Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 I 31



127 I 31

3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
30. August 2000 i.S. W. und Mitb. gegen K. und Mitb., Gemeinderat
Untersiggenthal, Baudepartement und Verwaltungsgericht des Kantons Aargau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 9 und 29 Abs. 1 BV; überspitzter Formalismus, Recht auf
Vertrauensschutz; Berechnung von Rechtsmittelfristen; Zustellfiktion
sieben Tage nach erfolglosem Zustellungsversuch durch die Post.

    Die Rechtsmittelfrist beginnt sieben Tage nach dem erfolglosen
Zustellungsversuch. Es ist nicht überspitzt formalistisch, diesen Grundsatz
auch dann anzuwenden, wenn die Post von sich aus eine längere Abholfrist
gewährt und die Sendung erst am letzten Tag dieser Frist abgeholt wird (E.
2b). Keine Verletzung des Anspruchs auf Vertrauensschutz im vorliegenden
Fall (E. 3b).

Sachverhalt

    Vom 13. Juni bis zum 3. Juli 1997 legte der Gemeinderat Untersiggenthal
ein Baugesuch von K. und der Firma I. öffentlich auf. Gegen das Vorhaben
erhoben unter anderem R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. Einsprache. Diese
wies der Gemeinderat am 9. Februar 1998 ab, soweit die darin erhobenen
Forderungen nicht durch eine angeordnete Projektüberarbeitung erfüllt
waren. Dieser am 12. Februar 1998 der Post übergebene Beschluss konnte
dem seinerzeitigen Rechtsanwalt der genannten Einsprecher vorerst nicht
zugestellt werden. Deshalb legte der Postbote eine Abholeinladung in
den Briefkasten des Anwalts, mit welcher dieser aufgefordert wurde,
den eingeschriebenen Brief vom 14. bis zum 23. Februar 1998 bei der
Hauptpost von Baden abzuholen. Dieser Aufforderung kam der Anwalt am
23. Februar 1998 nach und führte gegen den Beschluss des Gemeinderats am
16. März 1998 (einem Montag) Verwaltungsbeschwerde an das Baudepartement
des Kantons Aargau.

    Am 19. März 1999 entschied das Baudepartement, auf diese Beschwerde
einzutreten. Es erwog, dass die Beschwerde zwar zu spät eingereicht worden
sei, weil der am 13. Februar 1998 avisierte und ab 14. Februar 1998 auf der
Post abholbereite Brief der Gemeinde am letzten Tag der siebentägigen in
den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post vorgesehenen Frist, also am
20. Februar 1998 als zugestellt gegolten habe. Die Beschwerdefrist von 20
Tagen habe somit am 21. Februar 1998 begonnen und am 12. März 1998 geendet,
womit die Beschwerde vom 16. März 1998 verspätet gewesen sei. Es erscheine
jedoch auf Grund des verfassungsmässigen Anspruchs auf Vertrauensschutz
gerechtfertigt, die verpasste Frist wiederherzustellen. Der Anwalt habe
auf die längere, vom Postboten festgelegte Abholfrist vertrauen dürfen,
und diese sei angesichts einer Abweichung von nur zwei bis drei Tagen
nicht offensichtlich falsch gewesen. Nachdem es aus diesen Gründen auf die
Beschwerde eintrat, wies das Baudepartement diese ab, stellte jedoch fest,
dass die Ausnützungsziffer mit dem Bauprojekt überschritten werde.

    Gegen den Entscheid des Baudepartements vom 19. März 1999 führten
sowohl K. und die Firma I. als auch R.W. und B.W. sowie H.Y. und
U.Y. kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Im Rahmen der Instruktion
dieser Beschwerden nahm die Post zur Frage der Frist zum Abholen der
Baubewilligung Stellung. Dem Postboten seien keinerlei Gründe für
eine Verlängerung der Abholfrist auf 10 Tage bekannt. Es müsse sich
um ein Versehen bei deren Berechnung handeln. Dem Postboten sei auch
nicht bekannt, dass der Anwalt damals um eine Fristverlängerung gebeten
hätte. Mit Urteil vom 2. März 2000 beschränkte sich das Verwaltungsgericht
auf einen Teilentscheid, in erster Linie zur Frage der Rechtzeitigkeit der
Beschwerde an das Baudepartement vom 16. März 1998. Es erwog, dass diese
Beschwerde nicht rechtzeitig gewesen sei. Ein Wiederherstellungsgesuch
sei nicht rechtzeitig gestellt worden und wäre abzulehnen gewesen,
weil den damaligen Vertreter ein Verschulden am Verpassen der Frist
getroffen habe. Daher hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde von
K. und der Firma I. gut, hob den Entscheid des Baudepartements auf und
ersetzte ihn durch den Entscheid, auf die Beschwerde von R.W. und B.W.
sowie H.Y. und U.Y. gegen die Baubewilligung nicht einzutreten.

