Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 318



128 III 318

57. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Z. gegen W. und
X. sowie Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)

    5P.28/2002 vom 13. Juni 2002

Regeste

    Ausstellung eines Erbenscheines (Art. 559 Abs. 1 ZGB), nachdem dieser
zuvor infolge Einsprache des gesetzlichen Erben verweigert worden war.

    Der Entscheid der Behörde, dem eingesetzten Erben infolge Einsprache
des gesetzlichen Erben keinen Erbenschein auszustellen, ergeht im
Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit; die Verfügung kann durch eine
spätere aufgehoben werden. Stellt die Behörde nach unbenutztem Ablauf der
Verwirkungsfrist für die Herabsetzungsklage bzw. für die Ungültigkeitsklage
(Art. 533 Abs. 1, Art. 521 Abs. 1 ZGB) dem eingesetzten Erben einen
Erbenschein aus, so verfällt sie nicht in Willkür (E. 2).

Sachverhalt

    A.- V. verstarb am 10. Januar 2000. Sie hinterlässt als gesetzliche
Erben die beiden Töchter W. und X. sowie, an Stelle der vorverstorbenen
Tochter Y., die Enkelin Z. Der Gerichtspräsident von Kulm eröffnete am
19. Januar 2000 den von der Erblasserin mit ihrem Ehemann am 27. Februar
1969 abgeschlossenen Erbvertrag sowie ihr handschriftliches Testament
vom 10. Juli 1998. Mit Letzterem verfügte V., ihr Vermögen den beiden
Töchtern zukommen zu lassen.

    Z. erhob am 20. März 2000 gegen das Testament Einsprache im Sinne von
Art. 559 Abs. 1 ZGB und machte vorsorglich dessen Ungültigkeit sowie eine
Verletzung ihres Pflichtteils geltend. Der

Gerichtspräsident von Kulm nahm mit Verfügung vom 24. März 2000 davon
Vormerk und hielt fest, dass kein Erbenschein ausgestellt und die Erbschaft
noch nicht ausgeliefert werde.

    B.- Auf ihr Ersuchen stellte der Gerichtspräsident von Kulm W. und
X. am 28. Mai 2001 einen Erbenschein aus. Er hielt in seiner Verfügung
fest, dass innert Jahresfrist weder Ungültigkeits- noch Herabsetzungsklage
erhoben worden sei, weshalb die diesbezüglichen Rechte von Z. verwirkt
seien. Das Obergericht des Kantons Aargau wies die von Z. dagegen erhobene
Beschwerde mit Urteil vom 19. November 2001 ab.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt Z. dem Bundesgericht,
das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht vor, sich durch
die Ausstellung des Erbenscheines über den klaren Wortlaut von Art.
559 Abs. 1 ZGB hinweggesetzt, zugleich Art. 521 Abs. 3 und Art. 533 Abs. 3
ZGB verletzt zu haben und damit in Willkür verfallen zu sein.

    Das Obergericht hat erwogen, der Erbenschein bestätige bloss, dass
die aufgeführten Personen ausschliesslich erbberechtigt seien. Dabei
handle es sich freilich stets nur um einen provisorischen Ausweis ohne
materiellrechtliche Bedeutung für die Erbenstellung der darin erwähnten
Personen. Wer in den Erbenschein aufzunehmen sei, ergebe sich für die
eingesetzten Erben aus der sie begünstigenden, für die gesetzlichen Erben
hingegen aus der sie von der Erbfolge ausschliessenden letztwilligen
Verfügung. Die von der Erblasserin übergangene, pflichtteilsgeschützte
Beschwerdeführerin habe demnach keinen Anspruch auf Aufnahme in
den Erbenschein. Zwar habe sie fristgerecht Einsprache gemäss Art.
559 Abs. 1 ZGB erhoben, indes innert Jahresfrist weder Ungültigkeits-
noch Herabsetzungsklage eingereicht. Damit stehe den beiden eingesetzten
(gesetzlichen) Erbinnen das Recht auf einen Erbenschein zu. Sei ihnen die
Erbschaft einstweilen überlassen worden, so ändere sich nichts an dieser
provisorischen Besitzesregelung; sie könnten sich defensiv verhalten. Die
Klägerrolle mit Bezug auf den Besitzanspruch bzw. die Erbschaftsklage
falle der übergangenen Erbin zu. Falls diese im Besitz der Erbschaft sei,
könne sie sich nach Ablauf

der Jahresfrist auf die unverjährbare Einrede der Ungültigkeit oder der
Herabsetzung der letztwilligen Verfügung berufen.

