Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 I 44



127 I 44

5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
12. Dezember 2000 i.S. Schmid gegen Kälin, Gemeinderat Wollerau und
Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK; "zivilrechtliche Ansprüche" von Nachbarn im Bau-
und Planungsrecht, Anspruch auf öffentliche Verhandlung.

    Nachbarn eines Gestaltungsplangebiets, die sich über die Verletzung
von Normen beschweren, welche unter anderem auch ihrem Schutz dienen,
berufen sich auf "zivilrechtliche Ansprüche" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1
EMRK (E. 2c und d). Sie haben Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung
(E. 2e).

Sachverhalt

    Am 22. Juni 1998 erliess der Gemeinderat Wollerau einen Gestaltungsplan
"Becki Ost" mit Sonderbauvorschriften für zwei im Eigentum von Josef Kälin
stehende Grundstücke in Wollerau. Zugleich wies er eine Einsprache von
Heinz und Amanda Schmid ab. Eine dagegen erhobene Verwaltungsbeschwerde
wurde vom Regierungsrat des Kantons Schwyz im Sinne der Erwägungen
gutgeheissen. Der Regierungsrat hob den angefochtenen Beschluss auf
und wies die Sache zur Reduktion des Gestaltungsplanperimeters und zur
Vornahme zusätzlicher Abklärungen an den Gemeinderat zurück.

    Am 8. November 1999 genehmigte der Gemeinderat Wollerau den geänderten
Gestaltungsplan "Becki Ost" und wies zugleich eine Einsprache von Heinz
und Amanda Schmid ab.

    Heinz und Amanda Schmid erhoben am 6. Dezember 1999 Beschwerde an
den Regierungsrat des Kantons Schwyz mit dem Antrag, den Beschluss
des Gemeinderats Wollerau aufzuheben und den Gestaltungsplan
nicht zu erlassen. Der Regierungsrat überwies die Beschwerde an das
Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz. Dieses wies das Rechtsmittel mit
Entscheid vom 14. April 2000 ab.

    Heinz und Amanda Schmid erheben staatsrechtliche Beschwerde mit dem
Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK
(SR 0.101). Das Verwaltungsgericht habe keine öffentliche Verhandlung
durchgeführt, obwohl sie auf die aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK fliessenden
Verfahrensrechte ausdrücklich nicht verzichtet hätten.

    a) Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK besteht in Verfahren über zivilrechtliche
Streitigkeiten ein Anspruch auf öffentliche Verhandlung, sofern die
Parteien nicht ausdrücklich oder stillschweigend darauf verzichten (BGE
125 II 417 E. 4f S. 426; 123 I 87 E. 2b/c S. 89; 121 I 30 E. 5f S. 37
f., und E. 6a S. 40 f.). Ein Entscheid über zivilrechtliche Ansprüche
im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK liegt unter anderem vor, wenn eine bau-
oder planungsrechtliche Massnahme direkte Auswirkungen auf die Ausübung
der Eigentumsrechte der Grundeigentümer hat (BGE 122 I 294 E. 3e S. 300;
121 I 30 E. 5c S. 34 f.).

    b) Die Beschwerdeführer machen als Nachbarn des Gestaltungsplangebiets
geltend, die Terrassenbauweise sowie die Erhöhung der Ausnützungsziffer
und der Gebäudelängen hätten zur Folge, dass z.B. der Lichteinfall auf
ihr Grundstück beeinträchtigt werde. Zudem würden die nachbarlichen
Immissionen (Lärm und Geruch) durch das verdichtete Bauen erheblich
steigen. Insbesondere kritisieren die Beschwerdeführer, dass die Einfahrt
in die geplante zentrale Tiefgarage direkt auf Höhe ihres Wohnzimmers
liegen soll, obwohl eine andere, weniger störende Anordnung der Einfahrt
problemlos möglich wäre.