    R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. führen gegen den Teilentscheid
des Verwaltungsgerichts staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag,
diesen aufzuheben. Sie rügen, es sei überspitzt formalistisch, die
Rechtsmittelfrist nicht vom letzten auf der Abholeinladung angezeigten Tag
der Abholfrist an laufen zu lassen und vom Anwalt zu verlangen, dass er
die Berechnung der Abholfrist durch die Post auf ihre Übereinstimmung mit
den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post überprüfe. Jedenfalls ergebe
sich aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf Vertrauensschutz, dass sich
der Anwalt auf die auf der Abholeinladung angegebene Frist verlassen dürfe.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer kritisieren zunächst die Annahme
des Verwaltungsgerichts, wonach die Rechtsmittelfrist gegen den
gemeinderätlichen Entscheid am siebten Tag der ihrem damaligen Anwalt
gesetzten Abholfrist zu laufen begonnen habe und nicht erst am Ende
der von der Post gesetzten Abholfrist. Sie rügen, dies sei überspitzt
formalistisch.

    a) aa) Die Grundsätze, nach denen eine eingeschriebene Sendung als
zugestellt gilt, wenn das kantonale Recht diese Frage - wie im Kanton
Aargau - nicht regelt, werden von den Beschwerdeführern grundsätzlich
anerkannt und richtig wiedergegeben. Wird der Adressat anlässlich einer
versuchten Zustellung nicht angetroffen und daher eine Abholeinladung
in seinen Briefkasten oder sein Postfach gelegt, so gilt nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Sendung in jenem Zeitpunkt
als zugestellt, in welchem sie auf der Post abgeholt wird; geschieht
das nicht innert der Abholfrist, die sieben Tage beträgt, so gilt die
Sendung als am letzten Tag dieser Frist zugestellt, sofern der Adressat
mit der Zustellung hatte rechnen müssen (BGE 123 III 492 E. 1 S. 493;
119 V 89 E. 4b S. 94 mit Hinweisen). Die siebentägige Frist war früher
in Art. 169 Abs. 1 lit. d und e der Verordnung 1 vom 1. September 1967
zum Postverkehrsgesetz (AS 1967 S. 1462) vorgesehen. Diese Verordnung
ist mit Art. 13 lit. a der Postverordnung vom 29. Oktober 1997 (VPG;
SR 783.01) aufgehoben worden. Die siebentägige Frist ist jetzt als
Grundsatz, von dem abweichende Abmachungen zulässig sind, in den
Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post vorgesehen und damit allgemein
bekannt. Sie bleibt nach der Rechtsprechung auf die Frage, wann eine
Sendung als zugestellt gilt, anwendbar (vgl. unveröffentlichter Entscheid
des Bundesgerichts vom 5. Mai 1998 i.S. F. E. 1a). Die für den vorliegenden
Fall entscheidende Frage, wann die Zustellung als erfolgt gilt, wenn der
Postbote eine andere als die siebentägige Frist auf die Abholeinladung
schreibt, wurde bisher soweit ersichtlich noch nicht entschieden.

    bb) Das aus Art. 29 Abs. 1 BV (früher aus Art. 4 aBV) fliessende
Verbot des überspitzten Formalismus wendet sich gegen prozessuale
Formenstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges
Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die
Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert
oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine solche
Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 125 I 166 E. 3a S. 170 mit Hinweisen).

