Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 I 196



127 I 196

21. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
19. September 2001 i.S. X. gegen Untersuchungsrichter des Kantons Freiburg,
C., Präsident des Untersuchungsrichteramtes des Kantons Freiburg und
Kantonsgericht Freiburg, Strafkammer (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

    Art. 29 Abs. 1 BV. Anspruch auf einen unabhängigen und unbefangenen
Untersuchungsrichter.

    Die Unabhängigkeit eines Untersuchungsrichters, der seine
Strafuntersuchungs- und Anklagefunktion wahrnimmt, beurteilt sich nicht
nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, sondern nach Art. 29
Abs. 1 BV. Gehalt von Art. 29 Abs. 1 BV in diesem Zusammenhang (E. 2b).

    Rechtsprechung über die Ausstandspflicht von Untersuchungsrichtern
wegen vorverurteilender Äusserungen im Strafuntersuchungsverfahren (E. 2d
und e).

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1991 wurde gegen X. im Kanton Freiburg eine Untersuchung
wegen in Umlaufsetzens von Falschgeld eröffnet. Im Jahre 1992 eröffneten
die Behörden des Kantons Zürich gegen ihn eine Untersuchung wegen Betruges.
Am 19. Oktober 1992 wurde diese Untersuchung an den Kanton Freiburg
abgetreten und fortan von Untersuchungsrichter C. geführt.

    Anlässlich der Einvernahme vom 23. Oktober 2000 soll
Untersuchungsrichter C. zu X. gesagt haben: "Sie waren immer gut, nicht
nur als Betrüger, sondern auch als Zahntechniker".

    B.- X. stellte deshalb am 10. November 2000 beim Präsidenten des
Untersuchungsrichteramtes des Kantons Freiburg ein Ausstandsgesuch gegen
C. Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, er habe von Beginn weg ein
Misstrauen gegenüber Untersuchungsrichter C. empfunden. Dieses sei mit der
erwähnten Äusserung durch Fakten erhärtet worden. Der Untersuchungsrichter
sei offensichtlich überzeugt, dass er ein Betrüger sei, und tue dies auch
kund. Indessen hätten betreffend verschiedener Tatbestandsmerkmale des
Betrugs noch keine Instruktionen stattgefunden; die angeblich geschädigten
Personen seien vom Untersuchungsrichter nicht einvernommen worden, und
Belege, welche die Übergabe des (angeblich ertrogenen) Geldes beträfen,
lägen keine vor.

    Der Untersuchungsrichter räumte in seiner Stellungnahme vom
30. November 2000 zum Ausstandsgesuch ein, X. bei der Einvernahme zu den
persönlichen Verhältnissen darauf angesprochen zu haben, dass er nebst
seiner offenbar deliktischen Tätigkeit auch als erfolgreicher Zahntechniker
tätig gewesen sei. Im Verlauf der Ermittlungen sei er zur Überzeugung
gelangt, dass X. sich des Betruges schuldig gemacht habe; dies bedeute
jedoch in keiner Weise, dass er in dieser Angelegenheit befangen sei.

    Am 26. April 2001 wies der Präsident des Untersuchungsrichteramtes
das Ausstandsgesuch ab.

    Hiergegen erhob X. erfolglos Beschwerde bei der Strafkammer des
Kantonsgerichts Freiburg, die das Rechtsmittel mit Entscheid vom 18. Juni
2001 abwies.

    C.- X. führt gegen den Entscheid der Strafkammer mit Eingabe vom
23. Juli 2001 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Anspruchs
auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer rügt, die Strafkammer habe zu Unrecht
verneint, dass Untersuchungsrichter C. befangen und daher

zum Ausstand verpflichtet sei. Der Untersuchungsrichter habe die von den
Zürcher Behörden hinsichtlich des Betrugsvorwurfs geführte Untersuchung in
einem Schreiben vom 31. Oktober 1997 an seinen Verteidiger als mangelhaft
bezeichnet. Dessen ungeachtet habe er nichts unternommen, um die Mängel
zu beheben. Er habe lediglich ihn, den Beschwerdeführer, und seinen
angeblichen Komplizen (im Folgenden nur als "Komplize" bezeichnet), der
geständig sei und ihn belaste, einvernommen. Trotzdem habe er aber erklärt,
dass er, der Beschwerdeführer, gut im Betrügen sei. Diese Äusserung
lasse objektiv Zweifel an der Unbefangenheit des Untersuchungsrichters
aufkommen. Der Entscheid der Strafkammer verletze daher Art. 30 BV.

