Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 II 305



128 II 305

36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen
Abteilung i.S. A. und Mitb. gegen Bundesamt für Justiz
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

    1A.91/2002 / 1A.92/2002 vom 11. September 2002

Regeste

    Vorbehalt der Schweiz zu Art. 2 EUeR, Art. 67 Abs. 1 und Abs.  2 Satz 1
IRSG; Rechtshilfe in Strafsachen, Spezialitätsvorbehalt, Verwendung für das
Strafverfahren herausgegebener Unterlagen in einem verwaltungsgerichtlichen
Verfahren im ersuchenden Staat, Zustimmung des Bundesamtes.

    Ist im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine für das Strafverfahren
entscheidende Vorfrage zu beurteilen und stehen die beiden Verfahren damit
in engem Zusammenhang, so darf das Bundesamt die Zustimmung zur Verwendung
der Unterlagen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erteilen (E. 3.2).

Sachverhalt

    Die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin (im Folgenden:
Staatsanwaltschaft Berlin) führt ein Strafverfahren gegen X. und weitere
Beschuldigte wegen Untreue nach § 266 des deutschen Strafgesetzbuches. Es
wird ihnen vorgeworfen, der unter Verwaltung der Bundesanstalt für
vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) stehenden Y. GmbH nach der
Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten mehrere hundert Millionen
Franken ohne Rechtsgrund entzogen zu haben.

    Im Rahmen verschiedener Rechtshilfeverfahren übermittelte
die Bezirksanwaltschaft IV für den Kanton Zürich (im Folgenden:
Bezirksanwaltschaft) der Staatsanwaltschaft Berlin Unterlagen und
Informationen, welche insbesondere Bankkonten betrafen.

    Am 17. September 2001 stellte die Staatsanwaltschaft Berlin
dem Bundesamt für Justiz (im Folgenden: Bundesamt) den Antrag, es
sei ihr zu bewilligen, die von der Bezirksanwaltschaft übermittelten
Unterlagen und Informationen in zwei Verwaltungsstreitverfahren vor dem
Oberverwaltungsgericht Berlin zu verwenden.

    Am 15. März 2002 entsprach das Bundesamt dem Gesuch.

    A., die Stiftung B. und C. einerseits sowie die Bank D., E., F.
und die Firma G. anderseits erheben je Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit den übereinstimmenden Anträgen, die Verfügung des Bundesamtes vom
15. März 2002 aufzuheben, dem Ersuchen der Staatsanwaltschaft Berlin vom
17. September 2001 sei nicht zu entsprechen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Das Europäische Übereinkommen vom 20. April 1959 über die
Rechtshilfe in Strafsachen (EUeR; SR 0.351.1) verlangt, dass die
Rechtshilfe für ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren erfolgt (Art. 1
Abs. 1 EUeR); es enthält keine Einschränkung der weiteren Verwendung der
auf dem Rechtshilfeweg erlangten Informationen. Eine solche Einschränkung
ergibt sich lediglich aus lit. b des schweizerischen Vorbehalts zu
Art. 2 EUeR, wonach sich die Schweiz vorbehält, "in besonderen Fällen
Rechtshilfe auf Grund dieses Übereinkommens nur unter der ausdrücklichen
Bedingung zu leisten, dass die Ergebnisse der in der Schweiz durchgeführten
Erhebungen und die in herausgegebenen Akten oder Schriftstücken enthaltenen
Auskünfte ausschliesslich für die Aufklärung und Beurteilung derjenigen
strafbaren Handlungen verwendet werden dürfen, für die die Rechtshilfe
bewilligt wird". Dieser Vorbehalt gewährt der Schweiz das Recht,
die Rechtshilfeleistung an eine Verwendungsbeschränkung zu knüpfen
(Spezialitätsvorbehalt). Wann und wieweit sie hierzu verpflichtet ist,
ergibt sich aus dem innerstaatlichen Recht. Damit ist in erster Linie auf
das Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in
Strafsachen (Rechtshilfegesetz, IRSG; SR 351.1), insbesondere Art. 67 IRSG,
abzustellen. Zu dessen Auslegung kann Art. 5 des Staatsvertrags vom 25. Mai
1973 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten
Staaten von Amerika über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen (RVUS;
SR 0.351.933.6) herangezogen werden, der das Prinzip der Spezialität sowie
seine Ausnahmen ausführlich regelt und den entsprechenden Bestimmungen
des IRSG zugrunde liegt. Gemäss Art. 67 Abs. 1 IRSG darf der ersuchende
Staat die durch Rechtshilfe erhaltenen Auskünfte in Verfahren wegen
Taten, derentwegen Rechtshilfe nicht zulässig ist, weder für Ermittlungen
benützen noch als Beweismittel verwenden. Der Spezialitätsvorbehalt soll
danach die strafrechtliche Verwendung von Auskünften zur Verfolgung nicht
rechtshilfefähiger Delikte verhindern. Nicht rechtshilfefähig sind gemäss
Art. 3 IRSG Taten mit vorwiegend politischem Charakter, die Verletzung
von Pflichten zu militärischer oder ähnlicher Dienstleistung sowie
Taten, die auf eine Verkürzung fiskalischer Abgaben gerichtet erscheinen
oder Vorschriften über währungs-, handels- oder wirtschaftspolitische
Massnahmen verletzen. Ein Spezialitätsvorbehalt muss daher angebracht
werden, wenn die im ausländischen Rechtshilfebegehren geschilderten
Taten den Tatbestand eines gemeinrechtlichen und gleichzeitig eines
politischen, militärischen oder fiskalischen Delikts (unter Ausschluss
des Abgabebetrugs) erfüllen. Dagegen steht Art. 67 Abs. 1 IRSG einer
Verwendung der im Rechtshilfeverfahren erlangten Auskünfte für andere
als strafrechtliche und fiskalische Zwecke nicht von vornherein entgegen;
eine derartige weitere Verwendung bedarf jedoch regelmässig der Zustimmung
des Bundesamtes (BGE 126 II 316 E. 2a und b mit Hinweisen).