    b) Die von der Praxis festgelegte Zustellfiktion betrifft Fälle,
in denen eine Sendung innerhalb der siebentägigen Abholfrist nicht
abgeholt wurde. Die Zustellfiktion betrifft nicht die von der Post
eigentlich durch die genannte Frist geregelte Frage, wie lange eine
Sendung abgeholt werden kann, sondern orientiert sich an dieser Regel,
um eine andere Frage zu beantworten. Die Frist bis zum Eintreten
der Zustellfiktion wird nicht verlängert, wenn ein Abholen nach den
anwendbaren Bestimmungen der Post auch noch länger möglich ist, etwa
in Folge eines Zurückbehaltungsauftrags (BGE 123 III 492 E. 1 S. 493
mit Hinweis). Auch andere Abmachungen mit der Post können den Eintritt
der Zustellfiktion nicht hinausschieben. Bisher wurden zwar nur Fälle
entschieden, in denen der Postkunde für die Verlängerung der Abholfrist
verantwortlich war, während im vorliegenden Fall die Post spontan die
Abholfrist verlängerte. Es ist jedoch nicht überspitzt formalistisch,
auch im letzteren Fall die Zustellfiktion unabhängig von der postalischen
Abholfrist eintreten zu lassen. Die beiden Fristen dienen, obwohl
die eine historisch auf die andere zurückgeht und regelmässig mit ihr
übereinstimmt, wie eingangs erwähnt verschiedenen Zwecken. Für die
Festlegung des Zeitpunkts der Zustellfiktion ist eine klare, einfache und
vor allem einheitliche Regelung notwendig (BGE 123 III 492 E. 1 S. 493
f. mit Hinweis). Dies ist auch für die verfügenden Behörden, allfällige
Gegenparteien und die Rechtsmittelbehörden wichtig. Gerade weil die Post
heute unternehmerische Freiheit geniesst und ihre Mitarbeiter nicht mehr
wie Beamte direkt an die Grundsätze staatlichen Handelns gebunden sind,
darf sich der Eintritt der Zustellfiktion nicht an kundenfreundlichen
oder irrtümlichen Anpassungen der Abholfrist im Einzelfall orientieren. In
diesem Umfeld ist es nicht überspitzt formalistisch, die Zustellfiktion -
unabhängig von der konkreten durch die Post gewährten Abholfrist - immer
sieben Tage nach dem erfolglosen Zustellversuch eintreten zu lassen. Dies
muss auch dann gelten, wenn der letzte Tag der siebentägigen Frist
auf einen Samstag oder einen anerkannten Feiertag fällt. Am siebten Tag
endet normalerweise die Abholfrist; auf Grund der Zustellfiktion markiert
dieser Tag zugleich den Beginn der Rechtsmittelfrist; für deren Berechnung
spielt es keine Rolle, ob sie an einem Werktag oder an einem Samstag bzw.
einem anerkannten Feiertag beginnt (vgl. im Übrigen zur Berechnung
und Einhaltung von Fristen ganz allgemein Art. 32 OG). Der Zeitpunkt
der Zustellfiktion ist auch immer erkennbar, da die sieben Tage mit dem
erfolglosen Zustellversuch beginnen, dessen Datum auf der Abholeinladung
erscheint (vgl. dazu im vorliegenden Fall immerhin hinten E. 3b/cc).

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführer rügen weiter, es verstosse gegen das
verfassungsmässige Gebot des Vertrauensschutzes, die Zustellfiktion
nach sieben Tagen eintreten zu lassen, wenn die Post von sich aus eine
längere Abholfrist gewähre. Dies insbesondere, wenn diese Abholfrist
nicht offensichtlich zu lange sei.

    a) Das in Art. 9 BV verankerte Recht auf Vertrauensschutz bewirkt unter
anderem, dass eine (selbst unrichtige) Zusicherung einer Behörde unter
bestimmten Umständen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des
Rechtsuchenden gebietet. Zu den Voraussetzungen dafür gehört unter anderem:
      (1) dass die Amtsstelle für die Erteilung der Zusicherung zuständig

    war oder der Bürger sie aus zureichenden Gründen als zuständig
betrachten

    durfte und (2) dass die anfragende Person die Unrichtigkeit bei

    pflichtgemässer Aufmerksamkeit nicht ohne weiteres erkennen konnte
(vgl.

