Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 I 97



127 I 97

12. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
29. Juni 2001 i.S. W. gegen Einwohnergemeinde Olten und Regierungsrat
des Kantons Solothurn (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 9 BV; Art. 24 Abs. 2 BV; Abmeldebestätigung der
Einwohnerkontrolle.

    Es verstösst gegen das Willkürverbot, einer Person die polizeiliche
Abmeldung nicht zu bestätigen, weil sie offene Steuerschulden hat. Offen
gelassen, ob die Abmeldebestätigung zu den Papieren gehört, die einem
Auswandernden von Verfassungs wegen (Niederlassungsfreiheit) abgegeben
werden müssen.

Sachverhalt

    Am 25. Februar 1999 verlangte W. (geb. 1943) die Auszahlung
ihrer Freizügigkeitsleistung aus beruflicher Vorsorge, weil sie
beabsichtige, ihren Wohnsitz (definitiv) nach Italien zu verlegen. Die
Vorsorgeeinrichtung lehnte eine Barauszahlung ab, offenbar weil W. keine
Abmeldebestätigung der Behörden ihres Schweizer Wohnorts beibringen
konnte. W. hatte zwar bei der Einwohnergemeinde Olten eine solche verlangt,
diese weigerte sich jedoch, ein entsprechendes Dokument auszustellen. Die
Einwohnerkontrolle begründete ihre Haltung mit Steuerschulden von W.;
für die Steuerrechnungen der Jahre 1995-1997 waren offenbar Verlustscheine
in einer Höhe von insgesamt über Fr. 20'000.- ausgestellt worden.

    Daraufhin veranlasste W. die Überweisung ihres Freizügigkeitsguthabens
auf ein Freizügigkeitskonto und versuchte weiterhin vergeblich, von
der Einwohnerkontrolle der Gemeinde Olten eine Abmeldebestätigung zu
erhalten. Am 14. Juni 2000 gelangte sie schliesslich an den Regierungsrat
des Kantons Solothurn, machte eine Rechtsverweigerung durch die Gemeinde
Olten geltend und verlangte die Ausstellung einer Abmeldebestätigung
rückwirkend auf den 29. Februar 2000. Mit Beschluss vom 12. September
2000 wies der Regierungsrat ihre Beschwerde ab.

    Hiergegen hat W. am 16. Oktober 2000 staatsrechtliche Beschwerde beim
Bundesgericht eingereicht mit dem Antrag, den Beschluss des Regierungsrats
aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Tritt ein Versicherter aus einer Einrichtung der beruflichen
Vorsorge aus, ohne dass sich ein Versicherungsfall ereignet hat, steht
ihm eine Freizügigkeitsleistung zu (Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes
vom 17. Dezember 1993 über die Freizügigkeit in der beruflichen
Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [FZG; SR 831.42]). Diese
Austrittsleistung wird in der Regel auf eine neue Vorsorgeeinrichtung
übertragen (Art. 3 FZG) oder auf ein Freizügigkeitskonto bzw. eine
Freizügigkeitspolice einbezahlt (Art. 4 FZG in Verbindung mit Art. 10
ff. der Verordnung vom 3. Oktober 1994 über die Freizügigkeit in der
beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [FZV; SR
831.425]). Eine Auszahlung in bar ist nur für Ausnahmefälle vorgesehen
(vgl. Art. 5 FZG); der Versicherte kann eine solche unter anderem dann
verlangen, wenn er die Schweiz endgültig verlässt (Art. 5 Abs. 1 lit. a
FZG). Um Missbräuchen vorzubeugen, hat er diesfalls den Nachweis zu
erbringen, dass seiner Ausreise aus der Schweiz definitiver Charakter
zukommt. Die Absicht, auszuwandern, kann er mittels Urkunden bekräftigen
(vgl. CARL HELBLING, Personalvorsorge und BVG, 7. Aufl., Bern 2000,
S. 257; Botschaft des Bundesrates vom 19. Dezember 1975 zum Bundesgesetz
über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, in:
BBl 1976 I 239), wobei es der Vorsorgeeinrichtung obliegt, vom Versicherten
die geeigneten Belege zu verlangen. Eine Abmeldebestätigung der letzten
schweizerischen Wohnsitzgemeinde ist ein solches Beweismittel. Daneben
kommen etwa ein Arbeitsvertrag, den der Versicherte mit einem (neuen)
ausländischen Arbeitgeber geschlossen hat, der Miet- bzw. Kaufvertrag
für eine Wohnung oder ein Haus im Ausland, die Bestätigung der Anmeldung
der zuständigen ausländischen Behörde sowie - bei einem Ausländer -
eine Bescheinigung der Fremdenpolizei über den Verzicht auf Niederlassung
bzw. Aufenthalt in der Schweiz in Frage (vgl. BGE 119 III 18 E. 3b/bb S. 20
f., mit Hinweisen; Urteil vom 9. Dezember 1996, in: SZS 1998 S. 120 f.).

