Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 265



128 III 265

50. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. A. und B. gegen
C. AG und Kantonsgericht (I. Zivilkammer) St. Gallen (Berufung)

    5C.228/2001 vom 17. Mai 2002

Regeste

    Art. 730 und 734 ZGB; Grunddienstbarkeit, Vertragsbestimmungen
obligatorischer Natur, Untergang durch Verzicht.

    Vertragliche Bestimmungen über Inhalt und Umfang der Dienstbarkeit
haben in der Regel dingliche und ausnahmsweise nur obligatorische
Wirkung. Die Rechtsnatur der einzelnen Vertragsbestimmung ist nach den
für die Auslegung von Dienstbarkeitsverträgen massgebenden Grundsätzen
zu bestimmen (E. 3).

    Auf ein Wegrecht kann implizit verzichtet worden sein, wenn dessen
Ausübung mit späteren, durch Dienstbarkeitsvertrag eingeräumten Rechten
unvereinbar ist (E. 4a).

Sachverhalt

    Die Kläger A. und B. sowie die Beklagte C. AG sind Eigentümer
benachbarter Grundstücke. Um zur Hauptstrasse im Süden zu gelangen,
müssen die Kläger (Parzelle Nr. 2466) das Grundstück der Beklagten
(Parzelle Nr. 360) überqueren.

    Die Rechtsvorgänger der Parteien, W.D. bzw. nachmals die W.D. AG als
Alleineigentümer der Parzelle Nr. 360 einerseits sowie W.D. und E. als
Miteigentümer der Parzelle Nr. 2466 andererseits,

vereinbarten mehrere Fuss- und Fahrwegrechte, die sie als
Grunddienstbarkeiten im Grundbuch eintragen liessen. Die mit Vertrag von
1966 begründeten Dienstbarkeiten wurden im Jahre 1972 durch zwei weitere
Verträge ausgedehnt und neu umschrieben. Die Fuss- und Fahrwege führten
ab der Hauptstrasse entlang der Ostgrenze der Parzelle Nr. 360, über die
gemeinsame Grenze beider Parzellen und entlang der Westgrenze der Parzelle
Nr. 360 wieder auf die Hauptstrasse zurück. Um das Wohn- und Geschäftshaus
auf der Parzelle Nr. 360 herum wurde damit ein Kreisverkehr geschaffen.

    In einem dritten Vertrag vom 12. September 1972 räumten sich die
jeweiligen Eigentümer der Parzelle Nr. 2466 (W.D. und E.) und der
Parzelle Nr. 360 (W.D. AG) gegenseitig ein gemeinsames Nutzungsrecht
an fünf Autoabstellplätzen ein, gelegen auf der gemeinsamen Grenze der
beiden Grundstücke (Art. 1 und 2). Im Vertrag wurde bestimmt, dass der
Kreisverkehr um die Parzelle Nr. 360 während der Geschäftsöffnungszeit
nicht unnötig erschwert werden sollte (Art. 3). Der jeweilige Eigentümer
der Parzelle Nr. 2466 hatte "daher in erster Linie die auf dem eigenen
Platze befindlichen Autoabstellplätze zu belegen ..." (Art. 4 Abs. 1);
ferner war vorgesehen, dass die fünf Autoabstellplätze "indessen von
beiden Parteien während der Geschäftsöffnungszeiten der Firma D. AG nicht
benützt werden" dürfen (Art. 4 Abs. 2). Die Dienstbarkeit sollte als
"Parkplatz-Mitbenützungsrecht" im Grundbuch eingetragen werden (Art. 8
des Dienstbarkeitsvertrags).

    Zwischen den Rechtsnachfolgern der vertragsschliessenden
Grundeigentümer kam es zu Streitigkeiten über die Ausübung der
Dienstbarkeiten. Die Kläger verlangten vor Gericht unter anderem die
Verkleinerung der Autoabstellfläche, weil der Kreisverkehr durch die
dauernde Benützung der Parkplätze und durch das Verhalten der Beklagten
erschwert werde. Die kantonalen Gerichte wiesen das Begehren ab.