    In BGE 122 II 134 erwog das Bundesgericht, Art. 67 Abs. 1 IRSG
stehe einer zivilprozessualen Verwendung der im Rechtshilfeverfahren
erlangten Auskünfte jedenfalls dann nicht entgegen, wenn es sich
um die Forderung des durch die Straftat Geschädigten handle. Es wäre
widersinnig, Rechtshilfe zur Verurteilung eines Straftäters zu leisten,
aber gleichzeitig dem Geschädigten zu verwehren, sich auf die Ergebnisse
der Rechtshilfeleistung zu berufen, um zu seinem Recht zu kommen. Dies
müsse unabhängig davon gelten, ob über die zivilrechtlichen Forderungen des
Geschädigten im Adhäsionsverfahren oder in einem separaten Zivilprozess
entschieden werde. Dagegen könne man einwenden, der durch eine Straftat
Geschädigte werde damit beweismässig besser gestellt als andere Kläger,
die auf die Gewährung zivilrechtlicher Rechtshilfe angewiesen seien
und denen das Bankgeheimnis in weiterem Umfang entgegengehalten werden
könne als bei der Rechtshilfe in Strafsachen. Es sei jedoch ein legitimer
Nebenzweck des strafrechtlichen Verfahrens, dem Geschädigten zu seinem
Recht zu verhelfen. Unter diesem Blickwinkel erscheine die beweismässige
Besserstellung des durch eine Straftat Geschädigten gegenüber "normalen"
Forderungsklägern durchaus gerechtfertigt (E. 7c/cc und dd S. 139).

    In BGE 125 II 258 führte das Bundesgericht aus, die Verwendung der
durch Rechtshilfe in Strafsachen erlangten Auskünfte und Schriftstücke in
einem Zivilprozess bedürfe grundsätzlich der Zustimmung des Bundesamtes
nach Art. 67 Abs. 2 Satz 1 IRSG. Das gelte jedoch nicht, soweit das
Zivilverfahren die Rückführung der deliktisch erlangten Vermögenswerte
an den Berechtigten zum Gegenstand habe und insofern das Strafverfahren
ergänze (E. 7a/bb). Die Frage, ob auch die zivilprozessuale Verwendung für
Schadenersatzforderungen des Opfers wegen der dem Rechtshilfeverfahren
zugrunde liegenden Straftat der Zustimmung des Bundesamtes bedürfe,
liess das Bundesgericht offen (E. 7a/cc).

