Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 II 335



128 II 335

39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. ASTRA gegen
R. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

    6A.15/2002 vom 3. Juni 2002

Regeste

    Art. 14 Abs. 2 lit. c, Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs.  1bis SVG;
Art. 30 Abs. 1 VZV; Sicherungsentzug des Führerausweises, Drogen- und
Alkoholmissbrauch im Strassenverkehr, Abklärung der Fahreignung.

    Ein die momentane Fahrfähigkeit beeinträchtigender kombinierter Konsum
von Alkohol und verschiedenen Betäubungsmitteln kann Anlass bieten, die
Fahreignung des Betroffenen durch ein Fachgutachten abklären zu lassen
(E. 4c).

Sachverhalt

    A.- R., geboren 1978, erwarb im Mai 1997 seinen Führerausweis der
Kategorie B. Mit Verfügung vom 9. Juni 1999 wurde ihm der Führerausweis
für die Dauer von zwei Monaten entzogen, weil er am 25. April
1999 ein Motorfahrzeug in angetrunkenem Zustand mit einer minimalen
Blutalkoholkonzentration von 0,92 Gewichtspromille gelenkt hatte. Wegen
Überschreitens der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50
km/h um 20 km/h wurde er mit Verfügung vom 10. Februar 2000 zum Besuch
von einem Tag Verkehrsunterricht verpflichtet.

    Am 18. Februar 2001 führte R. seinen Personenwagen um ca. 04.00
Uhr bzw. um ca. 07.10 Uhr von Biel nach Grenchen und wieder zurück
nach Biel in nicht fahrfähigem Zustand, d.h. unter Drogeneinfluss und
zum zweiten Mal innert 22 Monaten in angetrunkenem Zustand. Die beim
Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern (IRM) in Auftrag gegebenen
chemisch-toxikologischen Untersuchungen ergaben, dass R. zum Zeitpunkt
der Verkehrskontrolle unter dem kombinierten Einfluss von Amphetamin, MDMA
(Methylendioxymethamphetamin), Cannabis und Trinkalkohol stand. Aufgrund
der Tatsache, dass R. unter dem kombinierten Einfluss dieser Substanzen am
Strassenverkehr teilgenommen hatte, empfahl das IRM dringend die Abklärung
seiner Fahreignung durch die Administrativbehörde.

    B.- Mit Strafmandat vom 14. Juni 2001 wurde R. vom
Untersuchungsrichteramt I Berner Jura-Seeland wegen Widerhandlungen
gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie Führens eines Personenwagens
unter Drogeneinfluss und in angetrunkenem Zustand zu einer bedingt
aufgeschobenen Strafe von 20 Tagen Gefängnis (Probezeit 3 Jahre) und einer
Busse von Fr. 1'000.- verurteilt. R. erhob gegen dieses Strafmandat
keinen Einspruch, sodass es in Rechtskraft erwuchs. Mit Verfügung vom
5. September 2001 entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des
Kantons Bern R. den Führerausweis für Motorfahrzeuge in Anwendung von
Art. 16 Abs. 3 lit. b und Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG (SR 741.01) auf die
Dauer von 15 Monaten. Die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen
gegenüber Fahrzeugführern wies die von R. gegen diese Verfügung erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 7. November 2001 ab.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt das Bundesamt für Strassen
(ASTRA) Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei an das Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt des Kantons Bern zur medizinischen Abklärung der Eignung
von R. zum Führen von Motorfahrzeugen im Sinne von Art. 14 Abs. 2 lit. c
SVG zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons
Bern forderte den Beschwerdegegner am 7. Juni 2001 gestützt auf
die Verzeigung wegen Führens eines Personenwagens unter Einfluss von
Drogen sowie eventuell in angetrunkenem Zustand auf, innert zehn Tagen
ein Arztzeugnis einzureichen, das sich zu seiner Fahreignung äussern
sollte. Mit Schreiben vom 19. Juni 2001 bestätigte der Hausarzt, dass
beim Beschwerdegegner keine Drogensucht vorliege; alle durchgeführten
Urinproben - auch hinsichtlich Cannabis - hätten ein negatives Ergebnis
gezeigt. Die Frage betreffend die Fahreignung des Beschwerdegegners
liess er hingegen unbeantwortet. Nach Abschluss der strafrechtlichen
Beurteilung verfügte die Administrativbehörde ohne weitere Abklärungen
hinsichtlich der Fahreignung des Beschwerdegegners einen 15-monatigen
Warnungsentzug. Diesen Entscheid schützte die Vorinstanz.

    b) Nach der Rechtsprechung erlaubt ein regelmässiger, aber
kontrollierter und mässiger Haschischkonsum für sich allein noch nicht
den Schluss auf eine fehlende Fahreignung (BGE 127 II 122 E. 4b; 124
II 559 E. 4d und e). Ob diese gegeben ist, kann ohne Angaben über die
Konsumgewohnheiten des Betroffenen, namentlich über Häufigkeit, Menge
und Umstände des Cannabiskonsums und des allfälligen Konsums weiterer
Betäubungsmittel und/oder von Alkohol, sowie zu seiner Persönlichkeit,
insbesondere hinsichtlich Drogenmissbrauch im Strassenverkehr, nicht
beurteilt werden (BGE