Erwägung 3

    3.- a) Der Regierungsrat des Kantons Solothurn hat den angefochtenen
Entscheid damit begründet, dass die Beschwerdeführerin der Gemeinde
Olten Steuern im Betrag von Fr. 25'000.- schulde, ohne sich zu
bemühen, diese Summe zu bezahlen; wenn sie ihren Pflichten nachkomme,
werde sie von der Gemeinde die Abmeldebestätigung erhalten und auf
ihre Freizügigkeitsleistung greifen können. Weil die Vorsorgegelder
inzwischen auf dem Freizügigkeitskonto sicher angelegt seien, würden keine
schützenswerten Interessen der Beschwerdeführerin verletzt. Im Übrigen
sei es dieser "mit der Wohnsitzverlegung nicht sehr ernst", halte sie
sich doch angeblich häufig in Olten auf und ihre Adresse in Italien sei
"auch nur eine 'c/o Adresse'". Solange nicht Gewissheit darüber bestehe,
dass der Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführerin im Ausland liege, sei die
Weigerung der Gemeinde, eine Abmeldebestätigung auszustellen, begründet.

    b) Die Beschwerdeführerin rügt vorab, der Regierungsrat hätte sie
zur Frage anhören müssen, ob sie tatsächlich endgültig nach Italien
ausgewandert sei; indem er unbesehen vom Gegenteil ausgegangen sei, habe
er ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 29 Abs. 2 BV; vgl.
BGE 126 I 97 E. 2b S. 102 f.). Überdies sei er in Willkür (Art. 9 BV)
verfallen, weil er die Feststellung, sie habe ihren Wohnsitz nicht
wirklich ins Ausland verlegt, gestützt auf unüberprüfte Behauptungen
der Gemeindebehörden getroffen habe. Die Beschwerdeführerin verkennt mit
ihrer Argumentation, dass der Regierungsrat seinem Entscheid keineswegs
eine entsprechende Sachverhaltsfeststellung zugrunde gelegt hat. In den
Erwägungen kommen lediglich gewisse Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer
Auswanderungsabsichten zum Ausdruck. Die diesbezüglich erhobenen Rügen
sind mithin unbegründet.

    c) Im Übrigen ist es weder Sache der Einwohnerkontrolle noch des
Regierungsrats, zu prüfen, ob eine Person, welche sich polizeilich
abmeldet, die Schweiz endgültig verlassen will. Beim Ausstellen einer
Abmeldebestätigung ist grundsätzlich lediglich die Tatsache der Abmeldung
als solche zu bestätigen, ohne die damit verfolgten Zwecke zu beurteilen.
Der Entscheid, ob die Voraussetzungen für eine Barauszahlung des
Freizügigkeitsguthabens im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a FZG erfüllt
sind, steht allein der Vorsorgeeinrichtung zu. Bezweifelt die Behörde,
dass der Betroffene wirklich ausgewandert ist, oder vermutet sie sonstwie
ein missbräuchliches Vorgehen, kann sie allenfalls die Abmeldebestätigung
zuhanden der Vorsorgeeinrichtung mit entsprechenden Hinweisen ergänzen.

