Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 142



128 III 142

25. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. gegen B. AG
(Berufung)

    4C.324/2001 vom 7. Februar 2002

Regeste

    Aktienrecht. Stimmrechtsausschluss nach Art. 695 Abs. 1 OR.

    Ein mit der Geschäftsführung einer Aktiengesellschaft betrauter
Aktionär ist von der Beschlussfassung der Generalversammlung über die
Entlastung des Verwaltungsrats auch ausgeschlossen, soweit er die Stimmen
eines nicht an der Geschäftsführung beteiligten Aktionärs vertritt (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die B. AG (Beklagte) bezweckt den Vertrieb von Kies, Sand, Splitt
usw. Ihr Aktienkapital beträgt Fr. 300'000.- und ist in Namenaktien
zu je Fr. 1'000.- eingeteilt. Jede Aktie berechtigt zu einer Stimme an
der Generalversammlung.

    A. (Kläger) besitzt 72 Aktien und hält zusammen mit seinen Söhnen
C. und D. (je 39 Aktien) die Hälfte des Aktienkapitals; sein Bruder
E. besitzt 130 Aktien und hält zusammen mit seiner Ehefrau F. und seiner
Tochter G. (je 10 Aktien) ebenfalls die Hälfte des Aktienkapitals der
Beklagten.

    E. ist Delegierter des Verwaltungsrats, C. Mitglied des Verwaltungsrats
und D. Direktor der Beklagten.

    B.- Am 27. August 2000 stellte der Kläger beim Handelsgericht des
Kantons Aargau folgende Begehren:
      "I. Es sei der Beschluss der Generalversammlung der Beklagten vom 30.

    Juni 2000 über die Entlastung des Verwaltungsrats aufzuheben.
      II. . ...."

    Das Handelsgericht wies die Klage mit Urteil vom 29.  August 2001 ab,
soweit darauf einzutreten war. Es kam zum Schluss, die Stimmen des Klägers
seien für den Décharge-Beschluss zu Recht unberücksichtigt geblieben:
Der Vertreter des Klägers habe als Direktor der Beklagten selbst an
der Geschäftsführung teilgenommen und sei daher gemäss Art. 695 OR vom
Stimmrecht ausgeschlossen; überdies sei der Kläger "materielles oder
faktisches" Organ der Beklagten.

    C.- Mit Berufung vom 14. Oktober 2001 stellt der Kläger die
Rechtsbegehren, es sei das Urteil des Handelsgerichts des Kantons
Aargau vom 29. August 2001 aufzuheben und es sei der Beschluss der
Generalversammlung der Beklagten vom 30. Juni 2000 über die Entlastung
des Verwaltungsrates aufzuheben.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 695 Abs. 1 OR haben Personen, die in irgendeiner Weise
an der Geschäftsführung teilgenommen haben, bei Beschlüssen

über die Entlastung des Verwaltungsrates kein Stimmrecht. Die Vorinstanz
schützte den Ausschluss der klägerischen Stimmen von der Beschlussfassung
über die Décharge-Erteilung des Verwaltungsrates u.a., weil er seinen als
Direktor der Beklagten tätigen Sohn mit der Vertretung betraut hatte. Der
Kläger rügt, damit habe die Vorinstanz Art. 695 OR verletzt. Er hält
dafür, der erfolgte Ausschluss gehe über den Wortlaut von Art. 695 OR
hinaus, verkenne die zentrale Bedeutung des Stimmrechts - das gemäss
Art. 689 Abs. 2 OR auch durch einen Vertreter ausgeübt werden könne -
und sei unvereinbar mit der neurechtlich in Art. 689b OR vorgesehenen
Weisungsbefolgungspflicht des Vertreters.

    a) Nach herrschender älterer Lehre gilt der gesetzliche Ausschluss
vom Stimmrecht auch für den (gewillkürten) Vertreter (BÜRGI, Zürcher
Kommentar, N. 11 zu Art. 695 OR; FORSTMOSER, Die aktienrechtliche
Verantwortlichkeit, Zürich 1987, N. 425; WALTER R. SCHLUEP, Die
wohlerworbenen Rechte des Aktionärs und ihr Schutz nach schweizerischem
Recht, Diss. Zürich 1955, S. 134 f.). Daran wird zum Teil auch unter dem
revidierten Aktienrecht ausdrücklich festgehalten (LÄNZLINGER, Basler
Kommentar, N. 6 zu Art. 695 OR; PATRICK SCHLEIFFER, Der gesetzliche
Stimmrechtsausschluss im schweizerischen Aktienrecht, Diss. Zürich, Bern
1993, S. 210, 216 f.). Ein anderer Teil der Doktrin vertritt dagegen
die Ansicht, der Stimmrechtsausschluss desjenigen, der als Organ von
einem nicht mit der Geschäftsführung befassten Aktionär zur Vertretung
bei der Décharge-Erteilung bevollmächtigt wird, sei mindestens dann
nicht angezeigt, wenn der vertretene Aktionär eine Spezialvollmacht
mit ausdrücklicher Weisung erteilt habe (BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht,
2. Aufl. 1996, N. 1360 h/i; ROLF WATTER/DIETER DUBS, Der Déchargebeschluss,
in: AJP 2001 S. 919; HERBERT WOHLMANN, Zur Organvertretung im neuen
Schweizerischen Aktienrecht, in: SJZ 90/1994 S. 116/119; VON BÜREN,
Erfahrungen schweizerischer Publikumsgesellschaften mit dem neuen
Aktienrecht, in: ZBJV 131/1995 S. 67 f.).

