Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 375



128 III 375

68. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. gegen
Milchproduzentengenossenschaft B. (Berufung)

    4C.272/2001 vom 4. Juni 2002

Regeste

    Genossenschaft; Verleihung des Stimmrechts an Nichtmitglieder
(Art. 885 OR).

    Art. 885 OR ist zwingender Natur und verbietet, einem Nichtmitglied das
Stimmrecht zu verleihen. Das folgt aus der körperschaftlichen Autonomie der
Genossenschaft, ihrem personenbezogenen Charakter sowie ihrer Ausrichtung
auf die wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder (E. 3).

    Haftung der Verwaltung für die Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten
(Art. 916 i.V.m. Art. 902 OR).

    Pflicht der Verwaltung zu sorgfältiger Prüfung der Stimmberechtigung
der an der Generalversammlung Anwesenden und der Abstimmungsergebnisse. Ist
ein Mitglied der Verwaltung vom Ausgang des Abstimmungsergebnisses
persönlich betroffen, gilt eine erhöhte Sorgfaltspflicht (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Die ausserordentliche Generalversammlung der
Milchproduzentengenossenschaft B. (Klägerin) lehnte am 16. April 1998
einen Antrag auf Abberufung ihres damaligen Präsidenten (Beklagter)
ab. Ein Genossenschafter focht diesen Beschluss beim Handelsgericht
des Kantons St. Gallen an mit der Begründung, der Beschluss sei mit den
Stimmen des Präsidenten und des Aktuars zustande gekommen, obwohl diese
Personen im Zeitpunkt der ausserordentlichen Generalversammlung nicht
Genossenschafter gewesen seien.

    An der vom Beklagten auf den 5. Februar 1999 einberufenen
Generalversammlung erklärten dieser, der Aktuar und ein weiteres Mitglied
den Rücktritt. Darauf schrieb das Handelsgericht das hängige Verfahren
zufolge Gegenstandslosigkeit am 19. April 1999 ab und auferlegte
die Prozesskosten nach dem mutmasslichen Ausgang des Verfahrens der
Milchproduzentengenossenschaft B.

    B.- Am 19. Mai 2000 beantragte die Milchproduzentengenossenschaft
B. dem Handelsgericht des Kantons St. Gallen, den Beklagten als vormaligen
Präsidenten aus Verantwortlichkeit als Organ zur Zahlung der genannten
Prozesskosten zuzüglich Zinsen zu verurteilen. Das Handelsgericht hiess
die Klage gut.

    C.- Die gegen das Urteil des Handelsgerichts erhobene eidgenössische
Berufung des Beklagten weist das Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  Unter den Parteien ist streitig, ob Genossenschaften
Nichtmitgliedern ein Stimmrecht einräumen können, oder ob dies
durch zwingendes Recht ausgeschlossen ist. Der Beklagte vertritt vor
Bundesgericht erneut die Auffassung, er habe aus der Statutenbestimmung,
die ihm den Stichentscheid einräumte, ganz allgemein auf ein Stimmrecht
schliessen dürfen. Zudem habe auch der Aktuar gemäss langjähriger Übung
stets mitgestimmt.

    3.1  Nach Art. 885 OR hat jeder Genossenschafter in der
Generalversammlung oder in der Urabstimmung eine Stimme. Diese Vorschrift
ist zwingend (BGE 72 II 91 E. 3 S. 103). Nach einhelliger Lehre ist
die Verleihung eines Stimmrechts an Dritte im Rahmen der Genossenschaft
deshalb unzulässig (FORSTMOSER, Berner Kommentar, N. 7 der Vorbemerkungen
zu Art. 839-878 OR; MOLL, Basler Kommentar, N. 2 zu Art. 885 OR; REYMOND,
Die Genossenschaft, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. VIII/5, S. 176;
WENNINGER, Das Stimmrecht des Genossenschafters, Diss. Zürich 1943,
S. 51 ff.; SIGG, Das oberste Organ der Genossenschaft, Diss. Zürich 1953,
S. 23). Dem ist aus nachstehenden Gründen beizupflichten.

