Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 I 185



127 I 185

20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 30. Mai 2001 i.S. R. gegen Munizipalgemeinde Staldenried und
Kantonsgericht des Kantons Wallis (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

    Unfreiwilligkeitszuschlag zur kantonalrechtlichen
Enteignungsentschädigung; Eigentumsgarantie, Gleichbehandlungsgebot.

    Die kantonalen Gerichte sind verpflichtet, auf Verlangen eines
Rechtsuchenden das anzuwendende kantonale Recht vorfrageweise auf seine
Übereinstimmung mit der Bundesverfassung zu prüfen (E. 2).

    Art. 6 Abs. 2 der Walliser Kantonsverfassung vom 8. März 1907 räumt
dem Enteigneten keine weiter gehende Entschädigungsgarantie ein als
Art. 26 BV bzw. Art. 22ter aBV (E. 3).

    Der bundesverfassungsmässige Grundsatz der vollen Entschädigung
verwehrt es den Kantonen nicht, den Enteigneten im Rahmen von formellen
kantonalrechtlichen Expropriationen mehr als den ganzen Schaden zu ersetzen
(E. 4).

    Die Bestimmung von Art. 15 des Walliser Gesetzes vom 1.  Christmonat
1887 über den Unfreiwilligkeitszuschlag kann im Umfeld des heutigen
eidgenössischen Rechts nicht mehr rechtsgleich gehandhabt werden (E. 5).

Sachverhalt

    R. ist Eigentümer einer in der Gemeinde Staldenried liegenden, nicht
überbauten Parzelle im Halte von 69 m2. Das an den Friedhof angrenzende
Grundstück gehörte gemäss Zonenplan vom 28. Mai 1975 zur Wohnzone W 4.
Durch den revidierten Zonenplan vom 24. Januar 1994 wurde es der Zone
für öffentliche Bauten und Anlagen zugewiesen.

    Am 1. März 1998 genehmigte die Urversammlung Staldenried einen
Projektkredit für die Erweiterung des Friedhofes. Da der hiefür
benötigte Boden - die Parzelle R. sowie ein weiteres Grundstück - nicht
freihändig erworben werden konnte, räumte der Staatsrat des Kantons
Wallis der Gemeinde auf deren Gesuch das Enteignungsrecht ein. Im
anschliessenden Enteignungsverfahren sprach die Schatzungskommission II
dem Grundeigentümer eine Enteignungsentschädigung von Fr. 90.-/m2 plus
gesetzlichen Zuschlag von 25% zu. Diesen Entscheid fochten sowohl R. als
auch die Munizipalgemeinde Staldenried mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beim Kantonsgericht Wallis an. Während sich die Gemeinde gegen die
Gewährung des gesetzlichen Zuschlags wandte, ersuchte R. um Erhöhung der
zugesprochenen Entschädigung auf Fr. 150.-/m2 zuzüglich den gesetzlichen
Zuschlag von 25% sowie von 5% Zins ab Inbesitznahme.

    Mit Urteil vom 3. November 2000 wies die öffentlich-rechtliche
Abteilung des Kantonsgerichtes Wallis einerseits die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde von R. ab; sie hiess andererseits die
Beschwerde der Gemeinde Staldenried teilweise gut, soweit darauf
eingetreten werden konnte. Das Gericht erhöhte die Entschädigung für die

