Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 339



127 V 339

51. Urteil vom 28. September 2001 i. S. J. gegen Concordia Schweizerische
Kranken- und Unfallversicherung und Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich

Regeste

    Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG; Art. 17 (Ingress) und Art. 17 lit. b
Ziff. 3 KLV: Zahnärztliche Behandlung von Parodontopathien. Ist
eine Parodontopathie auf eine Chemotherapie eines malignen Leidens
zurückzuführen, ist die Übernahme der Kosten der Behandlung durch die
obligatorische Krankenpflegeversicherung gestützt auf Art. 17 lit. b
Ziff. 3 KLV als irreversible Nebenwirkung von Medikamenten zu prüfen.

Sachverhalt

    A.- Die 1941 geborene J. ist bei der Concordia (bis 31. Dezember
1999 Konkordia), Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung,
krankenversichert. Wegen eines Karzinoms musste sie sich im Jahre
1993 einer Chemotherapie unterziehen. Nach Abschluss dieser Therapie
wurden die Zähne 11, 26, 37, 36, 35, 45, 46 und 47 extrahiert. Im
Februar 1996 ersuchte J. die Concordia um Kostengutsprache für
eine Zahnsanierung im Betrag von 40'521 Franken. Nachdem sich die
Krankenkasse bei ihrem Vertrauensarzt Prof. Dr. Dr. med. H., Klinik
für Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie am Spital X, über die allfällige
Übernahmepflicht und das weitere Vorgehen erkundigt hatte, wandte sie sich
mit Schreiben vom 15. Mai 1996 an die behandelnden Zahnärzte Dres. G. und
R. und forderte eine Dokumentation des Zahn- und Parodontalstatus vor
und nach der Chemotherapie an. Nach Eingang der gewünschten Unterlagen
und gestützt auf eine Empfehlung des Vertrauensarztes verneinte die
Concordia mit Schreiben vom 17. Juli 1996 an die zuständigen Ärzte die
Pflicht zur Übernahme der Kosten für die Zahnbehandlung. Auf Verlangen
der Versicherten erliess sie am 9. August 1996 eine

entsprechende anfechtbare Verfügung. J. liess gegen die Verfügung
Einsprache erheben und die Übernahme der Zahnbehandlungskosten durch die
Krankenkasse beantragen. Mit Einspracheentscheid vom 18. Oktober 1996 hielt
die Concordia an ihrem Standpunkt fest und verneinte eine Leistungspflicht.

    B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich mit Entscheid vom 7. April 1998 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt J. wiederum die Übernahme
der Zahnbehandlungskosten durch die Concordia beantragen.

    Die Concordia schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
beantragt sinngemäss ebenfalls deren Abweisung.

    D.- Am 28. März 2000 hat das Eidg. Versicherungsgericht
eine Expertengruppe mit der Erstellung eines zahnmedizinischen
Grundsatzgutachtens beauftragt. Das vorliegende Verfahren wurde deshalb
mit Verfügung vom 3. April 2000 sistiert. Das Grundsatzgutachten ging
am 31. Oktober 2000 beim Gericht ein und wurde am 16. Februar 2001 mit
den Experten erörtert. Am 21. April 2001 erstellten die Experten einen
Ergänzungsbericht.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Da das Gericht im Hinblick auf die sich hier stellenden
medizinischen Fragen Fachpersonen konsultiert hat, wurde das Verfahren
sistiert. Nach Vorliegen des Berichtes mit Ergänzungen ist der Grund der
Sistierung weggefallen. Sie ist daher aufzuheben.

Erwägung 2

    2.- a) Die Leistungen, deren Kosten von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung bei Krankheit zu übernehmen sind, werden
in Art. 25 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) in
allgemeiner Weise umschrieben. Im Vordergrund stehen die Leistungen
der Ärzte und Ärztinnen, dann aber auch der Chiropraktoren und
Chiropraktorinnen sowie der Personen, die im Auftrag von Ärzten und
Ärztinnen Leistungen erbringen.

