Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 209



127 V 209

31. Urteil vom 20. August 2001 i. S. B. gegen Ausgleichskasse für das
Schweizerische Bankgewerbe und Versicherungsgericht des Kantons Aargau

Regeste

    Art. 16 Abs. 3 AHVG, Art. 46 Abs. 1 AHVG und alt Art. 24 AHVG:
Vollstreckungsverwirkung bei rechtskräftig festgesetzten Leistungen. Die
Frist zur Vollstreckung rechtskräftig zugesprochener Leistungen (hier
eine Witwenabfindung) beträgt zehn Jahre.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 11. März 1987 sprach die Ausgleichskasse für
das Schweizerische Bankgewerbe der seit 11. Dezember 1986 kinderlos
verwitweten B. (geb. 1959) per 1. Januar 1987 eine Witwenabfindung
im Betrag von 41'472 Franken zu. Der Betrag wurde noch gleichentags
ausbezahlt, versehentlich aber auf das Konto einer Drittperson. Im
Juli 1996 ersuchte B. um Überweisung der Witwenabfindung. Daraufhin
entdeckte die Ausgleichskasse ihren Fehler und machte gegenüber der nicht
berechtigten Drittperson eine Rückforderung geltend. Im Anschluss an
eine durch die Versicherte veranlasste Intervention des Bundesamtes für
Sozialversicherung (BSV) lehnte die Ausgleichskasse mit Verfügung vom
9. März 1998 die Auszahlung der Witwenabfindung mit der Begründung ab,
der Anspruch sei seit Februar 1992 verwirkt.

    B.- Auf die hiegegen erhobene Beschwerde trat das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 25. August 1998 nicht ein. Auf
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hin hob das Eidg. Versicherungsgericht mit
Urteil vom 18. Oktober 1999 (BGE 125 V 396) den angefochtenen Entscheid
auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit diese über die
Beschwerde gegen die Kassenverfügung vom 9. März 1998 materiell entscheide.

    Mit Entscheid vom 14. Dezember 1999 wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau die Beschwerde ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B. beantragen, die
Ausgleichskasse sei zu verpflichten, ihr den Betrag von 50'000 Franken
(Witwenabfindung und Spesen) zu bezahlen.

    Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das BSV
schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach alt Art. 24 AHVG (in der bis Ende Dezember 1996 gültig
gewesenen Fassung) haben Anspruch auf eine einmalige Abfindung Witwen,
welche im Zeitpunkt der Verwitwung die Voraussetzungen für den Anspruch
auf eine Witwenrente nicht erfüllen. Der Anspruch auf einmalige Abfindung
entsteht im Zeitpunkt der Verwitwung (BGE 120 V 172 Erw. 1c am Ende). Laut
Art. 46 Abs. 1 AHVG erlischt der Anspruch auf Nachzahlung nicht bezogener
Renten und Hilflosenentschädigungen mit dem Ablauf von fünf Jahren
seit Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war. Diese
Verwirkungsvorschrift gelangt auch bei einmaligen Abfindungen an Witwen
im Sinne von alt Art. 24 AHVG zur Anwendung (BGE 120 V 173 Erw. 3a mit
Hinweisen).

    b) Gemäss Art. 16 Abs. 3 AHVG erlischt der Anspruch auf Rückerstattung
zu viel bezahlter Beiträge mit Ablauf eines Jahres, nachdem der
Beitragspflichtige von seinen zu hohen Leistungen Kenntnis erhalten hat,
spätestens aber fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die
Beiträge bezahlt wurden. Bei diesen Fristen handelt es sich nach ständiger
Rechtsprechung, entgegen der Marginalie "Verjährung", um Verwirkungsfristen
(BGE 119 V 300 Erw. 4a mit Hinweis). Das Eidg. Versicherungsgericht
hat im Urteil H. vom 15. Juni 1971 (BGE 97 V 144 ff., insbesondere 147
ff. Erw. 2a und b) entschieden, dass die absolute Verwirkungsnorm, wonach
zu viel bezahlte Beiträge nach fünf Jahren nicht mehr rückerstattbar sind,
auf ungeschuldete Zahlungen Nichtversicherter nicht