Parzelle Nr. 1109 von Fr. 90.- auf Fr. 95.-/m2, lehnte aber gleichzeitig
die Zusprechung des Zuschlages von 25% ab. Gegen diesen Entscheid
des Kantonsgerichtes Wallis hat R. staatsrechtliche Beschwerde
erhoben. Der Beschwerdeführer beanstandet allein die Verweigerung
des Unfreiwilligkeitszuschlages, die sowohl gegen die in der Walliser
Kantonsverfassung verankerte Eigentumsgarantie als auch - zufolge der
Nichtanwendung von Art. 15 des kantonalen Enteignungsgesetzes - gegen
das Willkürverbot verstosse.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                    aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Walliser Gesetz vom 1. Christmonat 1887 betreffend
Expropriation zum Zwecke öffentlichen Nutzens (kantonales
Enteignungsgesetz, EntG/VS; syst. Sammlung 710.1) regelt im dritten
Kapitel die Festsetzung der Enteignungsentschädigung. In Art. 13 EntG/VS
wird bestimmt, dass bei der Bemessung der Entschädigung alle sich aus
der Enteignung ergebenden Nachteile in Betracht fallen und insbesondere
der Wert der enteigneten Liegenschaft zu ersetzen ist (lit. a). Art. 14
EntG/VS hält fest, dass der unbebaute Gemeindeboden für Strassenbauarbeiten
und ähnliche öffentliche Zwecke unentgeltlich abzutreten ist. Art. 15
EntG/VS lautet:
      "In anderen Expropriationsfällen ist für bewohnte oder bewohnbare

    Gebäude der Expropriierte zur Forderung des Drittels über der Schatzung

    und für andere Liegenschaften des Viertels über derselben berechtigt."

    Das Kantonsgericht hat diese Bestimmung über den
sog. Unfreiwilligkeitszuschlag im angefochtenen Entscheid vorfrageweise
für verfassungswidrig erklärt, da sie mit der bundesrechtlichen
Eigentumsgarantie unvereinbar sei und heute auch nicht mehr im Einklang
mit dem Gleichbehandlungsgebot angewendet werden könne. Nach Meinung des
Beschwerdeführers läuft dagegen die Nichtanwendung von Art. 15 EntG/VS
auf Willkür und eine Verletzung der in der Kantonsverfassung verankerten
Eigentumsgarantie hinaus. Zudem verstosse es gegen den Grundsatz der
Gewaltenteilung, einen im Gesetz festgelegten Anspruch auf dem Wege der
Rechtsprechung ausser Kraft zu setzen.

    Nach Lehre und Rechtsprechung sind die kantonalen Gerichte nicht nur
berechtigt sondern verpflichtet, auf Verlangen eines Rechtsuchenden das
anzuwendende kantonale Recht vorfrageweise auf seine Übereinstimmung mit
der Bundesverfassung zu prüfen (BGE 117 Ia 262 E. 3a S. 265 f.; 112 Ia
311 E. 2c; 106 Ia 383 E. 3a; 104

Ia 82 E. 2a mit Hinweisen auf die Literatur; s.a. ULRICH HÄFELIN/WALTER
HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Aufl. 2001, N. 2070 ff.;
ANDREAS AUER/GIORGIO MALINVERNI/MICHEL HOTTELIER, Droit constitutionnel
suisse, Bd. I, N. 1858, 1866). Damit verbunden ist grundsätzlich auch
die Pflicht, als verfassungswidrig erkanntes Recht im Einzelfall nicht
anzuwenden. Der Beschwerdeführer beanstandet daher zu Unrecht, dass das
Kantonsgericht die Vorschrift von Art. 15 EntG/VS akzessorisch auf seine
Verfassungsmässigkeit überprüft hat. Eine andere Frage ist, ob es die
Bestimmung zu Recht als verfassungswidrig bezeichnet hat. Diese Frage ist,
da das Gericht die weitere Anwendbarkeit der Bestimmung generell verneint
hat, gleich wie im abstrakten Normenkontrollverfahren frei zu prüfen
(vgl. BGE 125 I 369 E. 2 S. 374).

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 6 Abs. 2 der Walliser
Kantonsverfassung vom 8. März 1907 (KV) gewähre bei Eingriffen in das
Eigentum Anspruch auf "gerechte" Entschädigung und gehe damit weiter als
die Garantie von Art. 26 BV bzw. Art. 22ter aBV.