    In BGE 126 II 316 ging es um die Zulässigkeit der Weiterverwendung
rechtshilfeweise übermittelter Unterlagen im Verfahren vor
einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages. Ein
Untersuchungsausschuss soll dem Bundestag die für bestimmte politische
Entscheidungen erforderlichen Informationen beschaffen. Er ist ein
Instrument parlamentarischer Kontrolle und dient der Selbstinformation
des Parlaments; seine Aufgabe ist nicht die Durchsetzung des materiellen
Strafrechts und des staatlichen Strafanspruchs. Das Bundesgericht
bestätigte in diesem Entscheid zunächst, dass das Bundesamt der Verwendung
rechtshilfeweise übermittelter Unterlagen in einem Zivilverfahren zustimmen
darf, wenn das Ersuchen das Zivilverfahren in persönlicher und sachlicher
Hinsicht klar umgrenzt, das Zivilverfahren mit dem Strafverfahren konnex
ist und der Entschädigung des durch die Straftat Geschädigten dient
(E. 2b). Das Bundesgericht befand sodann, dass für das Verfahren vor einem
Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages keine primäre Rechtshilfe
geleistet werden darf, weil es sich dabei um kein Strafverfahren handelt
(E. 3b). Anschliessend erwog das Bundesgericht, der Ausschluss der
primären Rechtshilfe für das Verfahren vor einem Untersuchungsausschuss
des Deutschen Bundestages bedeute nicht, dass auch die Weiterverwendung
von Informationen, die bereits für ein Strafverfahren übermittelt worden
seien, also die sekundäre Rechtshilfe, unzulässig sei. Vielmehr stelle
sich die Frage, ob die sekundäre Rechtshilfe nicht unter analogen
Voraussetzungen, wie sie für Zivilprozesse gelten, zugelassen werden
sollte. Das Bundesgericht bejahte dies, da es widersprüchlich wäre,
Rechtshilfe zur Verurteilung eines Straftäters zu leisten, aber es
gleichzeitig dem ersuchenden Staat zu verwehren, sich auf die Ergebnisse
der Rechtshilfeleistung zu stützen, um über die politischen Folgen
der Straftaten zu befinden. Das Bundesamt dürfe daher der Verwendung
der für das Strafverfahren übermittelten Auskünfte und Schriftstücke
im Verfahren eines Untersuchungsausschusses des Bundestages zustimmen,
wenn das für das Verfahren vor dem Untersuchungsausschuss eingereichte
Gesuch um Verwendung der bereits übermittelten Informationen den
politischen Zweck der Verwendung klar genug umschreibe und das Verfahren
vor dem Untersuchungsausschuss mit dem strafrechtlichen Verfahren
hinreichend konnex sei. Selbst wenn diese Voraussetzungen erfüllt
seien, sei die Verwendung der für ein Strafverfahren übermittelten
Informationen durch einen Untersuchungsausschuss dann unzulässig,
wenn der Untersuchungsausschuss einen Sachverhalt untersuche, der
ausschliesslich nicht rechtshilfefähige Delikte umfasse. Soweit jedoch der
Untersuchungsausschuss Informationen im Zusammenhang mit rechtshilfefähigen
Delikten (wie beispielsweise Bestechungsdelikten) beschaffen solle,
damit der Bundestag über deren politische Folgen entscheiden könne,
stehe einer Leistung der Rechtshilfe nichts entgegen (E. 4a).

    3.2  Das Bundesgericht beurteilte danach die Weiterverwendung
rechtshilfeweise übermittelter Unterlagen als zulässig in separaten
Verfahren, die in einem nahen Bezug zum Strafverfahren stehen.

    In den beiden Verwaltungsstreitverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht
Berlin geht es um die Frage, ob - wie die BvS geltend macht - das
Vermögen der Y. GmbH der ehemaligen Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands (SED) und damit heute dem deutschen Staat zusteht oder
ob - wie X. behauptet - das Vermögen der Y. GmbH der Kommunistischen
Partei Österreichs (KPÖ) zuzurechnen sei. Dabei handelt es sich um
eine für das Strafverfahren entscheidende Vorfrage. Die Verurteilung
der Beschuldigten und die Einziehung eines unrechtmässigen Gewinns
im deutschen Strafverfahren kommen nur dann in Betracht, wenn das
Vermögen der Y. GmbH der SED zuzuordnen ist. Der Bezug der beiden
Verwaltungsstreitverfahren zum Strafverfahren ist demnach noch enger
als der Bezug der separaten Verfahren zum Strafverfahren in den vom
Bundesgericht bisher beurteilten Fällen. Zwar stellen die Verfahren
vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin rechtlich selbständige Verfahren
dar. Faktisch kann man sie aber als Teil des Strafverfahrens betrachten,
da den Urteilen des Oberverwaltungsgerichtes Berlin für das Strafverfahren
zumindest die Bedeutung einer gutachterlichen Stellungnahme zukommt. Die
Beschwerdeführer räumen in ihren Vernehmlassungen an die Vorinstanz
vom 10. Januar 2002 selber ein, dass das Ergebnis der Verfahren vor
dem Oberverwaltungsgericht Berlin für das Strafverfahren von Bedeutung
sein wird. Unter diesen Umständen ist es nicht zu beanstanden, wenn das
Bundesamt die Zustimmung zur Verwendung der übermittelten Unterlagen
in den beiden Verwaltungsstreitverfahren erteilt hat. Würde über die
Vorfrage im Strafverfahren entschieden, dürften sich die deutschen
Behörden ohne weiteres auf die übermittelten Unterlagen stützen;
das gilt auch dann, wenn in einem besonderen Verfahrensabschnitt ein
selbständiger Zwischenentscheid über die Vorfrage getroffen würde. Es wäre
widersprüchlich, den deutschen Behörden die Verwendung der Unterlagen zu
untersagen, nur weil auf Klage von X. bzw. der Y. GmbH hin - also ohne
dass dies die deutschen Behörden zu vertreten hätten - über die Vorfrage
nun in getrennten Verwaltungsstreitverfahren befunden wird.

    Das Rechtshilfeersuchen der Staatsanwaltschaft Berlin vom 17.
September 2001 umschreibt den Gegenstand der Verwaltungsstreitverfahren
vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin in sachlicher und persönlicher
Hinsicht im Übrigen klar.

    Die angefochtene Verfügung verletzt deshalb kein Bundesrecht.