Erwägung 4

    4.- a) In materieller Hinsicht macht die Beschwerdeführerin geltend,
der angefochtene Entscheid greife auf verfassungswidrige Weise in
ihre Niederlassungs- bzw. Auswanderungsfreiheit (Art. 24 BV) ein und
sei willkürlich. Ohne Abmeldebestätigung sei es ihr unmöglich, die
Freizügigkeitsleistung in bar zu beziehen, weshalb sie ihren Lebensabend
vorläufig nicht im Ausland verbringen könne bzw. diesen dort nicht
(selbständig) zu finanzieren vermöge. Bis zum Erreichen des AHV-Alters sei
sie auf das Freizügigkeitskapital angewiesen, um ihre Lebenshaltungskosten
zu decken.

    b) Die Abmeldebestätigung ist gemäss unbestrittener Darstellung des
Regierungsrats weder im kantonalen noch im kommunalen Recht ausdrücklich
geregelt, sondern wird offenbar von den für die Einwohnerkontrolle
zuständigen kommunalen Behörden routinemässig erstellt, wenn sich eine
registrierte Person abmeldet.

    Es handelt sich um eine blosse administrative Erfassung der
Mutation, weshalb die Einwohnerkontrolle die Tatsache der polizeilichen
Abmeldung zu bestätigen hat, wenn dies verlangt wird. Der Bürger hat von
Verfassungs wegen einen allgemeinen (ungeschriebenen) Anspruch darauf,
dass ihm die zuständige Behörde einen ihrer Kontrolle unterliegenden
Vorgang auf Verlangen bescheinigt; dies ergibt sich unmittelbar aus
dem Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 BV) sowie aus der Verpflichtung der
staatlichen Organe auf Treu und Glauben (Art. 9 BV). Vorausgesetzt ist,
dass die verlangte Bestätigung für anderweitig zu treffende Rechtsvorkehren
notwendig oder von wesentlicher Bedeutung ist und dass das Ausstellen
von Erklärungen der betreffenden Art üblich ist. Diese Bedingungen
erscheinen vorliegend hinsichtlich der streitigen Bestätigung der
polizeilichen Abmeldung als erfüllt: Zum einen hat die Beschwerdeführerin
erfolglos die Auszahlung ihrer Freizügigkeitsleistung verlangt, wobei
die Vorsorgeeinrichtung dem Barauszahlungsbegehren offenbar deshalb nicht
entsprochen hat, weil ihr keine Abmeldebestätigung vorgelegt wurde. Der
Regierungsrat und die Beschwerdeführerin gehen übereinstimmend davon
aus, dass es der Letzteren ohne Bestätigung ihrer Abmeldung durch die
Einwohnerkontrolle Olten nicht möglich sei, die Freizügigkeitsleistung
erhältlich zu machen. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob
und inwieweit die Beschwerdeführerin gegenüber der Vorsorgeeinrichtung
allenfalls auch auf andere Weise den Nachweis erbringen könnte, die
Schweiz endgültig verlassen zu haben. Zum anderen ist unstreitig, dass die
Einwohnerkontrolle Olten die Tatsache, dass sich eine bei ihr registrierte
Person polizeilich abmeldet, routinemässig schriftlich bestätigt.

    Sind die dargestellten Voraussetzungen erfüllt, so kann die zuständige
Behörde, vorliegend die Einwohnerkontrolle, die verlangte Bestätigung
nur verweigern, wenn sachliche Gründe dies gebieten. Es ist unzulässig,
das Ausstellen einer Abmeldebestätigung vom Begleichen bestehender
Steuerschulden abhängig zu machen: Steuerausstände sind auf dem gesetzlich
vorgesehenen Weg einzutreiben, selbst wenn das - wie offenbar vorliegend
der Fall - mit Schwierigkeiten verbunden sein sollte. Es geht nicht an,
dass die kantonalen und kommunalen Behörden versuchen, säumige Steuerzahler
mit zweckfremden Mitteln zum Tilgen ihrer Schulden zu zwingen. Dies umso
weniger, wenn im konkreten Fall die Niederlassungsfreiheit des Betroffenen
in Frage steht.