    Art. 6 Abs. 1 KV erklärt das Eigentum für unverletzlich.
Nach Art. 6 Abs. 2 KV kann von diesem Grundsatz nur aus Rücksicht
öffentlichen Nutzens "mittelst einer gerechten Entschädigung" und in
den vom Gesetze vorgesehenen Formen abgewichen werden. Aufgrund des
Wortlauts dieser Bestimmung lässt sich nicht sagen, dass dem Enteigneten
mehr als eine "volle" Entschädigung zugesichert werde. Der Ausdruck
"gerechte Entschädigung" entspricht dem im französischen Verfassungstext
gewählten Begriff der "juste indemnité". Auch die französische Fassung
von Art. 22ter aBV sieht aber eine "juste indemnité" vor, ohne dass damit
etwas anderes als ein Anspruch auf (bloss) volle Entschädigung eingeräumt
werden sollte. Die heutige Umschreibung der Entschädigungsgarantie in
Art. 26 Abs. 2 BV ("pleine indemnité") ist erst bei der Verfassungsreform
in Angleichung an den deutschen Text gewählt worden (vgl. Botschaft über
eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997 I 174). Der
eidgenössische Verfassungs- und Gesetzgeber verwendet denn auch im
Zusammenhang mit Entschädigungsfragen Synonyme gleichwertig (deutsch:
volle oder angemessene Entschädigung, voller oder angemessener Ersatz /
französisch: juste indemnité, indemnité pleine et entière ou équitable,
réparer intégralement le dommage / italienisch: pieno indennizzo o
risarcimento, piena, equa o adeguata indennità, risarcire integralmente
il danno), so dass der Wortwahl im Einzelfall keine besondere Bedeutung

beigemessen werden kann (vgl. die Übersicht bei HEINZ HESS/HEINRICH WEIBEL,
Das Bundesgesetz über die Enteignung, Bd. I, zu Art. 16 S. 213, Bd. II,
N. 40 ff. zu Art. 22ter BV). Ähnliches gilt für die Formulierungen in den
kantonalen Verfassungs- und Gesetzestexten. Obschon auch dort teils von
"angemessener" oder "gerechter" Entschädigung gesprochen wird, gehen
die herrschende Lehre und seit längerem auch die bundesgerichtliche
Rechtsprechung davon aus, dass damit der Enteigner zur Leistung einer
"vollen" Entschädigung verpflichtet werde (vgl. PETER SALADIN, Grundrechte
im Wandel, 3. Aufl. 1982, S. 199 ff. mit Hinweisen auf BGE 34 I 519
E. 2 S. 527 f. und BGE 93 I 130 E. 3 S. 138 sowie auf die Literatur
Fn. 265; s.a. PETER WIEDERKEHR, Die Expropriationsentschädigung,
Diss. Zürich 1966, S. 19). Der Meinung des Beschwerdeführers, die
Walliser Kantonsverfassung reiche in ihrer Schutzwirkung weiter als
die bundesrechtliche Eigentumsgarantie, ist daher nicht zuzustimmen. Das
Bundesgericht hat demnach - gleich wie zuvor das Kantonsgericht - allein zu
untersuchen, ob Art. 15 EntG/VS vor den Bestimmungen der Bundesverfassung
standzuhalten vermöge.

Erwägung 4

    4.- Das Kantonsgericht hat im angefochtenen Entscheid zunächst
auf eine Erwägung des Bundesgerichtes hingewiesen, wonach ein
Unfreiwilligkeitszuschlag, wie er im Walliser Enteignungsgesetz
vorgesehen sei, mit dem verfassungsmässigen Prinzip der vollen
Entschädigung unvereinbar sei. Tatsächlich hat das Bundesgericht im nicht
veröffentlichten Entscheid vom 23. November 1999 i.S. Z. AG gegen Kanton
Wallis nebenbei erwähnt, dass eine Unfreiwilligkeitsentschädigung, die der
Enteignete zusätzlich zur Vergütung für den objektiven oder subjektiven
Schaden beanspruchen könne, mit dem Grundsatz, dass der Enteignete
weder Verlust erleiden noch Gewinn erzielen soll, im Widerspruch stehe
(s.a. BGE 112 Ib 531 E. 4 S. 536). Ob das verfassungsmässige Prinzip
der vollen Entschädigung einen Unfreiwilligkeitszuschlag generell
ausschliesse, ist Hauptthema der vorliegenden Streitsache und daher
erneut zu untersuchen. Dies führt vorweg zur Frage nach der Tragweite der
vorerst als ungeschriebenes Grundrecht anerkannten und im Jahre 1969 in
den Verfassungstext aufgenommenen bundesrechtlichen Eigentumsgarantie.