    3.2  Die Genossenschaft ist eine personenbezogene Körperschaft. Der
körperschaftliche Wille wird durch Beschlussfassung der Generalversammlung
gebildet. Nehmen daran Personen teil, die nicht der Körperschaft angehören,
wird der Wille fremdbestimmt und die körperschaftliche Autonomie dadurch
beeinträchtigt. Allerdings erachtet ein Teil der Lehre beim Verein,
der ebenfalls eine personenbezogene Körperschaft ist, Statuten für
zulässig, welche Nichtmitgliedern Mitwirkungsrechte einräumen (EGGER,
Zürcher Kommentar, N. 10 zu Art. 66/67 ZGB; WENNINGER, aaO, S. 51; SIGG,
aaO, S. 23 Fn. 17; zumindest für das Wahlrecht implizit zustimmend:
MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 8. Aufl. 1998,
§ 20 N. 43 S. 506; a.A.: RIEMER, Berner Kommentar, N. 22 zu Art. 67 ZGB;
HEINI/SCHERRER, Basler Kommentar, N. 2 zu Art. 67 ZGB). Auch nach altem
Genossenschaftsrecht blieb die Regelung des Stimmrechts den Statuten
überlassen (BBl 1928 I 298); mithin war die Verleihung des Stimmrechts
an Dritte zulässig (WENNINGER, aaO, S. 52).

    Anders als das alte Genossenschaftsrecht und das geltende
Vereinsrecht bestimmt indes Art. 885 OR wie dargelegt zwingend, dass
jeder Genossenschafter in der Generalversammlung eine Stimme hat (BGE 67
I 262 E. 2 S. 267 f.; 90 II 333 E. 5b). Diese Gleichheit des Stimmrechts
ergibt sich aus dem Wesen der Genossenschaft und ist unabdingbar (BGE
69 II 41 E. 3 S. 48 f.). Sie gehört gewissermassen zu ihrem ethischen
Grundgehalt, der besagt, dass jeder Genossenschafter gleich viel wiegt
(GUHL/DRUEY, Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl. 2000,
§ 77 N. 29). Im Unterschied zum Verein ist die Genossenschaft von
ihrer rechtlichen Konzeption her zudem ganz auf die Befriedigung der
wirtschaftlichen Bedürfnisse ihrer Mitglieder und damit auf deren
Interessen ausgerichtet (MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, aaO, § 19 N. 20). Die
Verleihung des Stimmrechts an Dritte birgt die Gefahr fehlender
Übereinstimmung zwischen dem Genossenschaftszweck und den Interessen der
stimmberechtigten Nichtmitglieder.

    Die körperschaftliche Autonomie der Genossenschaft, ihr
personenbezogener Charakter sowie ihre Ausrichtung auf die wirtschaftlichen
Interessen der Mitglieder verbieten demnach, die statutarische Verleihung
des Stimmrechts an Nichtmitglieder als zulässig zu betrachten.

    3.3  Die Vorinstanz hat zutreffend erkannt, dass dem Beklagten und dem
damaligen Aktuar der Klägerin aufgrund zwingenden Rechts kein Stimmrecht
zustand und die Genossenschaft ihnen auch kein solches verleihen konnte. Ob
der Aktuar der Klägerin dennoch ein Stimmrecht auszuüben pflegte, wie
der Beklagte behauptet, ist daher nicht erheblich. Die Vorinstanz hat
somit entgegen der Auffassung des Beklagten Art. 8 ZGB nicht verletzt,
wenn sie zu dieser Frage keine Beweise abnahm.

Erwägung 4

    4.  Der Beklagte macht weiter geltend, das Mitzählen der beiden in
Frage stehenden Stimmen stelle keine relevante Pflichtverletzung im Sinne
von Art. 916 in Verbindung mit Art. 902 OR dar.

    4.1  Gemäss Art. 902 OR hat die Verwaltung die Geschäfte
der Genossenschaft mit aller Sorgfalt zu leiten. Sie hat die
Generalversammlung ordnungsgemäss durchzuführen. Zu ihren Pflichten im
Rahmen der Vorbereitung und Durchführung der Generalversammlung gehört
es, die Beschlussfähigkeit sowie die Stimmberechtigung der Anwesenden zu
überprüfen und die Abstimmungsergebnisse sorgfältig zu ermitteln. Wie
bei der Aktiengesellschaft ist bei der Verwaltung der Genossenschaft
von einem objektivierten Sorgfaltsmassstab auszugehen (WATTER, Basler
Kommentar, N. 2 zu Art. 902 OR): Massgebend ist diejenige Sorgfalt, welche
ein gewissenhafter und vernünftiger Mensch desselben Verkehrskreises wie
der Verantwortliche unter den gleichen Umständen als erforderlich ansehen
würde (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, 1996,
§ 36 N. 80).

