Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 373



127 V 373

56. Auszug aus dem Urteil vom 27. November 2001 i. S. Patria-Stiftung zur
Förderung der Personalversicherung gegen S. und Versicherungsgericht
des Kantons Basel-Stadt

Regeste

    Art. 23 BVG, Art. 28 IVG und Art. 18 UVG: Kumulation von
Invalidenrenten verschiedener Sozialversicherer.

    - Im Bereich der Invalidenrenten besteht eine Kumulation kongruenter
Leistungen unter Vorbehalt der Kürzung bei Überentschädigung. Die
Vorsorgeeinrichtung ist daher verpflichtet, Invalidenleistungen nach
BVG auszurichten, auch wenn über den Anspruch der versicherten Person
gegenüber der Unfallversicherung noch nicht rechtskräftig entschieden ist.

    - Frage weiterhin offen gelassen, ob die Vorsorgeeinrichtung im Falle
späterer Leistungskürzung zufolge Überentschädigung zu viel erbrachte
Leistungen zurückfordern kann.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Anspruch auf Invalidenleistungen haben gemäss Art. 23 BVG Personen,
die im Sinne der Invalidenversicherung zu mindestens 50% invalid sind
und bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur Invalidität
geführt hat, versichert waren. Nach Art. 26 Abs. 1 BVG gelten für den
Beginn des Anspruchs auf Invalidenleistungen sinngemäss die entsprechenden
Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (Art. 29
IVG). Laut Art. 34 Abs. 2 BVG erlässt der Bundesrat Vorschriften zur
Verhinderung ungerechtfertigter Vorteile des Versicherten oder seiner
Hinterlassenen beim Zusammentreffen mehrerer Leistungen. Treffen Leistungen
nach diesem Gesetz mit solchen nach dem Unfallversicherungsgesetz oder
nach dem Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung
zusammen, so gehen grundsätzlich die Leistungen der Unfallversicherung
oder der Militärversicherung vor. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat
der Bundesrat die Art. 24 ff. BVV 2 erlassen. Nach Art. 24 Abs. 1 BVV 2
kann die Vorsorgeeinrichtung die Hinterlassenen- und Invalidenleistungen
kürzen, soweit sie zusammen mit anderen anrechenbaren Einkünften 90%
des mutmasslich entgangenen Verdienstes übersteigen. Als anrechenbare
Einkünfte gelten nach Art. 24 Abs. 2 BVV 2 Leistungen gleicher Art
und Zweckbestimmung, die der anspruchsberechtigten Person auf Grund
des schädigenden Ereignisses ausgerichtet werden, wie Renten oder
Kapitalleistungen mit ihrem Rentenumwandlungswert in- und ausländischer
Sozialversicherungen und Vorsorgeeinrichtungen, mit Ausnahme von
Hilflosenentschädigungen, Abfindungen und ähnlichen Leistungen. Gemäss Art.
25 Abs. 1 BVV 2 kann die Vorsorgeeinrichtung ihre Leistungen nach Art. 24
kürzen, wenn die Unfallversicherung oder die Militärversicherung für den
gleichen Versicherungsfall leistungspflichtig ist.

Erwägung 3

    3.- Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner
gestützt auf Art. 23 und Art. 26 Abs. 1 BVG in Verbindung mit Art. 29
Abs. 1 lit. b IVG ab 1. Februar 1996 gegenüber der Patria-Stiftung
zur Förderung der Personalversicherung (im Folgenden: Patria-Stiftung)
grundsätzlich Anspruch auf Invalidenleistungen

hat. Streitig und zu prüfen ist hingegen, ob die Patria-Stiftung
die nach BVG geschuldeten Leistungen bereits ab 1. Februar 1996
zu erbringen hat, obwohl über die Verpflichtung der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt zur Ausrichtung einer Invalidenrente nach UVG
(noch) nicht rechtskräftig entschieden ist.

Erwägung 4

    4.- Die Vorinstanz bejahte diese Frage mit der Begründung, dass
die Vorsorgeeinrichtung im Verhältnis zur Unfallversicherung eine
Vorleistungspflicht treffe, die zwar nicht gesetzlich geregelt sei,
aber auf dem Grundsatz beruhe, dass einem Versicherten bei einem Streit
zwischen zwei Versicherern über die Leistungspflicht kein Nachteil
entstehen dürfe. Der Beschwerdegegner schliesst sich dieser Auffassung
an, während sich das Bundesamt für Sozialversicherung zur Begründung
des Antrages auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zwar nicht
direkt auf die Vorleistungspflicht beruft, aber Ausführungen de lege
ferenda folgen lässt, die sich mit dieser Frage befassen.

