Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 314



128 III 314

56. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. B. gegen
K. (Berufung)

    5C.61/2002 vom 14. Juni 2002

Regeste

    Art. 527 Ziff. 4 ZGB; Herabsetzung, ehevertragliche
Vorschlagszuweisung.

    Der ehevertragliche Verzicht auf Beteiligung am Vorschlag ist eine
Entäusserung von Vermögenswerten (E. 3).

    Umgehungsabsicht kann vorliegen, wenn der Erblasser in einem Zeitpunkt
verfügt, in dem er bereits pflichtteilsberechtigte Nachkommen hat und
deren Benachteiligung für möglich halten muss (E. 4).

Sachverhalt

    Die Ehegatten E. schlossen im Jahre 1974 einen Ehevertrag und sahen
darin unter anderem vor, dass dem Ehemann kein Vorschlag zukommen
soll, falls seine Ehefrau vor ihm verstirbt. Sie unterstellten ihre
Rechtsverhältnisse durch gemeinsame Erklärung dem neuen ordentlichen
Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung. Letztwillig setzte die Ehefrau
den gemeinsamen Sohn B. als Alleinerben ein und verstarb. Fünf Jahre
später starb auch der Ehemann. Er hinterliess als gesetzliche Erben seinen
Sohn B. sowie die Tochter K. aus einer ersten geschiedenen Ehe. Gemäss
letztwilligen Verfügungen

sollte die Tochter 3/8 und der Sohn 5/8 des Nachlasses erhalten.
Im Rahmen des von ihr eingeleiteten Erbteilungsprozesses focht K.
die ehevertragliche Vorschlagszuweisung an und verlangte deren
Herabsetzung. Auf ihre Berufung hin stellte das kantonale Obergericht
fest, dass sich K. in der Auseinandersetzung um den Nachlass des Vaters
der Parteien hinsichtlich des Ehevertrags auf Art. 527 Ziff. 4 ZGB
berufen könne.

    Das Bundesgericht weist die von B. erhobene Berufung ab, soweit darauf
eingetreten werden kann.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  Der Beklagte bestreitet die Anwendbarkeit von Art. 527 ZGB
mit der Begründung, im Zeitpunkt des Versterbens der zweiten Ehefrau
des Pflichtteilsbelasteten könne Art. 527 ZGB mangels Todesfalls des
Pflichtteilsbelasteten nicht zur Anwendung kommen und im Zeitpunkt des
Versterbens des Pflichtteilsbelasteten sei die Vermögensverschiebung
auf den Beklagten auf Grund der testamentarischen Zuweisungen der
zweiten Ehefrau erfolgt und nicht gestützt auf den im vorherigen Prozess
angefochtenen Ehevertrag aus dem Jahre 1974. Dementsprechend könne die
Klägerin gegenüber dem Beklagten Art. 527 Ziff. 4 ZGB nicht zur Anwendung
bringen. Letzterer habe die Zuwendung nicht aus dem von der Klägerin
angefochtenen Ehevertrag erhalten, sondern aus dem Vermögen seiner Mutter,
d.h. der zweiten Ehefrau des Pflichtteilsbelasteten. Ferner liege keine
"Entäusserung von Vermögenswerten" im Sinne von Art. 527 Ziff. 4 ZGB vor.

    Die beiden Fragen, welches Rechtsgeschäft den Pflichtteilsanspruch
der Klägerin verletzt haben könnte und wer passivlegitimiert ist
im Herabsetzungsprozess, sind voneinander zu unterscheiden. Die
Klägerin steht mit der zweiten Ehefrau ihres Vaters in keiner
pflichtteilsrelevanten Beziehung (vgl. Art. 470 f. ZGB). Ihr Testament
kann den Pflichtteilsanspruch der Klägerin deshalb nicht beeinträchtigen;
hierfür in Frage kommt allein die Vorschlagszuweisung gemäss Ehevertrag
zwischen dem Erblasser und seiner zweiten Ehefrau. Dass der Vorschlag
ganz dem einen Ehegatten oder seinen Erben zugewiesen werden darf, war
bereits im Güterverbindungsrecht, unter dessen Herrschaft der vorliegende
Ehevertrag abgeschlossen worden war, von Rechtsprechung und überwiegender
Lehre anerkannt (vgl. die Nachweise bei LEMP, Berner Kommentar, N. 76 zu
aArt. 214 ZGB). Da die ehevertragliche Bedingung

für diese Vorschlagszuweisung auf den Tod der Ehefrau lautet,
hat der Vater der Parteien der Sache nach zu Gunsten der Erben
seiner zweiten Ehefrau auf den Vorschlagsanteil verzichtet und damit
möglicherweise den Pflichtteilsanspruch der nur ihn beerbenden Klägerin
beeinträchtigt. Grundlage ihres Herabsetzungsanspruchs kann insoweit
ausschliesslich die ehevertragliche Vorschlagszuweisung und nicht das
Testament der zweiten Ehefrau des Erblassers bilden. Dieses Testament hat
indessen Bedeutung für die Passivlegitimation im Herabsetzungsprozess. Denn
im Ehevertrag werden die begünstigten Erben der zweiten Ehefrau nicht
näher bezeichnet und damit - implizit - deren letztwillige Verfügungen
vorbehalten. Erst ihre testamentarische Erbeinsetzung verschafft dem
Beklagten den ganzen ehelichen Vorschlag und macht ihn zum Empfänger
einer Zuwendung, die im Herabsetzungsprozess seine Passivlegitimation
begründet (vgl. etwa FORNI/PIATTI, Basler Kommentar, N. 7 der Vorbem. zu
Art. 522-533 ZGB).