    2.1  Es ist umstritten, ob dem eingesetzten Erben nach Ablauf der
Verwirkungsfrist für die Ungültigkeitsklage (Art. 521 Abs. 1 ZGB)
bzw. für die Herabsetzungsklage (Art. 533 Abs. 1 ZGB) ein Erbenschein
ausgestellt werden kann, nachdem der gesetzliche Erbe zuvor rechtzeitig
die Berechtigung des eingesetzten Erben bestritten hat.

    2.1.1  Nach POUDRET hat der Ablauf der Verwirkungsfrist der Art. 521
Abs. 1 und 533 Abs. 1 ZGB keinen Einfluss auf die Ausstellung des
Erbenscheins. Die mit seiner Ausstellung betraute Behörde hat nicht zu
prüfen, ob die Ungültigkeits- bzw. die Herabsetzungsklage verwirkt ist. Hat
der gesetzliche Erbe die Berechtigung des eingesetzten Erben bestritten, so
rechtfertigt es sich nach diesem Autor, dass der eingesetzte Erbe in einem
Prozess um seine Berechtigung an der Erbschaft die Klägerrolle übernimmt
(POUDRET, La mention des réservataires dans le certificat d'héritier et
ses incidences sur les actions successorales, in: SJZ 55/1959 S. 237
und 239). TUOR/PICENONI (Berner Kommentar, N. 26 zu Art. 559 ZGB)
betonen, dass es bei der Regelung des Art. 556 ZGB bleibe, wenn der
Erbenschein zufolge Bestreitung nicht ausgestellt werde. PICENONI (Die
Verjährung der Testamentsungültigkeits- und Herabsetzungsklage [Art. 521
und 533 ZGB], in: SJZ 63/1967 S. 108 oben) scheint davon auszugehen, dass
die in Art. 559 ZGB vorgesehene Einsprache die letztwillige Verfügung
definitiv zu blockieren vermag, indem er bemerkt, es sei zu überlegen,
ob die gelegentlich "praeter legem" praktizierte Beschränkung der Wirkung
der Einsprache (auf die Frist der Ungültigkeits- und Herabsetzungsklage)
nicht gesetzlich sanktioniert werden sollte.

    2.1.2  Demgegenüber hält PIOTET (Schweizerisches Privatrecht,
Bd. IV/2, S. 741) dafür, die Einsprache dürfe die Ausstellung eines
Erbenscheines nur solange vereiteln, als die Ungültigkeits- und die
Herabsetzungsklage noch nicht verwirkt seien. Habe der gesetzliche
Erbe zwar rechtzeitig Einsprache erhoben, danach jedoch die Frist zur
Ungültigkeits- bzw. Herabsetzungsklage unbenutzt verstreichen lassen,
so werde mit der Ausstellung eines Erbenscheines an den eingesetzten
Erben in Übereinstimmung mit Sinn und Geist des Bundeszivilrechts eine
Gesetzeslücke geschlossen und eine befriedigende Lösung erzielt. Dieser
Meinung haben sich KARRER (Basler Kommentar, N. 55 zu Art. 559 ZGB) und
WETZEL (Interessenkonflikte des Willensvollstreckers, Diss. Zürich 1985,
S. 65 Rz. 184) angeschlossen. Diese Auffassung wird auch in der kantonalen

Rechtsprechung vertreten (Obergericht des Kantons Zürich, in: SJZ 59/1963
S. 272-274; Kantonsgericht Waadt, in: SJZ 82/1986 S. 147).

    2.2  Das angefochtene Urteil, welches der Auffassung der in E. 2.1.2
hiervor genannten Autoren entspricht, verletzt das durch Art. 9 BV
gewährleistete Willkürverbot nicht.

