Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 4



128 III 4

2. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen X.-Y. und
Appellationshof (II. Zivilkammer) des Kantons Bern (staatsrechtliche
Beschwerde)

    5P.322/2001 vom 30. November 2001

Regeste

    Art. 9 BV, Art. 163 und Art. 176 ZGB; Unterhaltsbeitrag, hypothetisches
Einkommen.

    Dem unterhaltspflichtigen Ehegatten darf ein höheres als das
tatsächlich erzielte Einkommen angerechnet werden, wenn ihm eine
entsprechende Einkommenssteigerung tatsächlich möglich und zumutbar
ist. Diese Voraussetzungen müssen erfüllt sein, selbst wenn der
Unterhaltsschuldner sein Einkommen zuvor freiwillig vermindert hat (E. 4).

Sachverhalt

    Die Parteien sind verheiratet und Eltern zweier Töchter. Ein
erstes Eheschutzverfahren fand im Frühling 1996 statt und wurde durch
gerichtlich genehmigte Trennungsvereinbarung beendet. Ab Juni 1997
führten die Ehegatten wieder einen gemeinsamen Haushalt. Im September 2000
suchte X. erneut um gerichtliche Regelung des Getrenntlebens nach. Das
Eheschutzgericht verpflichtete ihn, seiner Ehefau und den beiden Kindern
monatlich insgesamt Fr. 1'550.- zu bezahlen; es legte seinen Berechnungen
das von X. tatsächlich erzielte Einkommen zugrunde. Auf Antrag der Ehefrau
X.-Y. erhöhte der Appellationshof den monatlichen Unterhaltsbeitrag auf
insgesamt Fr. 2'435.-; er ging vom Einkommen aus, das X. bis 1996 als
Betriebsleiter einer Firma erzielt hatte, mit der Begründung, X. habe
seine frühere Arbeitsstelle freiwillig aufgegeben. Das Bundesgericht
heisst die von X. dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 9 BV gut und hebt den angefochtenen Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Die Aufrechnung eines hypothetischen, höheren statt des tatsächlich
erzielten Einkommens hat der Appellationshof für gerechtfertigt gehalten,
weil der Beschwerdeführer seine frühere Stelle freiwillig aufgegeben
habe. Der Beschwerdeführer wirft dem Appellationshof eine willkürliche
Beurteilung der Voraussetzungen vor, deren Erfüllung ausnahmsweise das
Abstellen auf ein hypothetisches Einkommen rechtfertigen kann; ob ihm
ein höheres Einkommen tatsächlich möglich und auch zumutbar sei, habe der
Appellationshof überhaupt nicht geprüft. Die Beschwerdegegnerin bestreitet
diesen Einwand nicht grundsätzlich und versucht vielmehr zu belegen, dass
die nicht beurteilten Voraussetzungen beim Beschwerdeführer gegeben seien.

    a) Bei der Festsetzung von Unterhaltsbeiträgen darf vom
tatsächlichen Leistungsvermögen des Pflichtigen, das Voraussetzung und
Bemessungsgrundlage der Beitragspflicht bildet, abgewichen und statt
dessen von einem hypothetischen Einkommen ausgegangen werden, falls
und soweit der Pflichtige bei gutem Willen bzw. bei ihm zuzumutender
Anstrengung mehr zu verdienen vermöchte, als er effektiv verdient. Wo
die reale Möglichkeit einer Einkommenssteigerung fehlt, muss eine solche
jedoch ausser Betracht bleiben. Diesen Grundsatz hat das Bundesgericht
für sämtliche Matrimonialsachen festgehalten (im Eheschutz: BGE 117 II
16 E. 1b S. 17; während der Dauer des Scheidungsprozesses: BGE 119 II
314 E. 4a S. 316; für Scheidungsalimente: BGE 127 III 136 E. 2a S. 139;
bei der gerichtlichen Ehetrennung: BGE 110 II 116 E. 2a S. 117).

    Aus welchem Grund ein Ehegatte auf das ihm angerechnete höhere
Einkommen verzichtet, ist im Prinzip unerheblich (SUTTER/FREIBURGHAUS,
Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, N. 47 zu Art. 125
ZGB; Urteil des Bundesgerichts 5C.177/2000 vom 19. Oktober 2000,
E. 2a). Unterlässt es ein Ehegatte aus bösem Willen oder aus
Nachlässigkeit oder verzichtet er freiwillig darauf, ein für den
Familienunterhalt ausreichendes Einkommen zu erzielen, kann auf das
Einkommen abgestellt werden, das er bei gutem Willen verdienen könnte
(BRÄM, Zürcher Kommentar, 1998, N. 83 zu Art. 163 ZGB; SCHWENZER, in:
Praxiskommentar Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 16 zu Art. 125 ZGB;
Urteil des Bundesgerichts 5C.154/1996 vom 2. September 1997, E. 3b).

