Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 II 139



128 II 139

18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. K. gegen
Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

    6A.112/2001 vom 24. Januar 2002

Regeste

    Art. 16 Abs. 2 SVG, Art. 105 Abs. 2 OG, Art. 9 und 29 BV, Art. 45,
47 lit. a und 49 Abs. 1 VRG/FR; Führerausweisentzug, Mitwirkungspflichten
des Betroffenen im Verfahren.

    Wer durch seinen Rechtsbeistand das Administrativverfahren sistieren
lässt, damit der Strafrichter vorgängig eine bestimmte Sachverhaltsfrage
entscheide, und in der Folge lediglich das zur aufgeworfenen Frage
nichts sagende Dispositiv des Strafurteils ins Recht legt, obwohl
ihm die Urteilsgründe kurz mündlich erläutert worden sind und er
eine schriftliche Urteilsbegründung hätte verlangen können, genügt
seiner Mitwirkungspflicht im Verwaltungsverfahren nicht; lässt die
Verwaltungsbehörde den Betroffenen die Folgen der unbewiesenen Behauptung
tragen, verletzt sie keine wesentlichen Verfahrensbestimmungen.

Sachverhalt

    A.- K. fuhr am 31. August 2000 mit einem Personenwagen auf der N5
von Biel in Richtung Neuenburg. In Tüscherz überschritt er die zulässige
Innerortshöchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 27 km/h.

    Die Kommission für Administrativmassnahmen im Strassenverkehr des
Kantons Freiburg entzog ihm deswegen am 9. November 2000 den Führerausweis
für die Dauer von einem Monat.

    B.- Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Freiburg am 28. September 2001 ab.

    C.- K. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei eine Verwarnung
auszusprechen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                    aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Kommission für Administrativmassnahmen im Strassenverkehr
entzog dem Beschwerdeführer am 9. November 2000 wegen Überschreitens der
innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 27 km/h den
Führerausweis für die Dauer von einem Monat. In der Beschwerde an die
Vorinstanz beantragte der Beschwerdeführer, das Administrativverfahren
sei bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Strafurteils zu sistieren,
eventuell sei lediglich eine Verwarnung auszusprechen, weil er sich
bezüglich der tatsächlich erlaubten Höchstgeschwindigkeit in einem
nachvollziehbaren Irrtum befunden habe. In der Folge wurde das Verfahren
bis zum Vorliegen des Strafurteils ausgesetzt.

    Der Gerichtspräsident von Biel-Nidau verurteilte den Beschwerdeführer
am 20. August 2001 wegen Überschreitens der signalisierten
Höchstgeschwindigkeit innerorts um 27 km/h und in Anwendung von Art. 90
Ziff. 1 SVG (SR 741.01) zu einer Busse von Fr. 800.-. Das Dispositiv des
Entscheids, der öffentlich verkündet und kurz mündlich begründet worden
war, liess der Beschwerdeführer der Vorinstanz zukommen. Die Möglichkeit,
innert zehn Tagen eine schriftliche Urteilsbegründung zu verlangen,
liess der Beschwerdeführer unbenutzt verstreichen.

    b) Die Vorinstanz bestätigte den einmonatigen Führerausweisentzug
im Wesentlichen mit der Begründung, der Beschwerdeführer sei in einem
ordentlichen Strafverfahren rechtskräftig und damit endgültig wegen der
Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden. Er habe offensichtlich
auf eine schriftliche Begründung des Strafurteils verzichtet, da er im
Verwaltungsgerichtsverfahren lediglich das Urteilsdispositiv unterbreitet
habe. Unter diesen Umständen seien seine Einwände nicht weiter zu hören,
der Strafrichter sei ebenfalls zum Schluss gekommen, der Beschwerdeführer
habe aus nachvollziehbaren Gründen meinen müssen, er würde sich noch
auf einer Strecke mit einer signalisierten Höchstgeschwindigkeit von
80 km/h befinden. Wenn dem tatsächlich so gewesen wäre, hätte er eine
schriftliche Begründung des Urteils verlangen oder den Strafbescheid gar
mit einem Rechtsmittel anfechten sollen. Denn der anwaltlich vertretene
Beschwerdeführer habe wissen müssen, dass die Administrativbehörde und
mithin das Verwaltungsgericht an das Strafurteil gebunden sei. Immerhin
sei auch aus diesem Grund das Beschwerdeverfahren bis zum Vorliegen des
Strafurteils ausgesetzt worden.

    c) Der Beschwerdeführer verweist auf BGE 111 Ia 169 E.  4c, wonach
das Stillschweigen einer Behörde überspitzten Formalismus darstellt, wenn
sie den Mangel der Unterschrift auf einer Rechtsschrift so rechtzeitig
erkennt, dass die Partei bei entsprechendem Hinweis den Fehler innert
Frist hätte verbessern können. Ausgehend von dieser Rechtsprechung
könne allgemein gesagt werden, prozessuales Verhalten einer Behörde sei
überspitzt formalistisch, wenn die strikte Anwendung von Formvorschriften
durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt werde. Mit Erhalt
des Dispositivs sei für die Vorinstanz ersichtlich gewesen, dass das
Strafurteil nicht schriftlich begründet gewesen sei. Indem die Vorinstanz
es unterlassen habe, innert der 10-tägigen Frist vom Beschwerdeführer
eine schriftliche Begründung des Strafurteils nachzufordern, und ihn
die Folgen der fehlenden schriftlichen Begründung habe tragen lassen,
sei sie in überspitzten Formalismus verfallen.