anwendbar sei. Der Wortlaut dieser Norm spreche nur von Beitragspflichtigen
und enthalte keine ausdrückliche Regelung für die Nichtversicherten.
Diesbezüglich bestehe eine vom Richter auszufüllende Lücke. In Anlehnung
an Regelungen über die absolute Verjährung der Rückforderungsansprüche bei
gewissen Steuern und in Analogie zu Art. 67 OR über die Verjährung des
zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs entschied das Gericht, dass bei
Nichtversicherten eine zehnjährige absolute Verwirkungsfrist anwendbar
sei (vgl. auch BGE 110 V 154 f. Erw. 4a, 101 V 182 f. Erw. 1b; ZAK 1988
S. 242 Erw. 3b; SVR 1994 AHV Nr. 36 S. 97).

Erwägung 2

    2.- a) Das kantonale Gericht ging in Anwendung von Art. 46 Abs. 1 AHVG
davon aus, die Auszahlung der Witwenabfindung unterliege der fünfjährigen
Frist. Damit übersieht es, dass sich Art. 46 Abs. 1 AHVG lediglich auf die
Geltendmachung des Anspruchs bezieht und demzufolge die dortige fünfjährige
Verwirkungsfrist bloss die Frage der rückwirkenden Leistungszusprechung bei
verspäteter Anmeldung beschlägt (vgl. BGE 121 V 195, 116 V 277 Erw. 2a und
113 V 13; so schon PETER BINSWANGER, Kommentar zum Bundesgesetz über die
Alters- und Hinterlassenenversicherung, Zürich 1950/51, S. 200 zu Art.
46, und MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S.
129 Anmerkung 246), nicht aber die Verwirkung der rechtzeitig geltend
gemachten und zugesprochenen Leistung. Da damit Art. 46 Abs. 1 AHVG
die Vollstreckungsverwirkung der rechtskräftig festgesetzten Leistung
nicht regelt, stellt sich die Frage, wie diese Gesetzeslücke zu
füllen ist. Dabei steht die analoge Anwendung der in Art. 16 Abs. 3
AHVG geregelten Vollstreckungsfrist rechtskräftig festgesetzter
Beitragsforderungen im Vordergrund. Im Rahmen dieser Bestimmung hat
das Eidg. Versicherungsgericht für Ansprüche auf Rückforderung von
Beiträgen, die Nichtversicherte geleistet haben, eine zehnjährige absolute
Verwirkungsfrist vorgesehen (vgl. Erw. 1b hievor). Eine solche Ausnahme
von der fünfjährigen Frist rechtfertigt sich auch für die Vollstreckung
rechtskräftig zugesprochener Leistungen. Einerseits handelt es sich um
Leistungsansprüche, anderseits sind sie bereits rechtskräftig festgesetzt,
sodass die bei der Feststellung der Ansprüche mit fortdauerndem Zeitablauf
verbundenen Beweisschwierigkeiten nicht bestehen.

    b) Auf Grund der Akten steht fest, dass sich die Beschwerdeführerin
im Laufe des Jahres 1996 nach dem Verbleib der mit Verfügung vom 11. März
1987 rechtskräftig zugesprochenen Witwenabfindung erkundigte. Damit ist
die zehnjährige Frist gewahrt,

weshalb die Ausgleichskasse verpflichtet ist, der Beschwerdeführerin
die Witwenabfindung von 41'472 Franken auszubezahlen. Soweit
die Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren unter dem Titel
Witwenabfindung mehr als diesen Betrag beantragen sollte, erweist sich die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde als unbegründet. Ob infolge der verspäteten
Zahlung der Witwenabfindung Verzugszinsen geschuldet sind (vgl. dazu BGE
119 V 81 Erw. 3a), ist im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, nachdem
die Parteien zu dieser Frage im kantonalen und im letztinstanzlichen
Verfahren nicht Stellung genommen haben und der vorinstanzliche Entscheid
sich damit ebenfalls nicht befasst. Es steht der Beschwerdeführerin frei,
sich mit einem entsprechenden Begehren an die Ausgleichskasse zu wenden,
welche anschliessend hierüber verfügungsweise zu befinden hätte.

Erwägung 3

    3.- (Parteientschädigung)