Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 475



127 V 475

68. Auszug aus dem Urteil vom 9. Oktober 2001 i. S. H. gegen Kantonale
Arbeitslosenkasse St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen

Regeste

    Art. 9 Abs. 2, Art. 8 Abs. 1 lit. f, Art. 15 und 29 Abs. 1 AVIG; Art.
15 Abs. 3 AVIV: Beginn der Rahmenfrist für den Leistungsbezug.

    - Die Beständigkeit des einmal festgelegten Beginns der
Leistungsrahmenfrist steht unter dem Vorbehalt, dass sich die Zusprechung
und Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung nicht nachträglich
zufolge Fehlens einer oder mehrerer Anspruchsvoraussetzungen unter
wiedererwägungsrechtlichem oder prozessual-revisionsrechtlichem
Gesichtswinkel als unrichtig erweist. Dies gilt in Bezug auf die
Vermittlungsfähigkeit auch im Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 3
AVIV. Anders verhält es sich bei Zusprechung und Ausrichtung von
Arbeitslosenentschädigung gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG (vgl. BGE 126
V 368).

    - Zur Rechtsbeständigkeit von AM/ALV-Praxis 98/4, Blatt 4, soweit
nach dieser Weisung nach der erstmaligen Auszahlung von Taggeldern die
Rahmenfristen ausnahmslos nicht verschoben werden können.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 8 Abs. 1 AVIG hat der Versicherte Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung, wenn er u.a. die Beitragszeit erfüllt
hat oder von der Erfüllung der Beitragszeit befreit ist (lit. e) und
vermittlungsfähig ist (lit. f).

    Von der Erfüllung der Beitragszeit ist unter anderem befreit, wer
innerhalb der Rahmenfrist (Art. 9 Abs. 3) während insgesamt mehr als
zwölf Monaten wegen Krankheit oder Unfall nicht in einem Arbeitsverhältnis
stand und deshalb die Beitragszeit nicht erfüllen konnte (Art. 14 Abs. 1
lit. b AVIG).

    b) Der Arbeitslose ist vermittlungsfähig, wenn er bereit, in der Lage
und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen (Art. 15 Abs. 1 AVIG).
Der körperlich oder geistig Behinderte gilt als vermittlungsfähig,
wenn ihm bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung
seiner Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt
werden könnte (Art. 15 Abs. 2 Satz 1 AVIG). Ist ein Behinderter, unter
der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage, nicht offensichtlich
vermittlungsunfähig und hat er sich bei der Invalidenversicherung oder
bei einer anderen der in Art. 15 Abs. 2 AVIV genannten Versicherungen
angemeldet, so gilt er bis zum Entscheid dieser Versicherung als
vermittlungsfähig (Art. 15 Abs. 3 Satz 1 AVIV in Verbindung mit Art. 15
Abs. 2 Satz 2 AVIG).

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 9 AVIG gelten für den Leistungsbezug und die Beitragszeit
zweijährige Rahmenfristen, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht (Abs.
1). Die Rahmenfrist für den Leistungsbezug beginnt am ersten Tag, für den
sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (Abs. 2). Die Rahmenfrist
für die Beitragszeit beginnt

zwei Jahre vor diesem Tag (Abs. 3). Ist die Rahmenfrist für den
Leistungsbezug abgelaufen und beansprucht der Versicherte u.a. wieder
Arbeitslosenentschädigung, so gelten, sofern das Gesetz nichts anderes
vorsieht, erneut zweijährige Rahmenfristen für den Leistungsbezug und
die Beitragszeit (Abs. 4).

    a) Die Rahmenfrist für den Leistungsbezug begrenzt
die Anspruchsberechtigung in zeitlicher Hinsicht und legt die
für die Dauer und Höhe der Leistungen massgebende Zeitspanne fest
(THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 89; vgl. auch
GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, Bd. I, N 6 zu
Art. 9). Nach der gesetzlichen Konzeption bleibt eine einmal laufende
Rahmenfrist grundsätzlich bestehen und kann eine neue frühestens nach
deren Ablauf eröffnet werden. Weder eine die Arbeitslosenentschädigung
ausschliessende Tätigkeit noch der Wegfall der Anspruchsberechtigung als
solche (beispielsweise bei nicht mehr gegebener Vermittlungsfähigkeit)
beendigen die Rahmenfrist (NUSSBAUMER, aaO, Rz 96, sowie GERHARDS,
aaO, N 19 zu Art. 9; vgl. auch Art. 37 Abs. 4 AVIV). Ebenfalls kann
die Rahmenfrist nicht durch den Verzicht auf Leistungen verkürzt werden
(Urteil S. vom 24. Juli 2000 [C 151/99]).