    b) Der Entlastungsbeschluss lässt allfällige Schadenersatzansprüche
der Gesellschaft gegenüber ihren Organen untergehen. Zustimmende
Aktionäre können mit dem Beschluss, nicht zustimmende nach sechs Monaten
ebenfalls nicht mehr auf Leistung an die Gesellschaft klagen (Art. 758 OR;
FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996, §
36 N. 131 ff.; BÖCKLI, aaO, N. 2016 f.). Der Déchargebeschluss gehört zu
den unübertragbaren Befugnissen der Generalversammlung (Art. 698

Abs. 2 Ziff. 5 OR). Die Generalversammlung kann ihre Beschlüsse nach
einhelliger Lehre nur anlässlich einer tatsächlich gesetzeskonform
einberufenen Versammlung der Aktionäre fassen; Zirkularbeschlüsse oder
Urabstimmungen sind unzulässig (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, aaO, §
23 N. 9/11; BÖCKLI, aaO, N. 1262a; ERIC L. DREIFUSS/ANDRÉ E. LEBRECHT,
Basler Kommentar, N. 6 f. zu Art. 698 OR; BÜRGI, aaO, N. 11 ff. zu Art. 698
aOR). Der Aktionär kann somit weder auf dem Zirkularweg noch schriftlich
stimmen. Sein Vertreter ist daher nicht blosser Bote, sondern hat - auch
wenn er weisungsgebunden handelt - in der Versammlung und aufgrund der dort
vermittelten Informationen die vertretenen Stimmen abzugeben. Seine Stimme
ist gültig, auch wenn er weisungswidrig handelt (BÖCKLI, aaO, N. 1264a
S. 624; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, aaO, § 24 N. 127 ff.). Ist er
gleichzeitig Geschäftsführer der Gesellschaft, so ist er damit seinerseits
dem Interessenkonflikt ausgesetzt, den Art. 695 OR im Interesse der
Funktionsfähigkeit der Gesellschaft und des Minderheitenschutzes verhindern
soll (BGE 118 II 496, insbes. E. 5a und b S. 498 f.; PATRICK SCHLEIFFER,
aaO, S. 210 f.; vgl. auch VON BÜREN, aaO, S. 68). Die praktischen
Erwägungen, welche für die Stimmberechtigung der Organvertretung auch
bei der Décharge-Erteilung sprechen (vgl. insbes. HERBERT WOHLMANN,
aaO, S. 118 f.), vermögen nicht dagegen aufzukommen, dass auch nach
geltendem Recht die Aktionäre ihr Stimmrecht an der Generalversammlung
nur persönlich oder durch eine an der Versammlung teilnehmende Person,
welche die Stimmen gültig vertritt, ausüben kann. Dem Sinn und Zweck des
Stimmrechtsausschlusses gemäss Art. 695 Abs. 1 OR entsprechend sind alle
an der Versammlung anwesenden Personen vom Stimmrecht ausgeschlossen,
die als Organe vom Entlastungsbeschluss betroffen sind.

    c) Die Vorinstanz hat den Ausschluss der klägerischen Stimmen vom
Déchargen-Beschluss mit der Begründung geschützt, dass diese 72 Stimmen
an der Generalversammlung vom 30. Juni 2000 durch den Sohn des Klägers,
D., vertreten waren, der seinerseits als Direktor der Beklagten mit deren
Geschäftsführung betraut ist. Der Kläger bestreitet nicht, dass sein
Vertreter in dieser Eigenschaft vom gesetzlichen Stimmrechtsausschluss
grundsätzlich erfasst und jedenfalls mit eigenen Aktien nicht
stimmberechtigt ist. Dessen Ausschluss vom Stimmrecht gilt darüber
hinaus aber auch für die Vertretung eines nicht an der Geschäftsführung
beteiligten Aktionärs. Die Vorinstanz hat den Ausschluss der vom Organ der
Beklagten vertretenen Stimmen des Klägers daher zutreffend geschützt und

den Generalversammlungsbeschluss insofern zu Recht als gültig erachtet. Es
kann unter diesen Umständen offen bleiben, ob sich der Kläger selbst
derart in die Belange der Beklagten eingemischt hat, dass er faktisch
Organstellung bekleidete und seine Stimmen auch aus diesem Grund gemäss
Art. 695 OR vom Entlastungsbeschluss auszuschliessen waren, wie die
Vorinstanz eventualiter angenommen hat.