Selbst ein klarer Wortlaut bedarf aber der
Auslegung, wenn er vernünftigerweise nicht der wirkliche Sinn des
Gesetzes sein kann. Massgebend ist nicht der Buchstabe des Gesetzes,
sondern dessen Sinn, der sich namentlich aus den dem Gesetz zu Grunde
liegenden Wertungen ergibt, im Wortlaut jedoch unvollkommen ausgedrückt
sein kann. Sinngemässe Auslegung kann auch zu Lasten des Beschuldigten
vom Wortlaut abweichen. Im Rahmen solcher Gesetzesauslegung ist auch
der Analogieschluss erlaubt. Dieser dient dann lediglich als Mittel
sinngemässer Auslegung. Der Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" (Art. 1
StGB) verbietet bloss, über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung
zukommenden Sinn hinauszugehen, also neue Straftatbestände zu schaffen
oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn
des Gesetzes nicht mehr gedeckt wird. Die Abgrenzung zwischen zulässiger
Auslegung einer Strafbestimmung zu Ungunsten des Beschuldigten und
unzulässiger Schaffung neuer Straftatbestände durch Analogieschlüsse
ist allerdings schwierig. Das Bestreben, ein strafwürdiges Verhalten
tatsächlich auch zu bestrafen, darf nicht mit dem Sinn und Zweck einer
Strafnorm vermengt bzw. gleichgesetzt werden. Andererseits ist nicht zu
übersehen, dass sich die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten unter einen
Straftatbestand fällt, eben gerade dann stellt, wenn es als strafwürdig
erscheint (BGE 127 IV 198 E. 3b S. 200).

Erwägung 3

    3.  Strafbar im Sinne von Art. 91 Abs. 1 SVG macht sich, wer in
angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug "führt" ("conduit un véhicule
automobile", "conduce un veicolo a motore"). Wer angetrunken ist, darf
kein Fahrzeug "führen" (Art. 31 Abs. 2 SVG).

    3.1  Das Führen eines Fahrzeugs besteht darin, es zu bedienen,
insbesondere in Bewegung zu setzen und zu lenken (BGE 80 IV 125 E. 1
S. 127). Grundsätzlich führt der Lenker das Fahrzeug. Das folgt nicht nur
aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern auch aus Art. 31 Abs. 1 SVG,
wonach der Führer das Fahrzeug ständig beherrschen muss, oder aus Art. 3
der Vekehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11), der dem
Fahrzeugführer vorschreibt, beim Fahren keine Verrichtung vorzunehmen,
welche die Bedienung des Fahrzeugs erschwert, kein Handmikrophon zu
verwenden und die Lenkvorrichtung nicht loszulassen. Fahrzeugführer kann
allerdings auch sein, wer nicht hinter dem Lenkrad sitzt. Das Fahrzeug
führt auch der Beifahrer, der in den Führungsvorgang des Lenkers eingreift,
beispielsweise indem er auf das Gaspedal drückt, die Handbremse zieht
oder das Lenkrad herumreisst (BGE 118 Ib 524 E. 2 S. 525; 91 IV 147 E. 1
S. 148).

    Wer nur einen Lernfahrausweis besitzt, darf nicht allein einen
Motorwagen führen. Lernfahrten auf Motorwagen dürfen nur mit einem
Begleiter unternommen werden, welcher dafür sorgt, dass die Lernfahrt
gefahrlos durchgeführt wird und der Fahrschüler die Verkehrsvorschriften
nicht verletzt (Art. 15 SVG). Der Begleiter muss neben dem Fahrschüler
Platz nehmen und wenigstens die Handbremse leicht erreichen können (Art. 27
Abs. 2 VRV). Nötigenfalls muss er in den Führungsvorgang eingreifen
und die Handbremse ziehen oder das Steuer herumreissen (BGE 91 IV 147
E. 1 S. 148). Der Fahrschüler darf also den Motorwagen nur zusammen mit
dem Begleiter führen, und es ist der Begleiter, der für die Einhaltung
der Verkehrsregeln und die Vermeidung von Unfällen zu sorgen hat. Der
Begleiter ist damit nicht ein gewöhnlicher Beifahrer; er ist im Gegenteil
von Gesetzes wegen an der Führung des Fahrzeuges durch den Fahrschüler
beteiligt. In diesem Sinn führen beide, Fahrschüler und Begleiter, das
Fahrzeug gemeinsam. Die gesetzlich umschriebene Tätigkeit des Begleiters
kann deshalb unter den Begriff des Führens subsumiert werden, ohne diesen
zu überdehnen.