    b) Nach der materiell unverändert von Art. 58 aBV in Art. 30 Abs. 1
BV überführten, ebenfalls in Art. 6 Ziff. 1 EMRK (SR 0.101) enthaltenen
Garantie des verfassungsmässigen Richters hat der Einzelne Anspruch
darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen
und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden
wird. Liegen bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die
den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu
begründen vermögen, so ist die Garantie verletzt (BGE 126 I 68 E. 3a S. 73;
125 I 119 E. 3a; 120 Ia 184 E. 2b).

    Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK sind bei der Ablehnung eines
Untersuchungsrichters oder eines Vertreters der Staatsanwaltschaft nur
anwendbar, wenn diese ausnahmsweise in richterlicher Funktion tätig werden
und die Rolle eines eigentlichen Richters einnehmen. Nehmen sie jedoch,
wie hier, ihre Funktion als Strafuntersuchungs- oder Anklagebehörde wahr,
ist die Ausstandspflicht ausschliesslich aufgrund von Art. 29 Abs. 1 BV
zu beurteilen (vgl. zu Art. 4 aBV: BGE 124 I 76; 119 Ia 13 E. 3a; 118 Ia
95 E. 3b; 112 Ia 142 E. 2a und b S. 144 ff.).

    Wohl darf der Gehalt von Art. 30 Abs. 1 BV nicht unbesehen auf
nicht richterliche Behörden bzw. auf Art. 29 Abs. 1 BV übertragen
werden (vgl. BGE 125 I 119 E. 3 S. 122 ff., insbesondere E. 3e [zu
Art. 58 aBV]; Urteil des Bundesgerichts vom 19. Mai 1998 i.S. B., in:
ZBl 100/1999 S. 74 ff., E. 2b). Hinsichtlich der Unparteilichkeit des
Untersuchungsrichters im Sinne von Unabhängigkeit und Unbefangenheit
kommt Art. 29 Abs. 1 BV allerdings ein mit Art. 30 Abs. 1 BV weitgehend
übereinstimmender Gehalt zu. Ebenso wie ein Staatsanwalt kann auch ein
Untersuchungsrichter abgelehnt werden, wenn Umstände vorliegen, welche
nach objektiven Gesichtspunkten

geeignet sind, den Anschein der Befangenheit zu erwecken (BGE 112 Ia 142
E. 2d S. 147; HAUSER/SCHWERI, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3. Aufl.,
Zürich 1997, § 30 Rz. 4a; REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit,
Bern 2001, S. 82).

    c) Die Strafkammer erwog, aufgrund der detaillierten und über
Jahre hinweg nur unwesentlich voneinander abweichenden und glaubhaft
wirkenden Ausführungen des Komplizen des Beschwerdeführers habe der
Untersuchungsrichter zumindest für zwei Fälle, die sich in Zürich
ereigneten, von der Täterschaft des Beschwerdeführers ausgehen können. Die
in diesen Fällen angeblich geschädigten Personen seien zwar nicht
vom Untersuchungsrichter persönlich, jedoch, nebst Auskunftspersonen,
von der Zürcher Polizei einvernommen worden. Die gerügte Bemerkung
des Untersuchungsrichters müsse als unbedacht und unnötig bezeichnet
werden. Aufgrund des jetzigen Standes des Verfahrens habe er jedoch davon
ausgehen dürfen, dass die Tatbestandsmerkmale des Betrugs erfüllt seien,
und somit der dem Beschwerdeführer vorgeworfene Sachverhalt als Betrug zu
qualifizieren sei. Dies umso mehr als die Untersuchung vor ihrem Abschluss
stehe. Es lägen keine Anhaltspunkte vor, dass es dem Untersuchungsrichter
vorliegend an der notwendigen Offenheit fehlen würde, die Beurteilung des
Prozessstoffes im weiteren Verlauf des Verfahrens allenfalls zu überprüfen
und bei Vorliegen neuer Tatsachen und Argumente zu revidieren.