    2.2.1  Die Einsprache aufgrund von Art. 559 Abs. 1 ZGB bewirkt,
dass den Erbberechtigten kein Erbenschein ausgestellt wird (ESCHER,
Zürcher Kommentar, N. 4 zu Art. 559 ZGB; TUOR/PICENONI, aaO, N. 4 und
10 zu Art. 559 ZGB; KARRER, aaO, N. 13 zu Art. 559 ZGB). Diesem im
Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ergangenen Entscheid kommt
indes keine materielle Rechtskraft zu, weshalb er durch eine spätere
Verfügung aufgehoben werden kann (vgl. SOMMER, Die Erbbescheinigung nach
schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1941, S. 98 unten). Die Einsprache
löst kein Verfahren aus, in welchem die materielle Berechtigung des
Erben an der Erbschaft geprüft wird, und hat auch keinen Einfluss auf die
Rollenverteilung in einem anschliessenden Zivilprozess. Wie der Randtitel
besagt, regelt Art. 559 Abs. 1 ZGB die Auslieferung der Erbschaft. Der
gesetzliche Erbe oder der aus einer früheren Verfügung Bedachte verhindert
mit seiner Opposition gegen die Ausstellung des Erbenscheines zwar die
Auslieferung der Erbschaft. Art. 559 Abs. 1 ZGB spricht sich aber nicht
weiter über die Tragweite der Einsprache aus, weder, dass sie innert
nützlicher Frist vom Einsprecher mit erbrechtlichen Klagen zu prosequieren
sei, noch, dass sie zeitlich unbeschränkt wirke mit der Folge, dass es am
eingesetzten Erben bzw. Bedachten läge, seinerseits zu klagen (Umkehrung
der Parteirollen). Bei der Auslegung von Art. 559 Abs. 1 ZGB gilt es
sodann, andere, fundamentale Grundsätze des Erbrechts mitzubedenken. Gemäss
Art. 519 Abs. 2 ZGB kann die Ungültigkeitsklage "von jedermann erhoben
werden (...), der als Erbe oder Bedachter ein Interesse daran hat, dass
die Verfügung für ungültig erklärt werde"; nach Art. 522 Abs. 1 ZGB liegt
es an den "Erben, die nicht dem Wert nach ihren Pflichtteil erhalten,
die Herabsetzung der Verfügung auf das erlaubte Mass zu verlangen". Das
ZGB weist jenem Erben bzw. Bedachten, der die Gültigkeit des Testamentes
bestreitet oder der sich durch das Testament in seinen erbrechtlichen
Ansprüchen verletzt fühlt, ausdrücklich die Klägerrolle zu. Mit der
Möglichkeit, Einsprache gegen die Ausstellung eines Erbenscheins zu
erheben, wird zwar dem übergangenen bzw. zu kurz gekommenen Erben ein
weiterer Rechtsbehelf in die Hand gegeben. Doch bezwecken die beiden
Rechtsbehelfe - die erbrechtlichen Klagen und die Einsprache -

Unterschiedliches. Während die erbrechtlichen Klagen auf die
Ungültigerklärung bzw. Herabsetzung des Testamentes zielen, verhindert die
Einsprache die Auslieferung der Erbschaft. Ist diese einmal ausgeliefert,
besteht die Gefahr, dass die zu kurz Gekommenen trotz Durchdringens ihrer
erbrechtlichen Klagen zu Schaden kommen. Vermöchte nun die Einsprache das
Testament definitiv zu blockieren, liefe das darauf hinaus, die gesetzlich
festgeschriebenen Klägerrollen (Art. 519 und 522 ZGB) zu vertauschen. Ein
solcher Schluss lässt sich weder aus dem Umstand ziehen, dass die Wirkung
der Einsprache in Art. 559 Abs. 1 ZGB nicht ausdrücklich zeitlich
begrenzt ist, noch bestehen hiefür sachlich überzeugende Gründe. Ist
der sich verletzt fühlende Erbe trotz erhobener Einsprache gehalten,
innert den Verwirkungsfristen erbrechtliche Klagen zu erheben, wird
dadurch die Einsprache keineswegs ihres Sinnes entleert, was allenfalls
ein Indiz für eine andere Auslegung der Bestimmung bedeuten könnte. Es
wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich der gesetzliche Erbe mit der
Einsprache vor dem Schaden einer vorzeitigen Auslieferung der Erbschaft
schützen kann. Sodann gewinnt er Zeit, sei es für Verhandlungen mit den
eingesetzten Erben, sei es zur sorgfältigen Vorbereitung eines Prozesses
gegen diese. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Einsprecher
darüber hinaus auch noch von seiner fundamentalen Obliegenheit,
Ungültigkeits- oder Herabsetzungsklage zu erheben, entbunden werden
sollte. Der Einsprecherin oblag mithin, zur Durchsetzung ihrer Ansprüche
innert der gesetzlichen Frist den Klageweg zu beschreiten. Sie durfte sich
nicht mit der blossen Einsprache begnügen (DRUEY, Grundriss des Erbrechts,
5. Aufl. 2002, S. 215 Rz. 16). Hierin unterscheidet sich ihre Position
nicht von demjenigen, der ohne zuvor Einsprache zu erheben, sich gegen eine
letztwillige Verfügung durch Ungültigkeits- oder Herabsetzungsklage zur
Wehr setzen will. Nach unbenutztem Ablauf der Jahresfrist (Art. 521 Abs. 1
bzw. Art. 533 Abs. 1 ZGB) durften die eingesetzten Erbinnen die Ausstellung
des Erbenscheines verlangen, und der Beschwerdeführerin bleibt die nicht
verjährbare Einrede der Ungültigkeit und der Herabsetzung (KARRER, aaO,
N. 55 zu Art. 559 ZGB).