    Diese Auslegung entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Im alten
Art. 14 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 15. März 1932 über den Motorfahrzeug-
und Fahrradverkehr (MFG; BS 7 S. 595 ff.) stand, dass der Begleiter
"die Verantwortlichkeit als Führer trägt". In der Botschaft vom 24. Juni
1955 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über den Strassenverkehr steht in
Zusammenhang mit Art. 93 Ziff. 3 (heute Art. 100 Ziff. 3 SVG), dass die
Rechtsprechung zu Art. 14 MFG übernommen wird und das Gesetz den Begleiter
"zum Führer des Fahrzeugs" erklärt (BBl 1955 II 65; vgl. BGE 80 IV 125
E. 1 S. 127).

    3.2  Es ist offensichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch
nicht bestritten, dass der Begleiter zumindest die gleich gute
Reaktionsfähigkeit besitzen muss wie ein Lenker, um seinen gesetzlich
vorgeschriebenen Aufgaben nachkommen zu können. Die Gründe, aus welchen
der Gesetzgeber die Angetrunkenheit am Steuer unter Strafe gestellt hat,
gelten gleichermassen gegenüber dem Lenker und dem Begleiter. Denn die
Verkehrssicherheit erheischt nicht nur, dass der Lenker nicht angetrunken
ist, sondern auch, dass der Begleiter eines Fahrschülers es nicht ist. So
hat denn der Gesetzgeber gegenüber berufsmässigen Fahrlehrern gar ein
Alkoholverbot verhängt; während der Arbeitszeit und innert sechs Stunden
vor Arbeitsbeginn ist ihnen der Genuss alkoholischer Getränke gänzlich
untersagt (Art. 58 Abs. 5 VZV).

    3.3  Der Beschwerdeführer wendet ein, der Begleiter könne nicht als
Führer des Fahrzeugs betrachtet werden, weil ansonsten Art. 100 Ziff. 3
SVG keinen Sinn hätte. Diese Bestimmung sieht vor, dass für strafbare
Handlungen auf Lernfahrten der Begleiter verantwortlich ist, wenn er die
Pflichten verletzt hat, die ihm als Folge der Übernahme der Begleitung
oblagen (Abs. 1), und dass der Fahrschüler verantwortlich ist, soweit er
die Widerhandlung nach dem Stand seiner Ausbildung hätte vermeiden können
(Abs. 2).

    Art. 100 Ziff. 3 SVG übernimmt die zur Geltungszeit von Art. 14
MFG ergangene Rechtsprechung zur Frage, inwieweit der Fahrschüler für
Verletzungen von Verkehrsregeln selber strafrechtlich verantwortlich
ist (BGE 80 IV 125 E. 1 S. 127; vgl. BBl 1955 II 65). Im entsprechenden
Entscheid, wo festgehalten wird, dass "auch der Fahrschüler im Rahmen
der ihm ... belassenen Verantwortung Führer ... ist", ging es darum,
festzuhalten, dass entgegen früherer Praxis der Fahrschüler unter
Umständen strafbar sein kann, sei es neben dem Begleiter, sei es allein,
beispielsweise wenn er sich bewusst und gewollt den Weisungen des
Begleiters widersetzt (vgl. hierzu: HANS SCHULTZ, Die Strafbestimmungen
des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr vom 19. Dezember 1958, Bern
1964, S. 64 und 68). Aus Art. 100 Ziff. 3 SVG kann also nicht abgeleitet
werden, der Begleiter sei nicht Führer und könne folglich nicht wegen
Führens eines Fahrzeugs in angetrunkenem Zustand verurteilt werden. In der
Botschaft wird im Gegenteil zu dieser Bestimmung ausdrücklich festgehalten,
dass der Begleiter als Führer des vom Fahrschüler gelenkten Fahrzeugs
zu betrachten ist (BBl 1955 II 65). Dass Abs. 1 von Art. 100 Ziff. 3
SVG mit der Formulierung, der Begleiter sei für die Verletzung der ihm
obliegenden Pflichten verantwortlich, etwas aussagt, was ohnehin gilt,
und dass die Bestimmung somit, streng genommen, überflüssig ist, vermag
daran nichts zu ändern.

    3.4  Damit kann offen bleiben, ob subsidiär eine Verurteilung wegen
Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 StGB) in Frage käme (vgl. BGE
73 IV 180 E. 1 S. 182).