    d) Im Interesse einer beförderlichen Rechtspflege ist im Zusammenhang
mit Ausstandsbegehren gegen Justizbeamte eine Befangenheit nicht leichthin
anzunehmen. Gerade in Fällen mit komplexem Sachverhalt und zahlreichen
Geschädigten kann die Gutheissung eines Ausstandsbegehrens zu einer
Verlängerung des Verfahrens führen, welche in ein Spannungsverhältnis zum
Beschleunigungsgebot tritt. Wie das Bundesgericht (noch zu Art. 58 aBV)
festgehalten hat, wäre aber - angesichts der Bedeutung des Anspruchs
auf einen unparteiischen und unabhängigen Richter - eine allzu
restriktive Auslegung und Anwendung der entsprechenden Garantien nicht
zu vertreten (BGE 114 Ia 153 E. 3 S. 155). Ähnliches muss auch für den
Untersuchungsrichter gelten: Der Untersuchungsrichter hat den belastenden
und den entlastenden Umständen mit gleicher Sorgfalt nachzugehen und
ist dabei zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet. Er hat
auch nach Vornahme der Untersuchungshandlungen völlig unabhängig und
unparteiisch zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Anklageerhebung
gegeben sind (vgl. BGE 112 Ia 142 E. 2b S. 145;

HAUSER/SCHWERI, aaO, § 30 Rz. 4a; für die Strafverfolgung im Kanton
Freiburg: Art. 3 i.V.m. Art. 11 der Strafprozessordnung des Kantons
Freiburg vom 14. November 1996 [StPO/FR]). Er darf sich vor Abschluss der
Untersuchung grundsätzlich nicht darauf festlegen, dass dem Angeschuldigten
ein strafbares Verhalten zur Last zu legen sei. Entsprechend hat er sich
vorverurteilender Äusserungen zu enthalten (vgl. Urteil 1P.766/2000 des
Bundesgerichts vom 18. Mai 2001, E. 9 und 10).

    In Fällen mit grosser Publizität kann sich in jedem
Untersuchungsstadium die Situation ergeben, dass der Untersuchungsrichter
bereits vor Abschluss des Verfahrens in rechtlicher oder tatsächlicher
Hinsicht zum Gegenstand der Untersuchung Stellung nimmt und dabei
unter Umständen auch seine persönliche - aufgrund des jeweiligen
Verfahrensstandes vorläufig gebildete - Meinung offen legt. Dabei darf und
muss, sofern nicht besondere, anders lautende Anzeichen vorhanden sind,
vorausgesetzt werden, dass der Untersuchungsrichter in der Lage ist, seine
Beurteilung des Prozessstoffes im Verlaufe des Verfahrens entsprechend dem
jeweils neuesten Stand des Verfahrens ständig neu zu überprüfen und bei
Vorliegen neuer Tatsachen und Argumente auch zu revidieren. Eine solche,
jeder untersuchungsrichterlichen Tätigkeit innewohnende - vorläufige -
Verarbeitung und Wertung des im betreffenden Verfahrensstadium vorhandenen
Prozessstoffes vermag grundsätzlich keine Vorverurteilung oder Befangenheit
zu begründen (Urteil 8G.36/2000 des Bundesgerichts vom 25. September 2000,
E. 3c).

    Ebenso vermögen ungeschickte Äusserungen eines Untersuchungsrichters
gegenüber der Presse über den Ausgang einer durch den Beschuldigten
gegen seine Anordnungen erhobene Beschwerde keine Befangenheit des
Untersuchungsrichters zu begründen, wenn sich diese nicht gegen
die Person des Beschuldigten richten und sofern es sich nicht um
eine schwere Verfehlung handelt. Auch scherzhafte Äusserungen des
(Untersuchungs-)Richters genügen in der Regel nicht, einen Verdacht der
Parteilichkeit zu begründen, selbst wenn sie deplaziert sind und vom
Betroffenen als negativ empfunden werden mögen (BGE 116 Ia 14 E. 6;
Urteil des Bundesgerichts vom 26. Juni 1996 i.S. U., in: ZBl 98/1997
S. 515 ff., E. 4c).