    4.2  Die Mitglieder der Verwaltung haften für jedes Verschulden
(BLICKENSTORFER, Die genossenschaftliche Verantwortlichkeit, Diss. Zürich
1986, S. 75). Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn das schädigende Ereignis für
den Verantwortlichen vorauszusehen war. Dabei genügt, dass er nach der
ihm zuzumutenden Aufmerksamkeit und Überlegung eine konkrete Gefahr der
Schädigung hätte erkennen müssen. Ein strenger Massstab ist anzulegen,
wenn Mitglieder der Verwaltung nicht im Interesse der Gesellschaft,
sondern im eigenen Interesse handeln (BGE 113 II 52 E. 3a S. 57).

    4.3  Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz betraf
das unrichtig ermittelte Abstimmungsergebnis einen Beschluss der
ausserordentlichen Generalversammlung, welche zum Entscheid über die
Abwahl des Präsidenten einberufen worden war. Dieser Gegenstand wie auch
seine ausserordentliche Traktandierung waren geeignet, den bevorstehenden
Beschluss als besonders heikel auszuweisen. Der Beklagte hatte daher
abzuklären, ob auch Nichtgenossenschafter wahlberechtigt sind, wenn
er dafür Anhaltspunkte zu erkennen glaubte, wie er in der Berufung
vorbringt. Er musste damit rechnen, dass eine nicht gesetzeskonforme
Durchführung der Abwahl nicht hingenommen würde und ein gerichtliches
Nachspiel haben werde. Unter diesen Umständen wäre er gehalten gewesen,
sich im Vorfeld der Versammlung Gedanken über seine eigene und die
Stimmberechtigung des Aktuars zu machen. Dies gilt um so mehr, als der
Beklagte als damaliger Präsident vom Ausgang des Beschlusses persönlich
betroffen war, und ihn deshalb eine erhöhte Sorgfaltspflicht traf.

    4.4  Dass dem Beklagten, hätte er rechtskundigen Rat über die
Stimmberechtigung von Nichtmitgliedern eingeholt, die Rechtslage dennoch
verborgen geblieben wäre, macht er zu Recht nicht geltend. Er hat daher
für die sorgfaltswidrige Abklärung der Stimmberechtigung und damit
auch für die Kostenfolgen der deswegen angehobenen Anfechtungsklage
einzustehen. Im Übrigen hat die Vorinstanz - insoweit unangefochten -
angeführt, dass der Beklagte mit Schreiben vom 5. Mai 1998 auf die
Rechtswidrigkeit des Beschlusses hingewiesen worden sei und es damals
noch in der Hand gehabt hätte, die Einleitung eines Verfahrens und das
damit verbundene Prozessrisiko abzuwenden. Auch im Hinblick darauf steht
ausser Zweifel, dass sein pflichtwidriges Verhalten als adäquat kausale
Ursache des eingetretenen Schadens zu betrachten ist.

    4.5  Der Beklagte macht in diesem Zusammenhang weiter geltend, die
Einleitung des Anfechtungsprozesses müsse als widersprüchliches Verhalten
schlechthin und damit als offenbarer Rechtsmissbrauch bezeichnet werden. Er
habe nämlich immer wieder betont, dass er an der Generalversammlung im
Jahr 1999 zurücktreten werde. Über diese Tatsache habe das Handelsgericht
zu Unrecht keine Beweise erhoben und damit auch Art. 8 ZGB verletzt.

    Die Argumentation des Beklagten ist nicht stichhaltig: Rechtsmissbrauch
infolge widersprüchlichen Verhaltens setzt voraus, dass sich die
rechtsuchende Partei zu ihrem eigenen Verhalten in Widerspruch setzt
(BGE 125 III 257 E. 2a). Inwiefern dies hier der Fall sein soll, legt der
Beklagte nicht dar und ist auch nicht ersichtlich. Überdies konnte der
klagende Genossenschafter durchaus ein Interesse daran haben, dass der
Beklagte ab sofort und nicht erst ein Jahr später seines Amtes enthoben
wurde. Ist die Frage, ob der Beklagte schon damals seinen Rücktritt
angekündigt hatte, demnach nicht von Bedeutung, so liegt im Verzicht auf
entsprechende Beweiserhebungen kein Verstoss gegen Bundesrecht.