Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 92



128 III 92

16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. D. gegen Bank A.,
B. und Bank C. (Berufung)

    4C.214/2001 vom 29. Oktober 2001

Regeste

    Aktienrechtliche Verantwortlichkeit des faktischen Organs (Art. 754
aOR).

    Faktische Organstellung des Verwaltungsrats der Muttergesellschaft
aufgrund tatsächlicher organtypischer Zuständigkeit in der
Tochtergesellschaft (E. 3).

Sachverhalt

    D. war seit dem 25. September 1984 einziger Verwaltungsrat der
F. AG. Diese erwarb am 24. November 1988 sämtliche Aktien der E. Holding
AG, welche ihrerseits alle Aktien der E. AG hielt. Am 24. Februar 1989
wurde D. auch in den Verwaltungsrat der E. AG gewählt.

    Am 12. Dezember 1988 schlossen die F. AG, die E. AG und die Bank
C. eine Vereinbarung zur Sanierung der E. AG. Darin verpflichtete
sich die F. AG unter anderem, die Software der E. AG zum Preis von
Fr. 3'000'000.- zu kaufen. Der Kaufpreis war zur Hälfte bis Ende 1988 zu
bezahlen, für die übrigen Fr. 1'500'000.- sollte die E. AG der F. AG ein
langfristiges Darlehen gewähren. Das Darlehen sollte in jährlichen Raten
von Fr. 300'000.- amortisiert werden, erstmals per 30. November 1989.

    Am 5. Juli 1990 wurde über die E. AG und die E. Holding AG der
Konkurs eröffnet. Die Bank A., B. und die Bank C. (Klägerinnen) sind
Gläubigerinnen der E. AG. Sie liessen sich von der Konkursmasse die
Verantwortlichkeitsansprüche gegen die Organe der konkursiten E. AG
abtreten. Am 2. September 1993 reichten die Gläubigerinnen Klage
beim Amtsgericht Luzern-Stadt ein. Sie verlangten im Wesentlichen
die Verurteilung von vier Beklagten, darunter D., zur Bezahlung
von Fr. 3'000'000.- nebst Zins gestützt auf aktienrechtliche
Verantwortlichkeitsansprüche. Das Amtsgericht Luzern-Stadt hiess die
Klage am 21. Dezember 1998 gut und

verpflichtete D. zur Bezahlung von Fr. 3'000'000.- nebst Zins. Das Gericht
kam zum Schluss, D. habe faktisch die E. AG seit deren Übernahme durch
die F. AG geleitet bzw. deren Geschäfte geführt. In dieser Eigenschaft
habe er pflichtwidrig die Bezahlung des Software-Kaufpreises von Fr.
3'000'000.- nicht überwacht bzw. für die kreditierte Kaufpreishälfte
keine hinreichenden Sicherheiten vereinbart. Dadurch sei der E. AG ein
Schaden in dieser Höhe entstanden, welchen der Beklagte in adäquat kausaler
Weise durch die Pflichtverletzung verursacht habe, wofür ihn ein nicht
leichtes Verschulden treffe. Mit Urteil vom 18. April 2001 bestätigte
das Obergericht des Kantons Luzern auf Appellation des Beklagten hin das
erstinstanzliche Urteil.

    Der Beklagte hat gegen das Urteil des Obergerichts Berufung
eingereicht. Er beantragt damit die Aufhebung des angefochtenen
Urteils und die Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz. Eventualiter sei die Klage abzuweisen. Die Klägerinnen
schliessen auf die Abweisung der Berufung.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Beklagte stellt zu Recht nicht in Frage, dass er seit dem
24. Februar 1989 als Verwaltungsrat der E. AG im Sinne von Art. 754 aOR
haftet. Er bestreitet indes, dass er in der Zeit vom 24. November 1988
bis zum 24. Februar 1989 faktisches Organ der E. AG gewesen sei.

    a) Die Organhaftung nach Art. 754 aOR erfasst nicht nur die
Mitglieder des Verwaltungsrates, sondern alle mit der Geschäftsführung
betrauten Personen. Als mit der Verwaltung oder Geschäftsführung betraut
im Sinne dieser Bestimmung gelten nicht nur Entscheidungsorgane, die
ausdrücklich als solche ernannt worden sind, sondern auch Personen, die
tatsächlich Organen vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche
Geschäftsführung besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft
massgebend mitbestimmen (BGE 124 III 418 E. 1b; 122 III 225 E. 4b; 117 II
432 E. 2b; 107 II 349 E. 5a; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches
Aktienrecht, Bern 1996, S. 442; BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht, 2. Aufl.,
Zürich 1996, S. 1072; FORSTMOSER, Der Organbegriff im aktienrechtlichen
Verantwortlichkeitsrecht, in: Freiheit und Verantwortung im Recht,
Festschrift für Arthur Meier-Hayoz, Bern 1982, S. 125, S. 129 ff.; MAYA
R. PFRUNDER-SCHIESS, Zur Differenzierung