    Das Bundesgericht weist die Berufung der Kläger ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Dienstbarkeitsvertrag von 1972 sieht in Art. 4 Abs. 2 vor,
dass die fünf Autoabstellplätze "indessen von beiden Parteien während
der Geschäftsöffnungszeiten der Firma D. AG nicht benützt werden"
dürfen. Die Kläger berufen sich auf diese Bestimmung und machen geltend,
da die Parkplätze gemäss dieser Bestimmung tagsüber ohnehin nicht benützt
werden dürften, sei die Verkleinerung

der Parkflächen unter gleichzeitiger Aufhebung des zeitlichen
Parkierverbots zulässig. Das Kantonsgericht hat diese Ansicht abgelehnt
mit der Begründung, die vertragliche Beschränkung der Parkplatzbenützung
sei nicht dinglicher Natur.

    a) Das im Grundbuch einzutragende Stichwort lautet gemäss
Dienstbarkeitsvertrag von 1972 "Parkplatz-Mitbenützungsrecht". Es
lässt sich daraus keine Einschränkung der Dienstbarkeitsberechtigung
ableiten. Deren Inhalt muss deshalb im Rahmen des Grundbucheintrags anhand
des Erwerbsgrundes bestimmt werden (Art. 738 ZGB; zuletzt: BGE 128 III
169 E. 3a S. 172).

    Da der übereinstimmende wirkliche Wille der Vertragsparteien nicht
ermittelt werden konnte, ist der Dienstbarkeitsvertrag normativ, d.h. nach
dem Vertrauensprinzip auszulegen (BGE 108 II 542 E. 2 S. 545). Dabei
hat der klare Wortlaut Vorrang vor weiteren Auslegungsmitteln, es sei
denn, er erweise sich auf Grund anderer Vertragsbedingungen, dem von den
Parteien verfolgten Zweck oder weiteren Umständen als nur scheinbar klar
(BGE 127 III 444 E. 1b S. 445). Den wahren Sinn einer Vertragsklausel
erschliesst zudem erst der Gesamtzusammenhang, in dem sie steht (BGE 101
II 323 E. 1 S. 325; 117 II 609 E. 6c/bb S. 622). Soweit sie für Dritte
erkennbar sind (BGE 108 II 542 E. 2 S. 546), dürfen die Begleitumstände des
Vertragsabschlusses (BGE 106 II 226 E. 2c S. 230; 126 III 375 E. 2e/aa
S. 379/380) oder die Interessenlage der Parteien in jenem Zeitpunkt
(BGE 122 III 426 E. 5b S. 429) ergänzend berücksichtigt werden.

    Die Auslegung muss hier die Frage beantworten, ob eine Bestimmung
des Dienstbarkeitsvertrags dinglicher oder obligatorischer Natur
ist. Vertragliche Bestimmungen über Inhalt und Umfang der Dienstbarkeit
betreffen in der Regel den jeweiligen Eigentümer und den jeweiligen
Dienstbarkeitsberechtigten. Eine Bestimmung des Dienstbarkeitsvertrags mit
bloss obligatorischer Wirkung ist insoweit die Ausnahme. Das Abweichen von
der Regel muss deshalb klar zum Ausdruck kommen (LIVER, Zürcher Kommentar,
N. 78 zu Art. 730 ZGB). Führt die Auslegung nach den gezeigten Kriterien
zum sicheren Ergebnis, dass eine Vereinbarung mit obligatorischer Wirkung
vorliegt, bleibt darüber hinaus für einen Grundsatz restriktiver Auslegung
von Ausnahmen kein Raum (vgl. BGE 120 II 112 E. 3b/aa S. 114).

    b) Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 ist insofern klar, als
die Beschränkung des Parkplatzmitbenützungsrechts sich auf die
"Geschäftsöffnungszeiten der Firma D. AG" bezieht. Einzig zu

deren Gunsten wird auf die Ausübung der Dienstbarkeit zu bestimmten
Zeiten verzichtet. Denn Art. 4 Abs. 2 unterscheidet zwischen der "Firma
D. AG" und den "beiden Parteien", d.h. - gemäss Ingress - den jeweiligen
Eigentümern der Parzellen Nrn. 2466 und 360. Es geht gemäss Art. 4 Abs. 2
somit nicht um Verpflichtungen der jeweiligen Eigentümer gegenüber den
jeweiligen Dienstbarkeitsberechtigten oder umgekehrt; andernfalls wäre
es nahegelegen, den Unterlassungsanspruch auch zu Gunsten des jeweiligen
Eigentümers der Parzelle Nr. 360 während der üblichen Geschäfts- oder
Bürozeiten einzuräumen.