    c) Nach der Strassburger Rechtsprechung ist Art. 6 EMRK bei
Drittinterventionen gegen die Erteilung einer Bau- oder sonstigen
behördlichen Genehmigung anwendbar, soweit auf das Eigentum gegründete
Abwehrrechte geltend gemacht werden (FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar,
2. Aufl., 1996, S. 187). Nicht anwendbar ist Art. 6 EMRK, wenn lediglich
die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Bestimmungen verfolgt wird
(FROWEIN/PEUKERT, aaO, S. 191). Im Urteil Ortenberg c. Österreich vom
25. November 1994, in welchem ebenfalls eine Nachbarbeschwerde gegen eine
Terrassenhausüberbauung zur Diskussion stand, führte der Strassburger
Gerichtshof aus, die Beschwerdeführerin stütze sich zwar auf öffentliches
Recht; indem sie dies tue, wünsche sie trotzdem, die Verletzung ihrer
Vermögensrechte zu verhindern, weil sie befürchte, dass die Arbeiten auf
der benachbarten Liegenschaft die Achtung ihres Eigentums gefährdeten
und dessen Marktwert verringerten. Ziehe man den engen Bezug zwischen
dem von Frau Ortenberg angestrengten Verfahren und den Auswirkungen
des Ausgangs dieses Verfahrens für ihre Besitzrechte in Betracht, dann
sei das in Rede stehende Recht ein "ziviles". Art. 6 Ziff. 1 EMRK fand
demgemäss Anwendung (Ziff. 28 des genannten Urteils, Serie A Nr. 295-B).
Entscheidend war dabei, dass das anwendbare österreichische Recht dem
Nachbarn die Möglichkeit gab, im Baubewilligungsverfahren die Verletzung
subjektiver Rechte geltend zu machen. Hingegen führt noch nicht jede
rein faktische oder erst potenzielle Beeinträchtigung in der Ausübung von
Rechten zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK (BGE 125 I 7 E. 4a S. 13). So
erachtete der Strassburger Gerichtshof am 26. August 1997 in seinem Urteil
i.S. Balmer-Schafroth etc. c. Schweiz Art. 6 EMRK als nicht anwendbar,
da die Gefahr der Beeinträchtigung der Rechte der Beschwerdeführer durch
das Kernkraftwerk Mühleberg nicht sehr wahrscheinlich war und damit der
erforderliche nahe Bezug der befürchteten gesundheitlichen Beeinträchtigung
zu den Betriebsbedingungen des Kraftwerks fehlte (VPB 61/1997 Nr. 103
Ziff. 40).

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 88 OG ist
ein Nachbar zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert, wenn er die
Verletzung von Normen geltend macht, die auch seinem Schutz dienen, weil
er insoweit in seinen eigenen Nutzungsbefugnissen beschränkt wird (BGE
119 Ia 362 E. 1b S. 364 f.). Diese Normen umschreiben - nebst anderen -
den Umfang der Nutzungsrechte des Nachbarn. Soweit solche Normen verletzt
werden, ist der Nachbar in seinen "civil rights" im Sinne von Art. 6
Ziff. 1 EMRK berührt und kann sich auf diese Bestimmung berufen.

    d) Vorliegend steht ein Gestaltungsplan zur Diskussion, der die
künftige Bebauung des Nachbargrundstücks der Beschwerdeführer detailliert
festlegt (Gebäudevolumen, Bauabstände, zentrale Parkierungsanlage, Lage
der Einfahrt etc.). Die Beschwerdeführer verlangen nicht lediglich die
Einhaltung rein öffentlich-rechtlicher Bestimmungen auf dem Baugrundstück,
sondern berufen sich zumindest teilweise auf Normen, die auch ihrem
Schutz dienen (Baudichte, Bauabstände, Immissionen). Das Bundesgericht
hat in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass Bestimmungen über den
Immissionsschutz, die Ausnützungsziffern und die zulässigen Baumasse
und -abstände auch dem Schutz der Nachbarn dienen. Die damit geschützten
rechtlichen Interessen der Nachbarn bilden auch die Grundlage für deren
Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen Baubewilligungen
und Planerlasse (Art. 88 OG; BGE 125 II 440 E. 1c S. 443; 119 Ia 362
E. 1b S. 364 f.; 118 Ia 112 E. 2a S. 116; 115 Ib 456 E. 1e S. 461 f.;
s. auch Kasuistik bei WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen
Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994, S. 249 f.; PIERRE MOOR, RPG-Kommentar,
Art. 14 Rz. 18).