    Die Leistungen der Zahnärzte und Zahnärztinnen sind in der genannten
Bestimmung nicht aufgeführt. Die Kosten dieser Leistungen sollen im
Krankheitsfalle der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur in
eingeschränktem Masse überbunden werden, nämlich wenn die zahnärztliche
Behandlung durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems
(Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG) oder durch eine schwere Allgemeinerkrankung
oder ihre Folgen bedingt (Art. 31

Abs. 1 lit. b KVG) oder zur Behandlung einer schweren Allgemeinerkrankung
oder ihrer Folgen notwendig ist (Art. 31 Abs. 1 lit. c KVG).

    b) Gestützt auf Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit
Art. 33 lit. d KVV hat das Departement in der Verordnung über
Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
(Krankenpflege-Leistungsverordnung [KLV]) zu jedem der erwähnten
Unterabsätze von Art. 31 Abs. 1 KVG einen eigenen Artikel erlassen,
nämlich zu lit. a den Art. 17 KLV, zu lit. b den Art. 18 KLV und zu lit. c
den Art. 19 KLV. In Art. 17 KLV werden die schweren, nicht vermeidbaren
Erkrankungen des Kausystems aufgezählt, deren Behandlungskosten von der
obligatorischen Krankenversicherung zu übernehmen sind. In Art. 18 KLV
werden die schweren Allgemeinerkrankungen und ihre Folgen aufgelistet,
die zu zahnärztlicher Behandlung führen können und deren Kosten von
der obligatorischen Krankenversicherung zu tragen sind. Hier müssen die
Allgemeinerkrankungen oder ihre Folgen schwer sein, nicht hingegen die
dadurch bedingte Erkrankung des Kausystems. In Art. 19 KLV schliesslich
hat das Departement die schweren Allgemeinerkrankungen aufgezählt, bei
denen die zahnärztliche Massnahme notwendiger Bestandteil der Behandlung
darstellt.

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen ist zunächst die anwendbare Rechtsgrundlage.

    a) Die Krankenkasse verneint von vornherein jegliche Leistungspflicht
gestützt auf das KVG, da sie gemäss Art. 19 KLV nur diejenigen Kosten
einer zahnärztlichen Behandlung zu übernehmen habe, die vorgängig
einer Strahlen- oder Chemotherapie notwendig seien, die Zahnsanierung
der Beschwerdeführerin jedoch nach Durchführung der Chemotherapie nötig
geworden sei. Art. 18 KLV erwähne sodann weder das Mammakarzinom noch die
Chemotherapie als schwere Allgemeinerkrankung beziehungsweise konsekutive
Behandlung.

    Die Beschwerdeführerin hat im vorinstanzlichen Verfahren zur Begründung
ihres Begehrens geltend gemacht, Art. 19 lit. c KLV sei gesetzwidrig. Diese
Bestimmung erkläre die Kosten der zahnärztlichen Behandlung nur bei
vorgängiger Chemotherapie zur Pflichtleistung, während das Gesetz in
Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG die Kosten für eine zahnärztliche Behandlung
ausdrücklich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung auferlege,
wenn diese durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt
sei. Die Vorinstanz schliesslich hat darauf hingewiesen, dass

Art. 19 lit. c KLV denjenigen Fall regle, wo die zahnärztliche Behandlung
notwendiger Bestandteil der Behandlung der schweren Allgemeinerkrankung
selber oder ihrer Folgen sei, dass die Behandlung des Leidens vorliegend
jedoch bereits 1993 abgeschlossen gewesen sei. Sie hat sodann Art. 18
KLV einer näheren Prüfung unterzogen und festgestellt, das maligne Leiden
sei darin nicht aufgeführt. Auf Anfrage hin hat sie vom Departement die
Antwort erhalten, das maligne Leiden sei deshalb in Art. 18 KLV nicht
aufgenommen worden, weil es wissenschaftlich nicht erhärtet sei, dass
Zahnschäden als Folge dieses Leidens oder seiner Behandlung auftreten
könnten. Das kantonale Gericht sah keinen Grund, dieser Ansicht nicht zu
folgen. Eher beiläufig stellte es der Vollständigkeit halber in Erw. 1
fest, dass eine Anwendung von Art. 17 KLV nicht in Frage komme.