    BGE 121 II 473 E. 2c S. 479; 118 Ia 245 E. 4b S. 254, je mit

    Hinweisen).  b) aa) Wenn die Behörden die Post für die Zustellung von
Entscheiden benutzen, müssen sie sich Zusicherungen eines Abholeinladungen
ausfüllenden Mitarbeiters der Post zurechnen lassen, soweit dieser
Zusicherungen zur Abholfrist gibt. Ob es im vorliegenden Fall für einen
Anwalt ohne weiteres erkennbar war, dass die Abholfrist gegenüber der
in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post vorgesehenen verlängert
worden war, braucht in diesem Zusammenhang nicht entschieden zu werden,
weil die Zusicherung, die Sendung bis zum 23. Februar 1998 abholen zu
können, eingehalten wurde. Da jedoch (wie vorne in E. 2b erwogen) die
Frage, wann die Zustellfiktion eintritt, unabhängig von derjenigen zu
beantworten ist, bis wann die Sendung abgeholt werden kann, fehlt es in
der hier entscheidenden Frage schon an einer Zusicherung der Post. Im
Übrigen ist der Mitarbeiter der Post auch nicht zur Zusicherung von
Rechtsmittelfristen zuständig.

    bb) Es fragt sich noch, ob im vorliegenden Fall das Auseinanderklaffen
des Datums der Zustellfiktion einerseits und des letzten Tages der
Abholfrist andererseits für den Empfänger tatsächlich erkennbar
war. Wenn nicht, müssten die Behörden auch das durch eine von der
Post festgelegte Abholfrist hervorgerufene Vertrauen in ein späteres
Datum der Zustellfiktion schützen. Das Auseinanderklaffen war hier
jedoch erkennbar. Zumindest der Beginn der Abholmöglichkeit war auf
der Abholeinladung klar angegeben. Von einem Anwalt kann angesichts der
Jahrzehnte alten diesbezüglichen Praxis (vgl. schon BGE 97 III 7 E. 1
S. 10) erwartet werden, dass er weiss, dass die Zustellfiktion nach einer
siebentägigen Frist eintritt. Es ist auch ohne weiteres erkennbar und zu
berechnen, wie lange eine siebentägige Frist dauert.

    cc) Gegen Letzteres könnte im vorliegenden Fall immerhin eingewandt
werden, das Datum des erfolglosen, die Frist auslösenden Zustellversuchs
sei nicht klar aus der Abholeinladung hervorgegangen. Die auf dieser vom
Postboten unter der Rubrik "Datum der Vorweisung" gemachte Eintragung
kann als "18.2.98" gelesen werden. In der Beschwerde wird dies beiläufig
erwähnt. Es ist jedoch fraglich, ob die Beschwerdeführer damit behaupten,
sie hätten auf den 18. Februar 1998 als Datum des die siebentägige Frist
auslösenden Zustellversuchs vertraut. Selbst wenn diese Rüge vorgebracht
und in der von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG geforderten Weise substanziiert
worden wäre, könnte sie jedenfalls nicht zu einer Gutheissung der
Beschwerde gestützt auf den Vertrauensschutz führen.

    Für die Bestimmung des Datums des Zustellversuchs muss auf die
Angaben auf der Abholeinladung abgestellt werden. Die Beschwerdeführer
haben jedoch im kantonalen Verfahren anerkannt, dass der Zustellversuch
am 13. Februar 1998 erfolgte. Sie führen auch in ihrer staatsrechtlichen
Beschwerde aus, der Postbote hätte die siebentägige Frist "mit dem
Tag der erfolglosen Zustellung, also dem 13. Februar" beginnen lassen
müssen. Ausserdem bezeichnet die Abholeinladung eindeutig den 14. Februar
1998 als Beginn der Abholmöglichkeit. Diese kann bestimmungsgemäss nicht
vor dem erfolglosen Zustellversuch beginnen. Die kantonale Beschwerde wäre
daher verspätet gewesen, auch wenn man wegen der unklaren Angaben über das
Datum des Zustellversuchs zu Gunsten der Beschwerdeführer davon ausgehen
würde, der die Frist auslösende Zustellversuch sei erst am 14. Februar
1998 erfolgt. Die siebentägige Frist hätte diesfalls am 21. Februar 1998
und die 20-tägige Rechtsmittelfrist am 13. März 1998 geendet (vgl. Art. 32
Abs. 1 OG). Die Beschwerdeführer haben ihre Verwaltungsbeschwerde an das
Baudepartement jedoch erst am 16. März 1998 der Post übergeben, also in
jedem Fall zu spät eingereicht.

    dd) Aus dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz ergibt sich somit
nicht, dass die Beschwerde gegen die gemeinderätliche Baubewilligung als
rechtzeitig erhoben angesehen werden musste.