    Die Beschwerde führende Patria-Stiftung macht demgegenüber geltend,
dass im Bereich der beruflichen Vorsorge eine Gesetzesbestimmung betr.
Vorleistungspflicht fehle. Der Beschwerdegegner habe nur dann Anspruch auf
Invalidenleistungen der beruflichen Vorsorge, wenn er nach Anrechnung der
Leistungen von Invaliden- und Unfallversicherung einen Einkommensausfall
von mehr als 10% erleide. Mangels Entscheides über die Leistungspflicht
der Unfallversicherung könne die konkrete Überversicherungsberechnung ab
Februar 1996 noch nicht vorgenommen werden. Die geschuldete Leistung sei
daher zur Zeit nicht bestimmbar. Die Ausrichtung von Invalidenleistungen
nach BVG vor dem Entscheid über die Leistungspflicht der Unfallversicherung
würde der ratio legis von Art. 34 Abs. 2 BVG - der Vermeidung einer
ungerechtfertigten Überentschädigung bei ausdrücklichem Vorrang
der Unfallversicherung - zumindest in der Retrospektive diametral
entgegenstehen.

Erwägung 5

    5.- a) Soweit Vorinstanz und Verfahrensbeteiligte die eingangs
gestellte Rechtsfrage unter dem Blickwinkel der Vorleistungspflicht
des einen Sozialversicherers zu beantworten suchen, übersehen sie
einen wesentlichen Unterschied in der Koordination verschiedener
Sozialversicherungsleistungen. Bei den Sachleistungen, beispielsweise in
der Krankenversicherung, wo die Vorleistungspflicht des Krankenversicherers
im Verhältnis zur Unfallversicherung oder zur Militärversicherung
geregelt ist (Art. 78 Abs. 1 lit. a KVG und Art. 112 Abs. 1 KVV), gilt
die Prioritätenordnung in dem Sinne,

dass eine Sozialversicherung leistungspflichtig ist, so für
die Heilbehandlung in erster Linie die Militärversicherung,
in zweiter Linie die Unfallversicherung und anschliessend die
Krankenversicherung. Ist die Leistungspflicht zweifelhaft, ist der
Krankenversicherer vorleistungspflichtig. Bei den Geldleistungen
hingegen, insbesondere den Renten, besteht eine Kumulation kongruenter
Leistungen unter Vorbehalt der Kürzung bei Überentschädigung (THOMAS
LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997,
S. 298 f.; vgl. auch MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht,
S. 532; JEAN-MAURICE FRÉSARD, Questions de coordination en matière de
prévoyance professionnelle, in: Recueil de jurisprudence neuchâteloise
[RJN] 2000, S. 27 ff.). Im Falle der Kumulation kann nicht von einer
Vorleistungspflicht des einen Sozialversicherers gesprochen werden. Aus dem
Fehlen von entsprechenden Bestimmungen im Bereich der beruflichen Vorsorge,
wie sie für die Krankenversicherung vorhanden sind (Art. 78 Abs. 1 lit. a
KVG und Art. 112 KVV), kann daher nicht auf eine Gesetzeslücke geschlossen
werden. Das Prinzip der Kumulation bedeutet, dass die Vorsorgeeinrichtung
ihre Leistung zu erbringen hat, sobald die entsprechenden Voraussetzungen
erfüllt sind. Ob und gegebenenfalls in Anwendung welcher Bestimmungen der
Leistungserbringer im Falle späterer Kürzung zufolge Überentschädigung
zu viel erbrachte Leistungen zurückfordern kann, hat das Eidg.
Versicherungsgericht in BGE 115 V 115 offen gelassen. Diese Frage
ist auch im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Aber selbst wenn
die Vorsorgeeinrichtung keine Rückforderungsmöglichkeit hätte, wäre ein
solches Risiko dem Kumulationsprinzip inhärent. Es würde ungleich weniger
schwer wiegen als das Bedürfnis der versicherten Person, mit der Rente
der Invalidenversicherung und derjenigen der beruflichen Vorsorge zusammen
ihren fortlaufenden Lebensunterhalt bestreiten zu können. Dies wäre nicht
gewährleistet, wenn die Vorsorgeeinrichtung ihre Leistungen zurückbehalten
könnte, bis allfällige Rentenleistungen der Unfallversicherung feststehen,
was regelmässig mehrere Jahre dauert (vgl. FRÉSARD, aaO, S. 28, Fn 58).

    b) Auf Grund der Verfügung der IV-Stelle vom 24. Juli 1998, mit
welcher dem Beschwerdegegner rückwirkend ab 1. Februar 1996 bei einem
Invaliditätsgrad von 70% die Hälfte einer ganzen Ehepaar-Invalidenrente
zugesprochen wurde, sind die Voraussetzungen für die Leistungspflicht der
Beschwerdeführerin ab dem nämlichen Zeitpunkt erfüllt. Der angefochtene
Entscheid ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. (...)