    Trotz der Ausführungen der Vorinstanz, dass eine allfällige
Gesetzwidrigkeit nicht in Art. 19 KLV, sondern allenfalls in Art. 18 KLV zu
suchen wäre, hält die Versicherte im Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren
an ihrer Auffassung fest.

    b) Im Ergebnis hat die Vorinstanz zunächst zu Recht festgestellt,
dass eine Anwendung von Art. 19 KLV in der vorliegend anwendbaren, bis
Ende 1998 gültigen Fassung ausser Betracht fällt. Zwar wurden bereits
dieser Bestimmung nicht nur vorausgehende zahnärztliche Behandlungen,
sondern generell die gesamte zahnärztliche Versorgung, die zur Behandlung
einer in der Verordnungsbestimmung erwähnten schweren Allgemeinerkrankung
notwendig war, zugeordnet (vgl. BGE 124 V 199 Erw. 2d; GEBHARD EUGSTER,
Krankenversicherungsrechtliche Aspekte der zahnärztlichen Behandlung nach
Art. 31 Abs. 1 KVG, in: LAMal - KVG, Recueil de travaux en l'honneur de
la société suisse de droit des assurances, Lausanne 1997, S. 243); doch
fällt der vorliegende Sachverhalt auch nicht unter diesen weiter gefassten
Anwendungsbereich des Art. 19 KLV. Der Vollständigkeit halber kann darauf
hingewiesen werden, dass der Wortlaut von Art. 19 KLV per 1. Januar 1999
entsprechend geändert worden ist, was auf den konkreten Fall jedoch keine
Auswirkungen hat. Bezüglich Art. 18 KLV hat das kantonale Gericht sodann
zutreffend ausgeführt, dass in dieser Bestimmung maligne Leiden von der
Art, wie sie bei der Beschwerdeführerin zu behandeln waren, nicht als
schwere Allgemeinerkrankung aufgeführt sind, welche selbst oder ihre
Folgen eine zahnärztliche Behandlung notwendig machen. Die Aussage der
Gerichts bezog sich auf die bis Ende 1998 gültig gewesene Fassung der

Verordnungsbestimmung; daran hat sich in der ab 1. Januar 1999 in
Kraft stehenden Regelung nichts geändert. Zu erwähnen ist schliesslich,
dass das Eidg. Versicherungsgericht in BGE 124 V 185 entschieden hat,
dass die in Art. 17-19 KLV erwähnten Erkrankungen, deren zahnärztliche
Behandlung von der sozialen Krankenversicherung zu übernehmen ist,
abschliessend aufgezählt sind. Bevor eine Prüfung des Art. 18 KLV
auf seine Übereinstimmung mit dem Bundesgesetz in Betracht gezogen und
gefragt wird, ob solche Leiden darin zu Unrecht nicht aufgeführt sind,
was dem Eidg. Versicherungsgericht nicht verwehrt ist, wobei es sich
aber grosse Zurückhaltung auferlegt (BGE 124 V 185), ist Art. 17 KLV,
dessen Anwendung die Vorinstanz beiläufig ausgeschlossen hat, einer
näheren Prüfung zu unterziehen.

Erwägung 4

    4.- a) In Art. 17 KLV werden, wie bereits erwähnt, die schweren,
nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems aufgezählt, deren
Behandlungskosten von der obligatorischen Krankenversicherung zu übernehmen
sind. Die Enumeration dieser Krankheiten wird gegliedert. In lit. a
werden die Erkrankungen der Zähne genannt, in lit. b die Erkrankungen
des Zahnhalteapparates (Parodontopathien), in lit. c die Erkrankungen
des Kieferknochens und der Weichteile, in lit. d die Erkrankungen des
Kiefergelenkes und des Bewegungsapparates, in lit. e die Erkrankungen
der Kieferhöhle und in lit. f die Dysgnathien, die zu Störungen mit
Krankheitswert führen. Im Vordergrund steht lit. b über die Erkrankung
des Zahnhalteapparates. Um diese Littera im Zusammenhang mit der ganzen
Regelung von Art. 17 KLV zu verstehen, wird die Verordnungsbestimmung
nachfolgend aufgeführt:
      Art. 17 Erkrankungen des Kausystems Die Versicherung übernimmt die
      Kosten der zahnärztlichen Behandlungen,

    die durch eine der folgenden schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen
des