zwischen dem Organbegriff nach ZGB 55 und dem
verantwortlichkeitsrechtlichen Organbegriff in: SZW 1993 S. 126 ff.;
URS BERTSCHINGER, Arbeitsteilung und aktienrechtliche Verantwortlichkeit,
Zürich 1999, S. 58 f.). Personen, die aufgrund ihrer Stellung leitende
Aufgaben wahrnehmen können und in bestimmten Bereichen tatsächlich tätig
werden, sind auch für pflichtwidrige Unterlassungen verantwortlich,
wenn im Rahmen des an sich wahrgenommenen Aufgabenbereichs ein
Tätigwerden erforderlich gewesen wäre (DRUEY, Organ und Organisation
- Zur Verantwortlichkeit aus aktienrechtlicher Organschaft, in:
Schweizerische Aktiengesellschaft, 1981, S. 78; BERTSCHINGER, aaO,
S. 147 ff.; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, aaO, S. 442; FORSTMOSER, aaO,
S. 137). Während insbesondere eine blosse Einflussnahme von Organen einer
Muttergesellschaft auf diejenigen der Tochtergesellschaft regelmässig keine
Organverantwortung gegenüber der Tochtergesellschaft begründet, entsteht
eine faktische Organschaft in der Tochtergesellschaft jedenfalls dann,
wenn sich (übertragene oder usurpierte) Zuständigkeiten bilden (DRUEY,
Leitungsrecht und -pflicht im Konzern, in: Charlotte M. Baer (Hrsg.),
Vom Gesellschafts- zum Konzernrecht, Bern 2000, S. 20 f.; FORSTMOSER,
ebenda, Haftung im Konzern, S. 121; VON BÜREN, Der Konzern im neuen
Aktienrecht, in: Grundfragen des neuen Aktienrechts, Bern 1993, S. 60
f.; PETER V. KUNZ, Rechtsnatur und Einredeordnung der aktienrechtlichen
Verantwortlichkeit, Diss. Bern 1993, S. 182 ff.; ALEXANDER VOGEL,
Die Haftung der Muttergesellschaft als materielles, faktisches oder
kundgegebenes Organ der Tochtergesellschaft, Diss. St. Gallen 1997,
S. 205 ff.).

    b) Dem Beklagten ist zunächst beizupflichten, wenn er vorbringt,
die Einflussnahme auf die Geschäftsleitung einer Gesellschaft müsse
aus einer organtypischen Stellung heraus erfolgen, damit einer Person
tatsächliche Organstellung zugesprochen werden kann. Der Beklagte
war einziger Verwaltungsrat der F. AG, welche am 24. November 1988
die Aktien der E. Holding AG und damit deren 100%-iger Tochter E. AG
übernahm. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz war schon
gemäss Aktienkaufvertrag vom 24. November 1988 beabsichtigt, die E.- und
die F.-Gruppen zusammenzufassen. Nach den Erwägungen der Vorinstanz wurde
im Aktienkaufvertrag vereinbart, dass die E.-Software während mindestens
fünf Jahren weiterentwickelt und in der Schweiz durch die F. AG, in
Deutschland durch die G. GmbH vertrieben werden sollte. Letztere sollte
den Vertrieb der F.-Produkte in Deutschland

übernehmen. Die Koordination der Geschäftsführung der beiden Gesellschaften
wurde nach den Feststellungen der Vorinstanz durch die F. AG wahrgenommen,
namentlich durch deren Exekutivausschuss. In den Sitzungen dieses
Exekutivausschusses waren insbesondere auch die Sanierung und die
Liquiditätssituation der finanziell angeschlagenen E.-Gesellschaften
traktandiert. Der Ausschuss unterstand statutarisch dem Verwaltungsrat
der F. AG, deren einziges Mitglied der Beklagte war, der seinerseits
stets an den Sitzungen des Ausschusses mit beratender Stimme teilnahm.

    c) Die Vorinstanz hat die organtypische Stellung zutreffend aus einer
länger dauernden Zuständigkeitsregelung erschlossen. Um das Bestehen
einer derartigen Zuständigkeit zu beurteilen, durfte die Vorinstanz ohne
Bundesrechtsverletzung bei organisatorisch grundsätzlich unveränderten
Gegebenheiten Entscheide mitberücksichtigen, die nach der hier in Frage
stehenden kurzen Zeit getroffen wurden. Danach hat der Exekutivausschuss
der F. AG tatsächlich die Geschäfte der E. AG weitgehend geleitet und
zwar seit der Übernahme der E. Holding AG am 24. November 1988. Der
Exekutivausschuss koordinierte die Geschäftstätigkeiten der F. AG mit
denjenigen der E.-Unternehmen und behandelte auch deren Sanierung und die
Liquiditätssituation der finanziell angeschlagenen Gesellschaften. Da der
Beklagte diesem Ausschuss als beratendes Mitglied angehörte, an dessen
Sitzungen stets teilnahm und diesem Ausschuss als einziger Verwaltungsrat
der F. AG überdies formell vorgesetzt war, ist der Schluss der Vorinstanz
bundesrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Beklagte tatsächlich eine
organtypische Stellung in der E. AG wahrnahm und sich dabei insbesondere
auch mit deren Sanierung befasste. (vgl. auch BGE 128
III 29 ff.)