    Gegen diese Auffassung kann auch nicht eingewendet werden, allein
der ordentliche Richter, welcher über die Ungültigkeits- bzw. die
Herabsetzungsklage zu befinden habe, dürfe prüfen, ob die Klagefristen
von Art. 521 Abs. 1 und Art. 533 Abs. 1 ZGB abgelaufen seien; der mit
der Ausstellung des Erbenscheines betrauten Behörde sei selbst eine
vorfrageweise Prüfung der materiellrechtlichen

Frage untersagt. Es wurde bereits dargelegt, dass die Einsprache kein
Verfahren auslöst, in welchem über das materielle Recht entschieden
wird. Der Entscheid der Behörde bindet das ordentliche Gericht
nicht. Überdies ist nicht zu sehen, warum es zwischen dem Entscheid über
die Ausstellung eines Erbenscheines und dem materiellen Recht zu einer
Konfliktlage kommen sollte. Dass die Behörde in der Lage ist, zu prüfen, ob
die Klagefristen eingehalten worden sind, ist nicht von der Hand zu weisen.
Entweder legt der Gesuchsteller eine Bestätigung des zuständigen Gerichts
vor, wonach innert der gesetzlichen Frist keine erbrechtliche Klage
eingegangen ist, oder aber die Behörde stellt das Gesuch dem Einsprecher
zur Stellungnahme zu; belegt dieser, dass er eine erbrechtliche Klage
erhoben hat, so wird die Behörde mit der Ausstellung des Erbenscheines
zuwarten, bis das Gericht über das Schicksal der Klage entschieden hat. Im
vorliegenden Fall ergeben sich mit Bezug auf diese Frage keine Probleme,
zumal der unbenutzte Ablauf der Frist nicht bestritten ist.

    2.2.2  Aus der Rechtsnatur des Erbenscheines als provisorischer
Legitimation zur Verfügung über die Erbschaftsgegenstände ergibt sich,
dass seiner Ausstellung keine Auseinandersetzung über die materielle
Rechtslage vorangeht (BGE 118 II 108 E. 2b; TUOR/PICENONI, aaO, N. 20 und
23 zu Art. 559 ZGB; KARRER, aaO, N. 2, 3, 32 und 45 zu Art. 559 ZGB; DRUEY,
aaO, S. 216 Rz. 18). Infolgedessen hat sich das Obergericht mit Grund nicht
zur Tragweite des Schreibens vom 12. Oktober 2001 festgelegt, mit dem die
beiden gesetzlichen Erbinnen sich zum Pflichtteil der Beschwerdeführerin
geäussert haben (ESCHER, aaO, N. 1 zu Art. 559 ZGB). In diesem Sinne
kann der Beschwerdeführerin auch nicht gefolgt werden, wenn sie durch
die Ausstellung des Erbenscheines klares materielles Erbrecht verletzt
sieht. Die Formstrenge bei der Errichtung einer letztwilligen Verfügung
und dem Abschluss eines Erbvertrages sowie die inhaltlichen Schranken
einer erbrechtlichen Anordnung durch das Pflichtteilsrecht werden dadurch
nicht in Frage gestellt.

    2.2.3  Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin erweist sich
die obergerichtliche Auslegung der fraglichen Gesetzesbestimmungen somit
nicht als willkürlich.