    Die Liegenschaft der Beschwerdeführer grenzt unmittelbar an den
Perimeter des umstrittenen Gestaltungsplans. Die darin vorgesehene
Überbauung ist geeignet, direkte Auswirkungen auf die Vermögens- und
Eigentumsrechte der Beschwerdeführer zu entfalten, da der Gestaltungsplan
in Bezug auf nachbarschützende Bestimmungen verschiedene Abweichungen
von der für dieses Gebiet bisher geltenden Normalbauweise und damit
eine intensivere Nutzung des Plangebiets zulässt. Die Beschwerdeführer
können den Inhalt des Gestaltungsplans nach dessen rechtskräftiger
Genehmigung grundsätzlich nicht mehr in Frage stellen. Der Rechtsschutz
gegen den Gestaltungsplan wird auch gegenüber den Nachbarn im Zeitpunkt
des Planerlasses und nicht bei seiner Anwendung gewährt (Art. 33 RPG; §
30 Abs. 3 PBG; vgl. BGE 120 Ia 227 E. 2c S. 232, mit Hinweisen; THIERRY
TANQUEREL, RPG-Kommentar, Art. 21 Rz. 26; HEINZ AEMISEGGER/STEPHAN HAAG,
RPG-Kommentar, Art. 33 Rz. 63 ff.). Es liegt somit eine Streitigkeit
über zivilrechtliche Ansprüche im Sinne der Strassburger Rechtsprechung zu
Art. 6 Ziff. 1 EMRK vor (Urteil Ortenberg c. Österreich vom 25. November
1994, Ziff. 28, Serie A Nr. 295-B; s. auch RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK und
kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 150 f. und S. 46).

    e) Die Bestimmung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK räumt jedermann einen
Anspruch darauf ein, dass seine zivil- oder strafrechtliche Angelegenheit
von einem Gericht öffentlich gehört werde. Dieser Öffentlichkeitsgrundsatz
stellt ein fundamentales Prinzip dar, bedeutet eine Absage an jegliche
Form der Kabinettsjustiz und soll dem Betroffenen wie der Allgemeinheit
ermöglichen, Prozesse unmittelbar zu verfolgen und Kenntnis davon zu
erhalten, wie das Recht verwaltet und die Rechtspflege ausgeführt wird
(vgl. BGE 119 Ia 99 S. 104; 122 V 47 S. 51 mit Hinweisen).

    aa) Die Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Strassburger
Organe anerkennt, dass auf die Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung verzichtet werden kann. Der Verzicht muss - ausdrücklich
oder stillschweigend erfolgt - eindeutig und unmissverständlich sein. Ein
Verzicht wird insbesondere angenommen, wenn kein Antrag auf Durchführung
einer öffentlichen Verhandlung gestellt wird, obwohl das Gericht in der
Regel nicht öffentlich verhandelt (vgl. BGE 122 V 47 E. 2d S. 52 mit
zahlreichen Hinweisen).

    bb) Die Beschwerdeführer haben im kantonalen Verfahren ausdrücklich
erklärt, dass sie nicht auf die aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK fliessenden
Verfahrensrechte verzichteten. Das Verwaltungsgericht führt im
bundesgerichtlichen Verfahren aus, die Äusserung der Beschwerdeführer habe
keinen konkreten Antrag auf Durchführung einer mündlichen öffentlichen
Verhandlung enthalten, weshalb eine solche habe unterbleiben dürfen,
zumal die kantonale Verordnung über die Rechtspflege keine mündliche
Verhandlung vorschreibe.

    Dieser Sichtweise des Verwaltungsgerichts kann nicht gefolgt
werden. Auch wenn die Äusserung der Beschwerdeführer keinen konkreten
Antrag auf öffentliche Anhörung enthielt, kann daraus jedenfalls nicht
geschlossen werden, auf die Durchführung einer öffentlichen Anhörung
sei eindeutig und unmissverständlich im Sinne der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung verzichtet worden. Das Verwaltungsgericht hätte bei Zweifeln
über den Antrag nachfragen können und müssen, ob die Beschwerdeführer eine
öffentliche Verhandlung wünschten. Unter den gegebenen Umständen lässt
sich das Absehen von einer öffentlichen Verhandlung mit der Garantie
von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht vereinbaren. Die Beschwerde erweist sich
daher als begründet. Sie ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben (vgl. BGE 121 I 30 E. 5j S. 40).