    b) aa) Die Beständigkeit des einmal festgelegten Beginns der
Leistungsrahmenfrist steht unter dem Vorbehalt, dass sich die Zusprechung
und Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung nicht nachträglich
zufolge Fehlens einer oder mehrerer Anspruchsvoraussetzungen unter
wiedererwägungsrechtlichem oder prozessual-revisionsrechtlichem
Gesichtswinkel als unrichtig erweist (BGE 126 V 374 oben sowie in
begrifflicher Hinsicht BGE 122 V 21 Erw. 3a und 368 f. Erw. 3 mit
Hinweisen). In diesem Sinne zu Unrecht bezogene Leistungen sind nach
Art. 95 Abs. 1 AVIG von der Arbeitslosenkasse zurückzufordern (BGE 126 V
399 Erw. 1). In solchen Fällen kann nach Art. 9 Abs. 2 AVIG e contrario
die Bezugsrahmenfrist frühestens an dem auf den Rückerstattungszeitraum
folgenden ersten Kontrolltag als eröffnet gelten, sofern in jenem Zeitpunkt
alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.

    bb) Ein Sonderfall liegt bei Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung
gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG vor. Hier wird bei gegebenen
tatbeständlichen Voraussetzungen (begründete "Zweifel über Ansprüche aus
Arbeitsvertrag") zu Gunsten des Leistungsbezügers das Anspruchsmerkmal des
anrechenbaren Arbeitsausfalles (Art. 8 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art.
11 AVIG) im Sinne

einer unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung als gegeben angenommen.
Folgerichtig stellt die spätere vollständige oder teilweise Erfüllung
der im Bestand oder im Hinblick auf die Realisierbarkeit mit Zweifeln
behafteten Lohn- und Entschädigungsansprüche im Sinne von Art. 11 Abs. 3
AVIG keinen prozessualen Revisionsgrund dar mit der Folge, dass die
Rahmenfrist entsprechend neu festzulegen wäre (BGE 126 V 372 ff. Erw. 3a
und b). Ebenfalls entfällt - systemkonform - eine Rückerstattungspflicht
(Urteil R. vom 15. Januar 2001 [C 91/00]).

    cc) Demgegenüber erfolgt die Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung
nach Art. 15 Abs. 3 AVIV nicht auf Grund der unwiderlegbaren gesetzlichen
Vermutung von Vermittlungsfähigkeit. Diese Verordnungsbestimmung statuiert
nur, aber immerhin unter der tatbeständlichen Voraussetzung, dass der
Behinderte (vgl. zu diesem Begriff ARV 1999 Nr. 19 S. 106 Erw. 2) nicht
offensichtlich vermittlungsunfähig ist, eine Vorleistungspflicht der
Arbeitslosenversicherung im Verhältnis zur Invalidenversicherung bis
zu deren Entscheid. Stellt sich diese Annahme auf Grund der von der
IV-Stelle ermittelten Invalidität nachträglich als unrichtig heraus,
liegt ein prozessualer Revisionsgrund vor (BGE 108 V 167 und ARV 1998
Nr. 15 S. 80 ff. Erw. 5 mit Hinweisen). Dies gilt indessen nicht und
die betreffende Arbeitslosenentschädigung kann nicht zurückgefordert
werden, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass trotz
im IV-Verfahren festgestellter gänzlicher Erwerbsunfähigkeit auf
Vermittlungsfähigkeit für Tätigkeiten im zeitlichen Umfang von mindestens
20% eines Normalarbeitspensums (BGE 125 V 58 Erw. 6a) geschlossen werden
muss (ARV 1998 Nr. 15 S. 81 f. Erw. 5b).

    dd) AM/ALV-Praxis 98/4, Blatt 4, schliesst das Verschieben der
Rahmenfristen nach der erstmaligen Auszahlung von Taggeldern in allen
Fällen (auch jenen nach Art. 29 AVIG) schlechterdings aus, ohne die Fälle
des wiedererwägungsweisen Zurückkommens und der prozessualen Revision
vorzubehalten. Insofern wäre die Weisung, allein von ihrem Wortlaut her
betrachtet, gesetzwidrig. Richtig, d.h. in gesetzeskonformer Auslegung
(vgl. - zu den Rechtsverordnungen - statt vieler BGE 125 V 4 Erw. 3b)
verstanden, kann sie allerdings nur dahin gehend ausgelegt werden, dass
im Falle des Zurückkommens kraft Wiedererwägung oder prozessualer Revision
eine Verschiebung der Rahmenfristen möglich sein muss.