    Nach Art. 22ter Abs. 2 aBV können der Bund und die Kantone im Rahmen
ihrer verfassungsmässigen Befugnisse auf dem Wege der Gesetzgebung
im öffentlichen Interesse die Enteignung und Eigentumsbeschränkungen
vorsehen. Weitere Voraussetzung ist nach Art. 22ter Abs. 3 aBV, dass bei
Enteignung und

Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, volle
Entschädigung geleistet wird. Dadurch wird der Enteigner verpflichtet,
den enteignungsbedingten Schaden voll zu ersetzen und nicht weniger
zu bezahlen. Fraglich ist dagegen, ob Art. 22ter Abs. 3 aBV Bund und
Kantone auch dazu verhält, für Eingriffe in das Eigentum nicht mehr als
die volle Entschädigung vorzusehen. Eine Auslegung in diesem Sinne würde
berücksichtigen, dass das Enteignungsrecht dem Gemeinwesen gestatten
soll, die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben notwendigen Güter zu
angemessenen Bedingungen zu erwerben (vgl. BGE 109 Ib 26 E. 3 S. 35,
114 E. 3; 111 Ib 97 E. 2c; WERNER DUBACH, Die Berücksichtigung der
besseren Verwendungsmöglichkeit und der werkbedingten Vor- und Nachteile
bei der Festsetzung der Enteignungsentschädigung, in: ZBl 79/1978
S. 1). Die Frage der Entschädigung für raumplanerische Eingriffe hatte
denn auch bei der verfassungsmässigen Neuordnung des Bodenrechts durch
Art. 22ter und Art. 22quater aBV besonderes Gewicht. Gewisse Passagen
in der bundesrätlichen Botschaft sprechen dafür, dass mit dem neuen
Art. 22ter Abs. 3 BV eine allgemeine, für die formelle und die materielle
Enteignung geltende einheitliche Entschädigungspraxis vorgeschrieben werden
sollte. So wird unter anderem bemerkt, dass die volle Entschädigung nur
zur Schadloshaltung und nicht zur Gewinnerzielung führen dürfe. Über die
Zulässigkeit kantonalrechtlicher Zuschläge über eine volle Vergütung hinaus
sagt die Botschaft allerdings nichts (vgl. Botschaft des Bundesrates über
die Ergänzung der Bundesverfassung durch die Artikel 22ter und 22quater
vom 15. August 1967, BBl 1967 II 133 ff., 146).

    Ausschlaggebend ist indessen, ob und inwieweit der Bund von der
(Grundsatz-)Gesetzgebungskompetenz, die ihm mit der Änderung des
Bodenrechts eingeräumt wurde, Gebrauch gemacht hat. Soweit er seine
Rechtssetzungsbefugnis nicht ausgeübt hat, bleiben die Kantone nicht
nur zum Erlass von die Eigentumsgarantie konkretisierenden Vorschriften
zuständig, sondern sind nach Art. 3 und 42 f. BV auch frei, den Enteigneten
Entschädigungsansprüche zuzugestehen, welche über die Garantie von
Art. 22ter Abs. 3 aBV hinausgehen (vgl. GEORG MÜLLER, Kommentar zur
Bundesverfassung, N. 25 f. zu Art. 22ter; PETER SALADIN, Kommentar
zur Bundesverfassung, N. 163, 214 ff. zu Art. 3 aBV; HÄFELIN/HALLER,
aaO N. 1092 ff.; die gleiche Freiheit besteht, wenn davon ausgegangen
wird, Bund und Kantonen stünden auf dem Gebiet der Enteignung parallele
Kompetenzen zu, s. RICCARDO JAGMETTI, Kommentar zur