    Kausystems bedingt sind (Art. 31 Abs. 1 Bst. a KVG). Voraussetzung ist,

    dass das Leiden Krankheitswert erreicht; die Behandlung ist nur so weit

    von der Versicherung zu übernehmen, wie es der Krankheitswert des
Leidens

    notwendig macht:
      a. Erkrankungen der Zähne: 1. Idiopathisches internes Zahngranulom,
      2. Verlagerung und Überzahl von Zähnen und Zahnkeimen mit
      Krankheitswert

    (z.B. Abszess, Zyste);
      b. Erkrankungen des Zahnhalteapparates (Parodontopathien):
      1. Präpubertäre Parodontitis, 2. Juvenile, progressive Parodontitis,
      3. Irreversible Nebenwirkungen von Medikamenten;

      c. Erkrankungen des Kieferknochens und der Weichteile: 1. Gutartige
      Tumore im Kiefer- und Schleimhautbereich und tumorähnliche

    Veränderungen,
      2. Maligne Tumore im Gesichts-, Kiefer- und Halsbereich,
      3. Osteopathien der Kiefer, 4. Zysten (ohne Zusammenhang mit
      Zahnelementen), 5. Osteomyelitis der Kiefer; d. Erkrankungen des
      Kiefergelenks und des Bewegungsapparates: 1. Kiefergelenksarthrose,
      2. Ankylose, 3. Kondylus- und Diskusluxation; e. Erkrankungen der
      Kieferhöhle: 1. In die Kieferhöhle dislozierter Zahn oder Zahnteil,
      2. Mund-Antrumfistel; f. Dysgnathien, die zu folgenden Störungen mit
      Krankheitswert führen: 1. Schlafapnoesyndrom, 2. Schwere Störungen
      des Schluckens, 3. Schwere Schädel-Gesichts-Asymmetrien.

    b) Die Umschreibung der Erkrankungen in Art. 17 KLV ist
unterschiedlich. So begnügt sich der Verordnungsgeber teils mit einzelnen
Krankheitsbezeichnungen wie etwa der Kiefergelenksarthrose (Art. 17 lit. d
Ziff. 1 KLV) oder der Mund-Antrumfistel (Art. 17 lit. e Ziff. 2 KLV),
teils verwendet er Umschreibungen wie in Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV, wo ihm
die Begriffe "Verlagerung und Überzahl von Zähnen und Zahnkeimen" für sich
allein zu unbestimmt erscheinen, sodass er nur solche darunter verstanden
wissen will, die "Krankheitswert (z.B. Abszess, Zyste)" erreichen. Damit
stellt sich die Frage, ob dieser Krankheitswert ein anderer ist als jener
Krankheitswert, der nach Art. 17 KLV zur allgemeinen Voraussetzung dafür
erhoben wird, dass die in dieser Bestimmung aufgezählten Erkrankungen in
den Leistungsbereich der sozialen Krankenversicherung fallen. Weiter ist
danach zu fragen, ob der Krankheitswert, wie er in Art. 17 KLV allgemein
oder in dessen lit. a Ziff. 2 bei verlagerten und überzähligen Zähnen
und Zahnkeimen verwendet wird, mit dem in Art. 2 Abs. 1 KVG definierten
Begriff der Krankheit übereinstimmt.