Erwägung 2

    2.- a) Das aus Art. 29 Abs. 1 BV (früher aus Art. 4 aBV) fliessende
Verbot des überspitzten Formalismus wendet sich gegen prozessuale
Formenstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges
Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die
Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert
oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine solche
Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 127 I 31 E. 2a/bb S. 34; 125 I 166 E. 3a
S. 170, je mit weiteren Hinweisen).

    Die Rüge des Beschwerdeführers geht an der Sache vorbei. Es stellt sich
nicht die Frage, ob der Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren eine
(innert Frist verbesserbare) Formvorschrift verletzt hat, sondern inwieweit
er verpflichtet war, bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken. Er
legte das entscheidende Prozessthema nämlich selbst fest, indem er geltend
machte, er sei irrtümlich von einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von
80 km/h auf dem fraglichen Strassenabschnitt ausgegangen. Zudem beantragte
er die Sistierung des Verwaltungsgerichtsverfahrens, bis der Strafrichter
diese Frage beurteilt habe.

    b) Für die Feststellung des Sachverhalts gilt im Verwaltungsverfahren
grundsätzlich die Untersuchungsmaxime (ebenso Art. 45 VRG/FR). Diese
wird jedoch relativiert durch die Mitwirkungspflicht der Parteien, welche
namentlich insoweit greift, als eine Partei das Verfahren durch eigenes
Begehren eingeleitet hat oder darin eigene Rechte geltend macht. Die
Mitwirkungspflicht gilt vorab gerade für solche Tatsachen, welche eine
Partei besser kennt als die Behörden und welche diese ohne ihre Mitwirkung
gar nicht oder

nicht ohne vernünftigen Aufwand erheben können (BGE 124 II 361 E. 2b). Das
Freiburger Verwaltungsrechtspflegegesetz sieht eine Mitwirkungspflicht
der Parteien insbesondere vor, wenn sie sich auf einen bestimmten
Sachverhalt berufen (Art. 47 lit. a VRG/FR), und berechtigt die Behörde,
auf die Begehren der Partei nicht einzutreten oder aufgrund der Akten
zu entscheiden, wenn die Partei die zumutbare Mitwirkung nicht leistet
(Art. 49 Abs. 1 VRG/FR).

    c) Zunächst ist der Behauptung des Beschwerdeführers entgegenzutreten,
seine Verurteilung gestützt auf Art. 90 Ziff. 1 SVG könne nur bedeuten,
dass der Strafrichter zur Überzeugung gelangt sei, der Beschwerdeführer
habe aus nachvollziehbaren Gründen meinen dürfen, er befinde sich noch
auf einer Strecke mit einer signalisierten Höchstgeschwindigkeit von 80
km/h. Die Verurteilung gemäss Ziff. 1 schliesst lediglich die Annahme
einer groben Verkehrsregelverletzung durch den Strafrichter aus; ob er
aber das Verschulden als leicht oder mittelschwer beurteilte, lässt sich
daraus nicht ableiten. Möglicherweise erkannte er bloss auf eine einfache
Verkehrsregelverletzung, weil die Innerortshöchstgeschwindigkeit auf dem
fraglichen Streckenabschnitt 60 km/h betrug und er die bundesgerichtliche
Rechtsprechung, die auf der generellen Innerortshöchstgeschwindigkeit
von 50 km/h beruht, entsprechend anpasste. Auf weitere Mutmassungen
kann hier jedoch verzichtet werden. Aus dem Urteilsdispositiv des
Strafrichters geht lediglich hervor, dass der Beschwerdeführer die
signalisierte Höchstgeschwindigkeit innerorts um 27 km/h überschritten
hatte und deswegen in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG mit Fr. 800.-
gebüsst wurde. In Bezug auf den Einwand des Beschwerdeführers, er habe
irrtümlich angenommen, am fraglichen Ort sei das Fahren mit 80 km/h
erlaubt, bringt das Dispositiv keine Klarheit.

    Entscheidend ist nun aber, dass der anwaltlich vertretene
Beschwerdeführer das vorinstanzliche Verfahren sistieren liess, damit
der Strafrichter die Irrtumsfrage kläre. In dieser Situation traf
den Beschwerdeführer eine Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung der
Ergebnisse des Strafverfahrens. Nachdem wie erwähnt dem Urteilsdispositiv
keine Angaben bezüglich der Irrtumsfrage zu entnehmen waren, konnte die
Vorinstanz vom Beschwerdeführer nach Treu und Glauben erwarten, dass
er die schriftliche Begründung des Strafurteils verlange, zumal ihm
ja die Urteilsmotive vom Strafrichter bereits kurz mündlich erläutert
worden waren. Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz auf weitere
Abklärungen verzichten und ihren Entscheid auf das vom Beschwerdeführer
eingereichte

Dispositiv stützen. Jedenfalls hat sie dabei keine wesentlichen
Verfahrensbestimmungen (Art. 105 Abs. 2 OG) verletzt.

    Im Übrigen enthalten Angaben des Beschwerdeführers Anhaltspunkte,
die eher gegen einen Irrtum sprechen. Angesichts des Wohnorts des
Beschwerdeführers, seiner drei Arbeitsorte und der hohen jährlichen
Fahrleistung liegt die Vermutung nahe, dass er bezüglich des fraglichen
Streckenabschnitts der N5 ortskundig ist. Zudem gab er selbst an, bei
der zu schnellen Fahrt habe es sich um eine Testfahrt mit einem Fahrzeug
mit Alternativ-Treibstoffen auf Rapsöl-Basis gehandelt; er habe auf der
breiten und übersichtlichen Strasse zwischen Biel und Neuenburg eine
neue Fahrweise (Fahrt in hohen Gängen bei möglichst geringer Tourenzahl)
getestet und sich auf diese Fahrweise bzw. die Messungen konzentriert.