Bundesverfassung, N. 51 zu Art. 23 aBV). Nun ist der Grundsatz
der vollen Entschädigung in Art. 5 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom
22. Juni 1979 über die Raumplanung (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700)
für alle auf diesem Gesetz beruhenden Eigentumsbeschränkungen, die
enteignungsähnlich wirken, nochmals festgeschrieben worden. Nach
ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung hat der Gesetzgeber
damit für raumplanungsbedingte materielle Enteignungen einen direkten
bundesrechtlichen Entschädigungsanspruch geschaffen, der die Kantone
hinsichtlich der Entschädigungsbemessung bindet. Die Kantone dürfen
daher dem von einer materiellen Enteignung Betroffenen nicht mehr und
nicht weniger zusprechen, als ihm nach den in der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vergütet werden darf (s. etwa BGE
107 Ib 19 E. 2; 109 Ib 114 E. 3; 114 Ib 108, 174, 286 E. 5 S. 293 f.,
je mit Hinweisen).

    Was die formelle bundesrechtliche Enteignung anbelangt,
hatte der Bundesgesetzgeber angesichts der Regelung von Art.
16 ff. des Bundesgesetzes vom 20. Juni 1930 über die Enteignung
(EntG; SR 711) keinen Anlass, auf die Vorschrift von Art. 22ter
Abs. 3 aBV hin tätig zu werden. Für die Bemessung der Entschädigung in
kantonalrechtlichen formellen Enteignungsverfahren sind im Bundesrecht
keine Grundsatzbestimmungen aufgestellt worden, und zwar auch nicht
für jene Verfahren, die der Erfüllung bundesrechtlicher Aufgaben dienen
und in denen sich die Frage nach Zulässigkeit und Umfang der Enteignung
nach eidgenössischem Recht bestimmt (vgl. BGE 116 Ib 169 E. 2a; 104 Ib
200 E. 1). Der Bundesgesetzgeber stellt es jedoch in diesen Fällen den
Kantonen frei, die Enteignung statt nach kantonalem nach eidgenössischem
Recht vorzunehmen (vgl. dazu unten E. 5c).

    Somit ergibt sich, dass Art. 22ter Abs. 3 aBV bzw.  Art. 26 Abs. 2
BV und die eidgenössische Gesetzgebung den Kantonen untersagen, in
Fällen materieller Enteignung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 RPG Vergütungen
vorzusehen, die über die volle Schadloshaltung hinausgehen. Das Gleiche
gilt für formelle Enteignungsverfahren nach eidgenössischem Recht,
welche die Kantone aufgrund bundesrechtlicher Vorschriften oder des ihnen
eingeräumten Wahlrechts anstelle kantonaler Verfahren durchführen. Dagegen
verwehrt die bundesrechtliche Eigentumsgarantie den Kantonen nicht,
den Enteigneten im Zusammenhang mit formellen kantonalrechtlichen
Expropriationen mehr als den ganzen Schaden zu ersetzen und damit
Vergütungen auszurichten, die den Rahmen des Anspruchs auf volle

Entschädigung sprengen. Soweit sich aus dem obiter dictum im oben zitierten
Entscheid vom 23. November 1999 etwas anderes ergibt, kann daran nicht
festgehalten werden. Die Bestimmung des Walliser Enteignungsgesetzes
über den Unfreiwilligkeitszuschlag erweist sich insofern nicht als
verfassungswidrig.

Erwägung 5

    5.- Nach Meinung des Walliser Kantonsgerichts steht Art. 15 EntG/VS
im Gefüge der geltenden Rechtsordnung nicht mehr im Einklang mit dem
Gebot der Gleichbehandlung.

    Das Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 BV, Art. 4 aBV) und das eng mit
diesem verbundene Willkürverbot (Art. 9 BV) gelten auch gegenüber den
gesetzgeberischen Erlassen. Ein Erlass verstösst gegen das Willkürverbot,
wenn er sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützen lässt oder
sinn- und zwecklos ist; er verletzt das Gebot der Rechtsgleichheit,
wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger
Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist,
oder Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse
aufdrängen. Die Rechtsgleichheit ist insbesondere verletzt, wenn Gleiches
nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich oder Ungleiches nicht nach
Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird (BGE 110 Ia 7 E.
2b S. 13 f. mit Hinweisen; 125 I 1 E. 2b/aa S. 4; 125 V 221 E. 3b S. 224;
124 I 297 E. 3b). Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung
oder für unterlassene Unterscheidungen vernünftige Gründe in den zu
regelnden Verhältnissen ersichtlich sind, kann zu verschiedenen Zeiten
verschieden beantwortet werden, je nach den herrschenden Anschauungen
und Zeitverhältnissen sowie je nach dem im fraglichen Zeitpunkt gegebenen
rechtlichen Umfeld.