    Eine gewisse Gefahr der Befangenheit besteht insbesondere, wenn der
Beschuldigte nicht geständig ist bzw. ein abgelegtes Geständnis widerruft
sowie bei lang dauernden Strafuntersuchungen; in diesen Fällen sind
deshalb an die Ablehnbarkeit keine hohen Anforderungen zu stellen und
ein Ausstandsgrund anzunehmen, wenn objektive

Anzeichen für eine Voreingenommenheit des Untersuchungsrichters bestehen
(vgl. BGE 104 Ia 271 E. 3a; Urteil 8G.36/2000 des Bundesgerichts vom
25. September 2000, E. 3c; HAUSER/SCHWERI, aaO, § 30 Rz. 4a).

    Anlass zu Zweifeln an der Unbefangenheit eines Untersuchungsrichters
besteht beispielsweise dort, wo sich aus seinen Äusserungen ergibt,
dass er das Verhalten des Angeschuldigten im Verfahren voreilig
als Betrug qualifiziert hat oder wo er ohne besonderen Anlass über
den Untersuchungsgegenstand hinausgehende Verdächtigungen gegen den
Angeschuldigten geäussert hat (Urteil 1P.766/2000 des Bundesgerichts vom
18. Mai 2001, E. 8 und 9). Die Befangenheit des Untersuchungsrichters hat
das Bundesgericht sodann in einem Fall bejaht, in dem dieser bestimmte
Beweismittel ohne besonderen Anlass gegenüber Dritten und gegenüber der
Öffentlichkeit gewürdigt, sich auf eine Diskussion darüber eingelassen
und den Angeschuldigten dabei indirekt der Lüge bezichtigt hatte, was
tendenziell auf eine Vorverurteilung hinauslief (Urteil 8G.36/2000 des
Bundesgerichts vom 25. September 2000, E. 4b). Auch gegen die Person einer
Verfahrenspartei gerichtete, negative Bemerkungen können den Anschein der
Befangenheit entstehen lassen: Bezeichnet beispielsweise ein Richter eine
Partei in einem Verwaltungsverfahren - wenn auch angeblich zur Auflockerung
der Verhandlungsatmosphäre - als "agitateur", so besteht für sie objektiver
Anlass zu Zweifeln, ob der Richter in einem Verfahren mit dem Staat als
Gegenpartei unbefangen sei (Urteil 1P.273/2000 des Bundesgerichts vom
19. Juli 2000, E. 2).

    e) Im Lichte der vorstehenden Erwägungen, sieht der Beschwerdeführer
in der beanstandeten Äusserung des Untersuchungsrichters: "Sie waren
immer gut, nicht nur als Betrüger, sondern auch als Zahntechniker" mit
Recht einen Umstand, der vorliegend objektiv geeignet ist, Zweifel an
dessen Unbefangenheit zu erwecken.

    Der Untersuchungsrichter hat den Beschwerdeführer damit im Rahmen der
Einvernahme in vorverurteilender Weise indirekt als Betrüger bezeichnet,
ohne dass für eine entsprechende Äusserung ein ersichtlicher Anlass
bestand. Selbst wenn aufgrund der Akten gewichtige Anhaltspunkte für
die Annahme bestehen mögen, dass sich der Beschwerdeführer des Betrugs
schuldig gemacht haben könnte, hat der Untersuchungsrichter damit die
gebotene Sachlichkeit und Distanz zur Sache vermissen lassen. Daran
ändert nichts, dass die Äusserung in der gleichen Einvernahme erfolgte,
in welcher der Untersuchungsrichter erklärte, die Untersuchung sei als

abgeschlossen zu betrachten. Dies umso weniger als der Untersuchungsrichter
gleichzeitig Frist ansetzte, um weitere Beweismittel einzureichen. Er hat
mit seiner Äusserung in einer Weise vorweg zum Ausgang des Verfahrens
Stellung bezogen, dass für den Beschwerdeführer aus objektiven Gründen
Anlass besteht, daran zu zweifeln, ob der Untersuchungsrichter willens
sei, seine vorläufig gebildete Meinung nötigenfalls zu revidieren und
bei einer bevorstehenden Anklageerhebung den entlastenden Tatsachen in
gleicher Weise Rechnung zu tragen wie den belastenden (vgl. Art. 3 und
11 StPO/FR; HAUSER/SCHWERI, aaO, § 37 Rz. 2 ff.).

Erwägung 3

    3.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher wegen Verletzung von
Art. 29 Abs. 1 BV gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.