Erwägung 5

    5.- Das Gericht hat dazu die von zwei verschiedenen Berufsgruppen zur
Leistungspflicht der sozialen Krankenversicherung im Sinne von Art. 31
KVG herausgegebenen Leitfäden zu Rate gezogen (Atlas der Erkrankungen
mit Auswirkungen auf das Kausystem [SSO-Atlas], herausgegeben von der
Schweizerischen

Zahnärzte-Gesellschaft SSO, 1996; KVG-Leitfaden, Leistungspflicht
im Fachbereich Kiefer- und Gesichtschirurgie, herausgegeben von der
Gesundheitspolitischen Kommission der Schweizerischen Gesellschaft
für Kiefer- und Gesichtschirurgie, 1999). In der Erkenntnis, dass diese
Unterlagen einerseits auf die sich stellenden Fragen wenig grundsätzliche
Antworten geben und die Thematik mehr kasuistisch angehen und andererseits
in vielen Einzelfragen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen,
sowie angesichts der grossen praktischen Bedeutung mit allfällig
weit reichenden finanziellen Folgen für die Versicherten und die
Versicherer hat das Gericht eine Expertengruppe mit der Ausarbeitung
eines Grundsatzgutachtens beauftragt. Dieses hatte die gestellten
Fragen grundsätzlich, d.h. losgelöst von den anstehenden Einzelfällen,
zu beantworten und so dem Gericht eine Grundlage zu bieten, welche es ihm
erlaubt, den gesetzlichen Bestimmungen einen Inhalt zu geben, der auf einem
zutreffenden Verständnis des der Regelung zu Grunde liegenden medizinischen
Fachwissens beruht. Bei den drei Mitgliedern der Expertengruppe handelt es
sich um PD Dr. med. dent. Urs Gebauer, Klinik für Kieferorthopädie, Bern,
Dr. med. dent. Martin Chiarini, Ecole de médecine dentaire, Genève, und
Dr. med. dent. Wanda Gnoinski, Klinik für Kieferorthopädie, Zürich. Diese
Experten durften andere Fachpersonen kontaktieren.

Erwägung 6

    6.- a) Die Experten wurden zum Krankheitswert befragt, der bei
verlagerten und überzähligen Zähnen und Zahnkeimen nach Art. 17
lit. a Ziff. 2 KLV Voraussetzung der Leistungspflicht der sozialen
Krankenversicherung ist. Die Fachpersonen erblicken in diesem
Krankheitswert einen gegenüber dem allgemein definierten Begriff der
Krankheit gemäss Art. 2 Abs. 1 KVG qualifizierten Begriff. Ihm komme -
so führen sie aus - Abgrenzungsfunktion zu. Weil die Umschreibungen
"Verlagerung" und "Überzahl" von Zähnen und Zahnkeimen sowohl leichte
wie auch schwere Erkrankungen des Kausystems erfassten, würden auf
diese Weise die schweren, eben jene mit Krankheitswert, von den übrigen
Erkrankungen abgegrenzt, die nicht als schwer einzustufen seien und daher
der Leistungspflicht der sozialen Krankenversicherung gemäss Art. 31
Abs. 1 KVG nicht unterlägen.

    b) Das Gericht sieht keinen Grund, im Krankheitswert, der nach
Art. 17 KLV bei allen darin aufgeführten Erkrankungen erreicht sein muss,
damit die Behandlung der Leistungspflicht unterliegt, etwas anderes zu
erblicken. Auch hier dient der Begriff der Abgrenzung. Er drückt das Mass
der Schwere der Erkrankung als Voraussetzung

für die Leistungspflicht der sozialen Krankenversicherung aus. Nicht
schwere Erkrankungen sollen nach der gesetzlichen Vorgabe des Art. 31
Abs. 1 KVG davon ausgeschlossen sein. Der in Art. 17 KLV geforderte
Krankheitswert übersteigt somit den für die soziale Krankenversicherung
allgemein geltenden Krankheitswert des Art. 2 Abs. 1 KVG (vgl. zum Ganzen:
BGE 127 V 328).