    Im Lichte dieser Grundsätze erscheint die hier umstrittene Bestimmung
des Walliser Expropriationsgesetzes tatsächlich nicht mehr haltbar.

    a) Unfreiwilligkeitszuschläge, wie sie Art. 15 EntG/VS gewährt, sahen
einige der im 19. Jahrhundert erlassenen kantonalen Enteignungsgesetze vor
(vgl. etwa § 17 des Aargauer Expropriationsgesetzes vom 22. Mai 1867, § 7
des Glarner Gesetzes betreffend die Abtretung von Wasser für öffentliche
Brunnen vom 8. Mai 1881, § 5 des Schwyzer Expropriationsgesetzes für
die Erstellung von grösseren Wasserwerkanlagen vom 12. März 1908, §
13 des Zürcher Gesetzes betreffend die Abtretung von Privatrechten
vom 30. November 1879). Diese Zuschläge gleichen nicht wirtschaftliche
Einbussen aus, sondern bilden den Gegenwert für die affektiven Bindungen
des Eigentümers an sein Hab und Gut. Mit ihnen soll die

vom Enteigneten durch den zwangsweisen Entzug seines Eigentums erlittene
seelische Unbill abgegolten werden. Der Unfreiwilligkeitszuschlag verfolgt
somit einen ähnlichen Zweck wie die haftpflichtrechtliche Genugtuung
(vgl. PETER WIEDERKEHR, aaO, S. 118 ff.; HESS/WEIBEL, aaO, Bd. I,
N. 198 zu Art. 19; s.a. WALTHER BURCKHARDT, Die Entschädigungspflicht
nach schweizerischem Expropriationsrecht, in: ZSR 32/1913 S. 153). Er
lässt sich demnach nur dann und nur insoweit rechtfertigen, als die
Enteignung überhaupt zu seelischer Unbill führen kann und der Enteignete
tatsächlich in seinen persönlichen Verhältnissen schwer getroffen
wird. Das zitierte, heute noch geltende zürcherische Abtretungsgesetz vom
30. November 1879 sieht dementsprechend in § 13 Abs. 1 vor, dass für die
Unfreiwilligkeit ein Zuschlag von höchstens 20% des Verkehrswertes gemacht
werden "kann". Ein solcher Zuschlag wird nur selten gewährt (vgl. die
Entscheide des Zürcher Verwaltungsgerichtes vom 7. November 1972, in:
ZBl 74/1973 S. 335, und vom 22. Oktober 1986, in: RB 1986 Nr. 118 mit
Hinweisen). Demgegenüber ist Art. 15 des Walliser Enteignungsgesetzes
nicht als Kann-Vorschrift, sondern so formuliert, dass jeder Enteignete
zum Bezug des Unfreiwilligkeitszuschlags als berechtigt erscheint. Dieser
steht demnach auch Enteigneten zu, die - als juristische Personen -
seelische Unbill gar nicht erleiden können oder die aus anderen Gründen
in ihren persönlichen Verhältnissen nicht beeinträchtigt sind. Für
einen Unfreiwilligkeitszuschlag im umschriebenen Sinne besteht jedoch
in solchen Fällen kein ernsthafter sachlicher Grund. Bei der Festlegung
des Anwendungsbereichs der Norm sind offensichtlich Unterscheidungen
unterlassen worden, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen.