    Der Vertragskontext bestätigt den Ausnahmecharakter von Art. 4
Abs. 2. Die übrigen Bestimmungen handeln von den "Parteien", d.h.
den jeweiligen Eigentümern (Art. 1: "Den Parteien ist es gestattet,
... zu benützen"), oder vom "Eigentümer der Parz. Nr. 360" (Art. 6 und
7). Insoweit muss nach Treu und Glauben davon ausgegangen werden, dass
sich die Eigentümer und Dienstbarkeitsberechtigten nur gegenüber der
"Firma D. AG" persönlich verpflichten wollten, wo sie diese statt den
Parteien oder Eigentümern namentlich genannt haben. Richtig ist, dass in
Art. 3 lediglich die "Geschäftsöffnungszeit" erwähnt wird, während derer
"der Kreisverkehr um die Parz. Nr. 360 nicht unnötig erschwert werden"
soll. Die Regelung ist aber mit den in Art. 4 niedergelegten Pflichten
derart verknüpft ("daher"), dass auch mit den Geschäftsöffnungszeiten
gemäss Art. 3 diejenigen der "Firma D. AG" gemeint sind. Berechtigt
auf Grund des Vertrauensprinzips ist deshalb der kantonsgerichtliche
Schluss, dass nur im Interesse der Firma D. AG der Kreisverkehr durch
die vertraglich vorgesehenen Massnahmen gewährleistet werden sollte.

    Soweit es in Anbetracht des klaren Vertragstextes überhaupt der
ergänzenden Auslegungsmittel bedarf, bestätigen sie die Auslegung
von Art. 4 Abs. 2 als Bestimmung obligatorischer und nicht dinglicher
Natur. Bei den drei Dienstbarkeitsverträgen von 1972 traten W.D. als
Miteigentümer der Parzelle Nr. 2466 und die seinen Namen tragende Firma
als seine Rechtsnachfolgerin und Alleineigentümerin der Parzelle Nr. 360
auf. Das gesamte Geflecht von Dienstbarkeiten hat offenkundig den eigenen
Interessen, der Abwicklung des Geschäftsbetriebs der Firma nämlich,
gedient. Das Kantonsgericht hat denn auch verbindlich festgestellt,
dass im Bereich der Parkplätze eine Verladerampe eingerichtet war,
wo der Güterumschlag des Betriebes erfolgte und deshalb während der
Geschäftsöffnungszeiten die Parkplatzbenutzung ausgeschlossen werden
musste; da die Anlieferung zudem von Lastwagen besorgt wurde,

ist es auch der Betrieb gewesen, der während der Geschäftsöffnungszeiten
auf den Kreisverkehr angewiesen war.

    c) Aus den dargelegten Gründen ist das kantonsgerichtliche
Auslegungsergebnis nicht zu beanstanden. Entgegen der klägerischen
Darstellung ist das Kantonsgericht von den zutreffenden
Auslegungsgrundsätzen ausgegangen. Die Abweichung von der Regel kommt
hinreichend deutlich zum Ausdruck. Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2
wird nicht dadurch unklar, dass verkürzend von einer "Firma D. AG"
statt von der "Firma W.D. AG" die Rede ist; soweit an der Identität
Zweifel bestünden, wie die Kläger das anscheinend behaupten, werden
diese durch den Gesamtzusammenhang und die Stellung im Vertragstext,
in dem Art. 4 Abs. 2 steht, wie auch durch die Begleitumstände und die
Interessenlage der Parteien beim Vertragsschluss ausgeräumt. Handelt
es sich um eine Verpflichtung obligatorischer Natur und hat die
berechtigte "Firma D. AG" ihre Geschäftstätigkeit eingestellt, ist
die zeitliche Parkplatzbenützungsbeschränkung dahingefallen, und es
erübrigt sich, auf die klägerischen Ausführungen näher einzugehen, wie
sie aufgehoben werden könnte, wenn sie dinglicher Natur gewesen wäre. Das
"Parkplatz-Mitbenützungsrecht" ist auf Grund des Begründungsaktes heute
zeitlich unbeschränkt.