    Die Anrechnung eines hypothetischen, höheren Einkommens hat keinen
pönalen Charakter. Es geht vielmehr darum, dass der Unterhaltspflichtige
das Einkommen zu erzielen hat, das ihm zur Erfüllung seiner Pflichten
tatsächlich möglich und zumutbar ist. Selbst bei Beeinträchtigung der
Leistungsfähigkeit in Schädigungsabsicht darf dem rechtsmissbräuchlich
handelnden Ehegatten ein hypothetisches Einkommen nur angerechnet werden,
wenn er die Verminderung seiner Leistungskraft rückgängig machen kann
(HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar, 1999, N. 22 und N. 59f zu
Art. 163 sowie N. 20 zu Art. 176 ZGB, unter Hinweis auf die teilweise nicht
veröffentlichte Rechtsprechung des Bundesgerichts). Die vom Appellationshof
zitierten Autoren vertreten keinen anderen Standpunkt (HAUSHEER/SPYCHER,
Handbuch des Unterhaltsrechts, Bern 1997, N. 01.62-.64, S. 51 ff.).

    Die gezeigten Grundsätze stützen sich auf die veröffentlichte
Rechtsprechung des Bundesgerichts (z.B. für einen Fall der
Vermögensentäusserung: BGE 117 II 16 E. 1b S. 17). Vorab aus BGE 119 II
314 Nr. 61 und BGE 121 III 297 Nr. 60 kann nichts Abweichendes abgeleitet
werden: Im ersten Urteil hat das Bundesgericht ausgeführt, ein freiwilliger
Verzicht auf Erwerbstätigkeit sei gegebenenfalls unbeachtlich und es
sei von der bisherigen Leistungskraft auszugehen, "sofern diese auch
wieder erreicht werden kann"; strittig war alsdann nur mehr die Frage
der Freiwilligkeit (BGE 119 II 314 E. 4a S. 317). Im zweiten Urteil
ist es um die (verneinte) Frage gegangen, ob ein Unterhaltsbeitrag
auf den Zeitpunkt hin abzustufen sei, in dem der Unterhaltspflichtige
vorzeitig in Pension gehen wollte; da der Unterhaltspflichtige bei der
Beitragsfestsetzung noch im Erwerbsleben stand, war nicht zu prüfen, ob
ihm die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit tatsächlich möglich und zumutbar
sei (BGE 121 III 297 E. 3b S. 299).

    Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist teilweise Kritik erwachsen
(z.B. BRÄM, N. 97 zu Art. 163 ZGB, betreffend Vermögensentäusserung). Es
wird vertreten, dass dem Ehegatten, der sein Einkommen böswillig
vermindert, ein hypothetisches Erwerbseinkommen selbst dann angerechnet
werden soll, wenn sich die Verminderung nicht mehr rückgängig machen lässt
(vgl. dazu SPYCHER, Unterhaltsleistungen bei Scheidung, Diss. Bern 1996,
S. 80/81; SUTTER/FREIBURGHAUS, N. 48 zu Art. 125 ZGB; unklar: SCHWENZER,
N. 32 zu Art. 137 ZGB). Die Frage kann hier aus nachstehendem Grund
offen bleiben.

    b) Der Appellationshof hat dem Beschwerdeführer statt des

tatsächlich erzielten von ca. Fr. 4'050.- ein hypothetisches
Monatseinkommen von Fr. 5'300.- angerechnet einzig mit der Begründung,
der Beschwerdeführer habe seine frühere Arbeitsstelle freiwillig
aufgegeben. Von Mut- oder Böswilligkeit ist der Appellationshof angesichts
der konkreten Umstände - Berufswechsel im Jahre 1996, gemeinsamer Haushalt
ab 1997, Eheschutzgesuch vom September 2000 - selber nicht ausgegangen. Ein
solcher Schluss wäre auf Grund der Beweislage auch nicht zulässig. Dennoch
hat der Appellationshof in keiner Weise die Frage erörtert, ob dem
Beschwerdeführer die Erzielung des angenommenen Einkommens tatsächlich
möglich und zumutbar ist. In Anbetracht dessen ist die Willkürrüge des
Beschwerdeführers begründet (Art. 9 BV). Der Appellationshof ist ohne
Grundangabe von den in Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen
abgewichen (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56 und 60 E. 5a S. 70) und hat in seinen
Ermessensentscheid Umstände nicht einbezogen, die hätten berücksichtigt
werden müssen (BGE 109 Ia 107 E. 2c S. 109; 126 III 8 E. 3c S. 10).

    c) Mit ihren Vorbringen zur tatsächlichen Möglichkeit des
Beschwerdeführers, das hypothetisch angenommene, höhere Einkommen
zu erzielen, versucht die Beschwerdegegnerin den angefochtenen
Appellationsentscheid wenigstens im Ergebnis zu rechtfertigen.