    Die allfällige Pflichtteilsverletzung ist durch Herabsetzungsklage zu
beseitigen. Der hier strittige Herabsetzungsgrund gemäss Art. 527 Ziff. 4
ZGB setzt "die Entäusserung von Vermögenswerten" in der Absicht voraus,
den Pflichtteil zu umgehen. Es muss sich um eine Verfügung unter
Lebenden handeln (Randtitel zu Art. 527 ZGB), d.h. die Entäusserung
muss zu Lebzeiten des nachmaligen Erblassers erfolgen. Es spielt
deshalb keine Rolle, ob im Zeitpunkt des Abschlusses des Ehevertrags
die Vermögensentäusserung stattgefunden hat oder später, so lange sie
vor dem Tod des Erblassers erfolgt ist. Diese Voraussetzung ist hier
erfüllt: Der Vater der Parteien hat seine zweite Ehefrau überlebt; bei
deren Tod (scil. der Auflösung des Güterstandes, Art. 204 Abs. 1 ZGB)
hätte er seinen - zuvor schon als Anwartschaft bestehenden - Anspruch auf
den Vorschlagsanteil geltend machen können (BGE 102 II 313 E. 4a Abs. 2
S. 322 f.; vgl. etwa die Berner Kommentatoren: LEMP, N. 6 und N. 10 zu
aArt. 214 ZGB, und HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 39 zu Art. 216 ZGB, a.E.),
so dass im gleichen Zeitpunkt sein ehevertraglich erklärter Verzicht auf
den Vorschlag wirksam geworden ist. Dass der Verzicht des nachmaligen
Erblassers auf einen ihm zustehenden und durchsetzbaren Anspruch eine
"Entäusserung von Vermögenswerten" im Gesetzessinne darstellt, kann
nicht ernsthaft bestritten werden (statt vieler: PIOTET, Erbrecht,
Schweizerisches Privatrecht, Bd. IV/1, Basel 1978, § 63/I/C S. 444,
mit den Beispielen: auf eine Dienstbarkeit verzichten, eine Forderung
verjähren lassen usw.).

Erwägung 4

    4.  Eine Herabsetzung nach Art. 527 Ziff. 4 ZGB setzt die Entäusserung
von Vermögenswerten voraus, "die der Erblasser offenbar zum Zwecke der
Umgehung der Verfügungsbeschränkung vorgenommen hat." Erforderlich ist
beim Erblasser das Bewusstsein, dass seine Zuwendung nach dem gewöhnlichen
Lauf der Dinge die verfügbare Quote überschreitet; dabei genügt es, dass
der Erblasser eine Pflichtteilsverletzung in Kauf nimmt. Massgebend für
die Beurteilung dieser Umgehungsabsicht ist der Zeitpunkt der Verfügung
unter Berücksichtigung des damaligen Vermögensstandes und des Wertes
der Zuwendung; zumindest eine Eventualabsicht kann sich insoweit aus
jenen Vermögensverhältnissen ergeben, wenn der Erblasser - wie hier -
in einem Zeitpunkt verfügt, in dem er bereits pflichtteilsberechtigte
Nachkommen hat und deren Benachteiligung für möglich halten muss
(z.B. BGE 45 II 371 E. 4 S. 379; 50 II 450 E. 3 S. 454 ff.; 110 II
228, nicht veröffentlichte E. 5; vgl. etwa PIOTET, aaO, § 63/I/B S.
443 f.; FORNI/PIATTI, aaO, N. 11 zu Art. 527 ZGB). Diese Auslegung
stellt der Beklagte nicht grundsätzlich in Frage. Er macht vielmehr
geltend, die Klägerin habe ihren auf Art. 527 Ziff. 4 ZGB gestützten
Herabsetzungsanspruch mit Bezug auf die Umgehungsabsicht des Erblassers
nicht ausreichend substantiiert. Soweit die Rüge überhaupt zulässig ist,
ist sie unbegründet. Wie der Beklagte selber einräumt, hat die Klägerin
im Behauptungsstadium mehrfach auf eine Umgehungsabsicht des Erblassers
hingewiesen. Entgegen seiner Darstellung hat es sich dabei nicht um
Rundumschläge oder Pauschalbehauptungen gehandelt. Die Klägerin ist
vielmehr in ihrem Sachvortrag unter anderem - nach dem soeben Gesagten
zutreffend - davon ausgegangen, die Vermögensverhältnisse des Erblassers
könnten bestätigen, dass Benachteiligungsabsichten im Sinne von Art. 527
Ziff. 4 ZGB vorgelegen hätten. Sie hat damit ausreichend konkretisierte
Tatsachenbehauptungen aufgestellt und diese überdies mit Beweisanträgen
unterstützt. Der Beklagte übergeht zudem stillschweigend, dass nicht
nur die Klägerin, sondern auch er selber die Einholung von Gutachten
betreffend die Vermögensmassen des Erblassers und dessen zweiter Ehefrau
verlangt hat. Inwiefern die Klägerin ihrer Substantiierungslast nicht
nachgekommen sein könnte, ist in Anbetracht dieser Verfahrenslage nicht
nachvollziehbar. Der Berufung muss auch in diesem Punkt gesamthaft der
Erfolg versagt bleiben.