    Die Tatsache allein, dass der Unfreiwilligkeitszuschlag gemäss dem
Wortlaut von Art. 15 EntG/VS auch von Enteigneten beansprucht werden kann,
denen durch die Enteignung kein immaterieller Nachteil erwächst, würde
indes noch nicht rechtfertigen, der Vorschrift die Anwendung generell
zu versagen. Der - zu grosse - Kreis der Anspruchsberechtigten könnte
im Rahmen einer verfassungsmässigen Interpretation der Norm verkleinert
werden. Dabei müsste allerdings gewährleistet sein, dass alle gemäss
Normzweck Berechtigten gleich behandelt werden könnten. Dieser Anforderung
kann jedoch heute nicht mehr entsprochen werden.

    b) Wie bereits dargelegt (E. 4), bestimmt sich der
Entschädigungsanspruch für materielle Enteignung im Sinne von Art. 5
Abs. 2 RPG allein nach Bundesrecht, das Unfreiwilligkeitszuschläge

ausschliesst. Folgt mithin die kantonalrechtliche Enteignung einer
Planungsmassnahme, die sich - wie die Zuweisung von Boden zur Zone
für öffentliche Bauten und Anlagen - ihrerseits schon enteignend
ausgewirkt hat, ist auch dem in seinen persönlichen Verhältnissen
verletzten Enteigneten für den der materiellen Enteignung entsprechenden
Teil der Entschädigung der Zuschlag zu verweigern. Sind dagegen keine
planerische Massnahmen zur Sicherung des für öffentliche Zwecke benötigten
Bodens getroffen worden und wird daher nur formell enteignet, besteht
Anspruch auf vollen Zuschlag. Wäre somit im vorliegenden Fall für die
Friedhofserweiterung mehr oder anderer Boden enteignet worden, als zuvor
zur Zone für öffentliche Bauten geschlagen worden ist, hätte den nur
formell Enteigneten aufgrund von Art. 15 EntG/VS für das gleiche Werk eine
höhere Entschädigung zuerkannt werden müssen als sie dem Beschwerdeführer
zugestanden werden kann. Ein solches Ergebnis lässt sich aber vor dem
Gleichbehandlungsgebot nicht halten.

    c) Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die heutige
Bundesgesetzgebung auch in anderer Hinsicht zu einer ungleichmässigen
Ausrichtung von Unfreiwilligkeitszuschlägen führen kann. Verschiedene
eidgenössische Spezialgesetze ermächtigen die Kantone, für die Erfüllung
der ihnen übertragenen Aufgaben anstelle des kantonalen Enteignungsrechts
das Bundesgesetz über die Enteignung anwendbar zu erklären (vgl. den die
Hauptstrassen betreffenden Art. 16 des Bundesgesetzes über die Verwendung
der zweckgebundenen Mineralölsteuer vom 22. März 1985 [SR 725.116.2],
Art. 17 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1991 über den Wasserbau
[SR 721.100], Art. 58 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983
über den Umweltschutz [SR 814.01], Art. 68 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom
24. Januar 1991 über den Schutz der Gewässer [SR 814.20], Art. 48 Abs. 2
des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über den Wald [SR 921.0]). Mit
der Anwendbarkeit des eidgenössischen Rechts fällt aber die Möglichkeit
von Unfreiwilligkeitszuschlägen dahin. Zwar hat der Kanton Wallis
soweit ersichtlich von diesem Wahlrecht noch nicht Gebrauch gemacht. Es
kann jedoch nicht mehr gesagt werden, das kantonale Recht vermöge zu
gewährleisten, dass alle Enteigneten des Kantons Wallis, die durch eine
Expropriation in ihren persönlichen Verhältnissen verletzt werden, einen
Unfreiwilligkeitszuschlag erhalten (vgl. PETER WIEDERKEHR, aaO, S. 120).

    d) Zusammenfassend ist festzustellen, dass einerseits Art. 15k EntG
den Unfreiwilligkeitszuschlag auch jenen zuerkennt, die

keine seelische Unbill erleiden, und dass andererseits das geltende
eidgenössische Recht nicht mehr gestattet, den Unfreiwilligkeitszuschlag
all denen zukommen zu lassen, die durch die zwangsweise Abtretung ihres
Grundeigentums besonders beeinträchtigt werden. Das Kantonsgericht hat
somit zu Recht erklärt, diese Bestimmung lasse sich nicht mehr rechtsgleich
anwenden.