    aa) Die Vorgehensweise der Beschwerdegegnerin ist zulässig; die
Beschwerdeantwort hat dabei die formellen Anforderungen gemäss Art. 90
Abs. 1 lit. b OG zu erfüllen (BGE 115 Ia 27 E. 4a S. 30; bezüglich
Noven: BGE 118 III 37 E. 2a S. 39). Da die Überprüfungsbefugnis des
Bundesgerichts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf Willkür
beschränkt ist, genügt eine willkürfreie Ersatzbegründung (BGE 112 Ia
166 E. 3f S. 172), die vom Appellationshof allerdings nicht ausdrücklich
verworfen worden sein darf (BGE 112 Ia 353 E. 3c/bb S. 355); letzteres
ist hier nicht der Fall.

    bb) Ob dem Beschwerdeführer ein hypothetisches Einkommen in der
angenommenen Höhe zugemutet werden kann, ist Rechtsfrage, ob dessen
Erzielung auch als tatsächlich möglich erscheint, ist hingegen Tatfrage,
die durch entsprechende Feststellungen oder durch die allgemeine
Lebenserfahrung beantwortet wird (BGE 126 III 10 E. 2b S. 12); auch
letzternfalls müssen aber jene Tatsachen als vorhanden festgestellt
sein, die eine Anwendung von Erfahrungssätzen überhaupt erst ermöglichen
(vgl. KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., Bern 1984,
S. 225/226). Die Beschwerdegegnerin stützt ihre Vorbringen unter anderem
auf die Lohnstrukturerhebung

1998 des Bundesamtes für Statistik. Das ist im Verfahren
der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, zumal Grundlage der
Tatsachenfeststellung auch das Wissen des Gerichts über allgemein- oder
gerichtsnotorische Tatsachen bildet; dazu können allgemein zugängliche
Tatsachen gezählt werden, selbst wenn das Gericht sie ermitteln muss
(vgl. GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., Zürich
1979, S. 161 Ziff. II/1 und S. 320 Ziff. III/3).

    cc) Die Lohnstrukturerhebung weist den monatlichen Bruttolohn nach
Wirtschaftszweigen, Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes ("Kategorien")
und Geschlecht aus. Die unbestrittenen Tatsachen, dass der Beschwerdeführer
männlichen Geschlechts ist und vor nunmehr rund fünf Jahren die Funktion
eines Betriebsleiters eingenommen hat, gestatten es von vornherein nicht
- anhand welchen Erfahrungssatzes auch immer - ihn einem bestimmten
Wirtschaftszweig mit konkret umschriebenem Anforderungsniveau des
Arbeitsplatzes zuzuweisen, solange weder über seine Ausbildung noch über
seine Berufs- und Fachkenntnis irgendetwas festgestellt ist; die allgemeine
Lebenserfahrung zeigt vielmehr, dass Betriebsleiter ihre berufliche
Stellung oftmals in einer bestimmten Firma auf Grund ihrer spezifischen
Fähigkeiten und Kenntnisse erreicht haben und alsdann nicht leichthin die
gleiche Funktion in einer beliebigen anderen Firma übernehmen können. Die
von der Beschwerdegegnerin vorgenommene Einreihung des Beschwerdeführers
in eine bestimmte Kategorie beruht auf keinem Erfahrungssatz und ist ohne
festgestellte Tatsachengrundlage zufällig.

    Mangels Feststellungen oder nachprüfbaren Behauptungen über die
berufliche Qualifikation des Beschwerdeführers kann sodann auch nach
Erfahrungswissen nicht beurteilt werden, ob es sich bei ihm um eine
eigentliche Fachkraft handelt, die auf dem Arbeitsmarkt verzweifelt
gesucht wird, wie die Beschwerdegegnerin das darstellt. Die unbestrittene
Tatsache schliesslich, dass der Beschwerdeführer bis zu seinem Auszug
aus der gemeinsamen Wohnung im März 2000 einen Beitrag von Fr. 2'250.-
bezahlt haben soll, gestattet keine eindeutigen Rückschlüsse auf seinen
damaligen Verdienst, da er bis zu jenem Zeitpunkt ja auch nicht für eine
eigene Wohnung und einen eigenen Haushalt aufzukommen brauchte.

    Insgesamt kann auf Grund der Ausführungen in der Beschwerdeantwort
willkürfrei nicht angenommen werden, die Erzielung eines Einkommens von
Fr. 5'300.- sei dem Beschwerdeführer tatsächlich möglich. Dazu lässt
sich auch den kantonalen Akten nichts entnehmen, zumal die zum Beweis
verstellten Unterlagen den Parteien

vor Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde retourniert worden
sind. Der angefochtene Appellationsentscheid kann deshalb nicht auf eine
willkürfreie Ersatzbegründung gestützt werden.