    c) Die Niederlassungsfreiheit gemäss Art. 24 BV gewährleistet
die Möglichkeit persönlichen Verweilens an jedem beliebigen Ort der
Schweiz; sie gebietet den Kantonen und Gemeinden, jedem Schweizerbürger
die Niederlassung auf ihrem Gebiet zu erlauben, und verbietet ihnen
gleichzeitig, die Verlegung des einmal gewählten Wohnsitzes in einen
anderen Kanton, eine andere Gemeinde oder ins Ausland zu verhindern oder
zu erschweren (BGE 108 Ia 248 E. 1 S. 249 mit Hinweisen). Zwar ist
unbestritten, dass die Beschwerdeführerin die erforderlichen Papiere
erhalten hat und die Schweiz verlassen konnte. Die Abmeldebestätigung,
welche sie von der Einwohnerkontrolle verlangt, zählt nicht zu den
Reisedokumenten im engeren Sinne. Dennoch können Auswanderungswillige für
die Wohnsitznahme im Ausland aus dem einen oder anderen Grund auf eine
entsprechende Bescheinigung angewiesen sein; sei dies, wie vorliegend, zur
Erhältlichmachung der Freizügigkeitsleistung als faktische Voraussetzung
für die Auswanderung oder sei es allenfalls als Beleg gegenüber den
Behörden am neuen Wohnort. Es fragt sich deshalb, ob die Abmeldebestätigung
als eine Art Reisedokument im weiteren Sinne zu betrachten ist, zu dessen
Ausstellung die Behörden - wie bei den Reisedokumenten im engeren Sinne
(vgl. JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern
1999, S. 156; ANDREAS AUER/GIORGIO MALINVERNI/MICHEL HOTTELIER, Droit
constitutionnel suisse, Vol. II, Bern 2000, N. 904) - bereits aufgrund
der Niederlassungs- bzw. Auswanderungsfreiheit (Art. 24 Abs. 2 BV)
verpflichtet sind. Die Ausstellung solcher Dokumente darf nur verweigert
werden, wenn dem Wegzug des Betroffenen besondere öffentlichrechtliche
Pflichten entgegenstehen (so z.B. eine Passsperre im Rahmen einer hängigen
Strafuntersuchung), nicht aber wegen ungetilgter Steuerschulden (vgl. FRITZ
FLEINER/ZACCARIA GIACOMETTI, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich
1949, S. 255 f.).

    d) Letztlich kann jedoch offen bleiben, ob Auswandernden bereits
gestützt auf Art. 24 Abs. 2 BV ein Anspruch auf Ausstellung der
Abmeldebestätigung zukommt und der angefochtene Entscheid deshalb die
Niederlassungs- bzw. Auswanderungsfreiheit der Beschwerdeführerin
verletzt: Nach dem Gesagten steht fest, dass sich die Verweigerung
der Abmeldebestätigung - die üblicherweise jedem (auf Verlangen)
ausgehändigt wird, der sich polizeilich abmeldet - nicht sachlich
begründen lässt. Obschon das Ziel der Einwohnergemeinde Olten,
Steuerausstände einzutreiben, durchaus legitim erscheint, darf es nicht
mit den gewählten Mitteln verfolgt werden. Der angefochtene Entscheid
des Regierungsrats des Kantons Solothurn, welcher das Verhalten der
Einwohnerkontrolle Olten schützt, ist unhaltbar und verstösst mithin
gegen das Willkürverbot von Art. 9 BV (vgl. BGE 123 I 1 E. 4a S. 5 mit
Hinweisen); die staatsrechtliche Beschwerde ist gutzuheissen, soweit auf
sie einzutreten ist.