Erwägung 4

    4.- Die Dienstbarkeitsfläche des Parkplatzmitbenützungsrechts
belastet die Parzellen Nrn. 360 und 2466 an der gemeinsamen Nord-
bzw. Südgrenze. Die Ausübung der Dienstbarkeit auf der gesamten, dafür
vorgesehenen Fläche beeinträchtigt nach Angaben der Kläger den Kreisverkehr
und damit ihre Nutzungsbefugnisse als Eigentümer der Parzelle Nr. 2466
und als Fuss- und Fahrwegberechtigte auf der Parzelle Nr. 360. Gestützt
auf diese dinglichen Rechte verlangen die Kläger eine Verkleinerung der
Parkfläche in näher umschriebenem Umfang. ...

    a) Die Kläger wenden ein, ihr Fuss- und Fahrwegrecht von 1966 gehe
dem Parkplatzmitbenützungsrecht von 1972 vor. Die Kläger berufen sich auf
den Grundsatz der Alterspriorität (Art. 972 ZGB). Nach den Feststellungen
des Kantonsgerichts wurde keine der vier, mit Verträgen von 1966 und 1972
errichteten Grunddienstbarkeiten im Grundbuch gelöscht.

    Der Untergang einer Dienstbarkeit ist, abgesehen von den gesetzlichen
Gründen, auch durch - ausdrücklichen oder stillschweigenden - Verzicht
möglich. Darunter fällt etwa die "Gestattung der Verbauung eines
Wegrechts", was a fortiori auch gelten muss, wenn das Gestatten in Gestalt
eines förmlichen Dienstbarkeitsvertrags

erfolgt (BGE 127 III 440 E. 2a S. 442 mit Nachweisen). Ein solcher
teilweiser Verzicht ist vorliegend zu bejahen. Im Jahre 1966 vereinbarten
die Eigentümer der Parzellen Nrn. 2466 und 360 gegenseitig Fuss- und
Fahrwegrechte. Indem sie diese Fuss- und Fahrwegrechte mit Verträgen
von 1972 teils neu regelten und teils ausdrücklich bestätigten und
indem sie die damals für das Fuss- und Fahrwegrecht ausgeschiedene
Dienstbarkeitsfläche neu mit dem Parkplatzmitbenützungsrecht belasteten,
haben sie implizit auf ihre Fuss- und Fahrwegrechte von 1966 verzichtet,
soweit deren Ausübung mit der Dienstbarkeit von 1972 unvereinbar
war. Die von den Klägern vertretene, abweichende Auslegung des gesamten
Vertragsgeflechts verstiesse gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

    Trotzdem wurden die 1966 errichteten Dienstbarkeiten im Grundbuch zu
Recht nicht gelöscht. Sie bleiben bestehen, soweit sie durch die Verträge
von 1972 nicht rechtlich beseitigt worden sind, und zwar nördlich des
bestehenden Gebäudes auf Parzelle Nr. 360 im Bereich der gelben Fläche
gemäss Plan, soweit diese nicht durch die Parkplätze überlagert ist. Es
betrifft dies vorab den Wendeplatz auf der Parzelle Nr. 360, dessen
Benutzung durch die Kläger auch heute noch nur auf Grund des Vertrags von
1966 gewährleistet ist. Mehr oder anderes können die Kläger selbst gestützt
auf ihren guten Glauben in den Grundbucheintrag nicht ableiten: Aus dem
Vergleich der Dienstbarkeitseinträge von 1966 und 1972 in Verbindung
mit den - Bestandteile des Grundbuchs bildenden (Art. 942 Abs. 2 ZGB)
- Dienstbarkeitsverträgen musste sich für die Kläger ohne weiteres die
rechtliche Beseitigung des Fuss- und Fahrwegrechts von 1966 im gezeigten
Umfang ergeben (BGE 127 III 440 E. 2c S. 443).