124 II 559 E. 4e und 5a). Ein die momentane Fahrfähigkeit
beeinträchtigender Cannabiskonsum kann hingegen Anlass bieten, die
generelle Fahreignung des Betroffenen durch ein Fachgutachten näher
abklären zu lassen (BGE 127 II 122 E. 4b mit Hinweis).

    c) Im konkreten Fall war die momentane Fahrfähigkeit des
Beschwerdeführers durch übermässigen Konsum von Alkohol in Kombination mit
Betäubungsmitteln beeinträchtigt. Der Beschwerdegegner konsumierte nach
eigenen Angaben am fraglichen Tag nach 9 dl Bier und 1 dl Champagner
einen Joint, dies im Wissen darum, dass er nachher noch bzw. wieder
ein Motorfahrzeug führen würde. Zudem war er bereits 22 Monate vorher
wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand angehalten worden, weshalb ihm
der Führerausweis für die Dauer von zwei Monaten entzogen worden war.
Auch wegen Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz war er zuvor schon
verzeigt worden. Zudem hatte er anlässlich der polizeilichen Ermittlungen
im Zusammenhang mit seinen Verfehlungen vom 18. Februar 2001 eingestanden,
seit ungefähr einem Jahr täglich Marihuana zu konsumieren, pro Monat
ca. 30 Joints, d.h. rund 15 g Marihuana. Die chemisch-toxikologischen
Untersuchungen des IRM stellten über die vom Beschwerdegegner angegebenen
Drogen hinaus den Konsum weiterer Drogen (Amphetamin, MDMA) fest. Im
Weiteren wurde im Gutachten der Verdacht auf eine starke Gewöhnung des
Beschwerdegegners an die konsumierten Drogen geäussert und abschliessend
dringend eine Überprüfung seiner Fahreignung durch die Administrativbehörde
empfohlen.

    Dass die Administrativbehörde aufgrund der ihr im Juni 2001 bekannten
Umstände - vom bzw. von den zwei Gutachten des IRM hat sie wohl erst
nach Zustellung der Strafakten Mitte Juli 2001 erfahren - abklären
liess, ob der Beschwerdegegner drogenabhängig sei, ist selbstredend
nicht zu beanstanden. Wenn das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt
aber eine solche Abklärung für erforderlich hielt, hätte es, wie das
beschwerdeführende Amt zu Recht geltend macht, sich nicht mit dieser
ärztlichen Bestätigung begnügen dürfen. Der Hausarzt machte darin
insbesondere keine Angaben darüber, seit wann der Beschwerdegegner
von ihm betreut worden war (Frage 1 auf dem Formular). Zudem hätte dem
Amt auffallen müssen, dass auf dem vorgedruckten Formular "Ärztliches
Zeugnis betr. Fahreignung nach Drogenkonsum" auch die Frage nach der
Fahreignung unbeantwortet blieb. Erst recht hätte das Strassenverkehrs-
und Schifffahrtsamt nach Erhalt des IRM-Gutachtens vom 10. April 2001
betreffend die chemisch-toxikologischen Untersuchungen Anlass genug
gehabt, an der Fahreignung des Beschwerdegegners ernsthaft zu zweifeln
und der dringenden Empfehlung des IRM zur Einholung eines entsprechenden
Fachgutachtens nachzukommen.

    Unter den oben genannten Umständen erweisen sich die Abklärungen
der Administrativbehörden als offensichtlich unvollständig. Nicht erst
die Vorinstanz, sondern schon das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt
hätte ein verkehrsmedizinisches und -psychologisches Gutachten durch
ein spezialisiertes Institut anordnen müssen - dies spätestens nach
Erhalt des Gutachtens des IRM vom 10. April 2001 durch die Zustellung der
Strafakten Mitte Juli 2001. Zu diesem Zeitpunkt hätte es auch unverzüglich
prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für die vorsorgliche Abnahme des
Führerausweises gegeben gewesen wären. Indem sowohl das Strassenverkehrs-
und Schifffahrtsamt als auch die Vorinstanz auf die Einholung eines
Fachgutachtens verzichteten, haben sie ihre Ermittlungspflicht verletzt
(vgl. BGE 127 II 122 E. 4b; 120 Ib 305 E. 4d und 5a). Die Beschwerde
erweist sich somit als begründet.

    d) Die Dauer des Warnungsentzugs von fünfzehn Monaten ist
unbestritten. Sollte die Abklärung des Sachverständigen ergeben, dass
beim Beschwerdegegner kein Eignungsmangel vorliegt und deshalb ein
Sicherungsentzug nicht erforderlich ist, bleibt es beim angefochtenen
Entscheid.

Erwägung 5

    5.- Die Abklärungen der Vorinstanz sind unvollständig. Dies führt,
wenn das Bundesgericht nicht selbst in der Sache entscheidet, zur Aufhebung
und Rückweisung der Sache. (...)

Erwägung 6

    6.- Im Hinblick auf die in solchen oder ähnlichen Fällen notwendige
Koordinierung der Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden einerseits
und der Führerausweisentzugsbehörden andererseits sollte der Kanton
Bern dafür besorgt sein, dass zukünftig die vom IRM im Auftrag der
Strafverfolgungsbehörden erstellten Gutachten unverzüglich an das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt weitergeleitet werden. Darüber
hinaus wird das Bundesamt für Strassen (ASTRA) eingeladen, den Erlass
entsprechender Empfehlungen zuhanden aller Kantone zu prüfen.