Erwägung 7

    7.- Vorliegend stellt sich die Frage, ob die Erkrankung
des Zahnhalteapparates, unter welcher die Beschwerdeführerin
unbestrittenermassen leidet, nicht unter Art. 17 lit. b Ziff. 3 KLV
zu subsumieren ist. Auffälligerweise sind weder die Parteien noch die
Vorinstanz auf diese Bestimmung aufmerksam geworden. Auch das BSV, das
von der Vorinstanz auf den Umfang von Art. 18 KLV angesprochen worden
ist, hat diese Bestimmung nicht erwähnt. Der Grund dürfte darin liegen,
dass die Regelung nicht auf den ersten Blick als klar erscheint. Während
die übrigen Ziffern (in lit. a deren zwei, in lit. b deren weitere zwei,
in lit. c deren fünf, in lit. d deren drei, in lit. e deren zwei und in
lit. f deren drei, insgesamt somit 18 Ziffern) allesamt Erkrankungen oder
Dysgnathien mit Krankheitswert aufzählen, nennt lit. b Ziff. 3 keine
Erkrankung. Die Rede ist lediglich von irreversiblen Nebenwirkungen
von Medikamenten. Im Zusammenhang mit der Unterüberschrift von lit. b
"Erkrankungen des Zahnhalteapparates (Parodontopathien)" und den Ziffern
1 und 2, nämlich Ziff. 1, welche die präpubertäre Parodontitis, und
Ziff. 2, welche die juvenile, progressive Parodontitis nennen, drängt
sich jedoch der Schluss auf, dass auch Ziff. 3 eine Parodontitis im Auge
hat, nämlich eine durch irreversible Nebenwirkungen von Medikamenten
verursachte Parodontitis. Diese Interpretation verdient vor jeder
anderen denkbaren Auslegung den Vorzug. Insbesondere vermöchte nicht
zu befriedigen, die genannte Bestimmung von Art. 17 lit. b Ziff. 3 KLV
als systematisch falsch eingeordnet und als in Art. 18 KLV gehörend zu
bezeichnen. Eine solche Interpretation gelänge nur durch die Bejahung
eines systematischen Fehlers bei der Gesetzgebung, wobei dann aber noch
ein zweiter Fehler zu überspringen wäre, nämlich dass eine Bezeichnung
der schweren Allgemeinerkrankung immer noch fehlen würde, die nach Art. 18
KLV doch genannt sein müsste. Bei der dargelegten Interpretation dagegen
ist nicht von einer eigentlich fehlerhaften Gesetzgebung auszugehen,
sondern lediglich von einer nicht ohne weiteres verständlichen.

    Die dargelegte Interpretation führt zu einem vernünftigen Sinn. Zudem
ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass nach

Meinung des PD Dr. med. O., Chefarzt Onkozentrum Y, die Chemotherapie
zu Parodontose führen kann. Diese Auffassung vertreten auch
der von der Beschwerdegegnerin als Vertrauensarzt beigezogene
Prof. Dr. Dr. med. H. sowie die vom Eidg. Versicherungsgericht mit der
Erstellung eines Grundsatzgutachtens beauftragten Experten.

Erwägung 8

    8.- Fallen somit zahnärztliche Behandlungen von Paradontopathien als
Folge von irreversiblen Nebenwirkungen von Medikamenten grundsätzlich
unter die Pflichtleistungen der obligatorischen Krankenversicherung, so
hat die Kasse im Sinne der Erwägungen abzuklären, ob und inwieweit die
Parodontopathie sowie die Zahnextraktion der Beschwerdeführerin als Folge
der Chemotherapie ihres malignen Leidens gemäss Art. 17 lit. b Ziff. 3
KLV zu betrachten sind. Nach Prüfung der Voraussetzungen der Kausalität
und der Irreversibilität wird sie über ihre Leistungen neu zu verfügen
haben, wobei zu beachten ist, dass sich der Umfang einer allfälligen
Leistungspflicht in jedem Fall nach den Grundsätzen der Wirksamkeit,
Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit zu richten hat (Art. 32 Abs. 1 KVG).