Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 IV 86



127 IV 86

12. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. März 2001
i.S. A. gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Gewaltsame Erzwingung des Beischlafs mit einem Mädchen unter 16
Jahren; Verjährung, altes und neues Recht (Art. 191 aStGB, Art. 187,
190 und Art. 337 StGB).

    Die Strafverfolgung wegen gewaltsamer Erzwingung des Beischlafs mit
einem Mädchen unter 16 Jahren verjährte auch während der Geltungsdauer
von Art. 187 Ziff. 5 StGB vom 1. Oktober 1992 bis zum 31. August 1997
in zehn Jahren, unabhängig davon, ob die Handlung auf der Grundlage des
alten Sexualstrafrechts als Unzucht mit Kindern oder auf der Grundlage des
neuen Sexualstrafrechts als Vergewaltigung beurteilt wird. Die besondere
Verjährungsfrist von fünf Jahren gemäss Art. 187 Ziff. 5 StGB galt nur
für die vor und die nach dem Inkrafttreten des neuen Sexualstrafrechts
begangenen sexuellen Handlungen mit Personen unter 16 Jahren ohne Anwendung
von psychischem Druck und ohne Einsatz von Nötigungsmitteln (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Das Bezirksgericht Zürich sprach X. am 19. Januar 2000 der
mehrfachen Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1 StGB schuldig
und bestrafte ihn deshalb mit zwei Jahren Zuchthaus. Es verpflichtete ihn
zudem, der Geschädigten A. Fr. 18'000.- Genugtuung zu bezahlen. X. erklärte
Appellation.

    Mit Beschluss vom 24. Mai 2000 trat das Obergericht des Kantons Zürich
auf die Anklage sowie auf die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung
der Geschädigten nicht ein.

    A. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und das Verfahren zur
materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Dem Beschwerdegegner wird in der Anklageschrift vorgeworfen, er
habe ca. Ende Januar/Anfang Februar 1991 sowie im Juli 1991 die damals
ca. 14½-jährige bzw. knapp 15-jährige Beschwerdeführerin insbesondere
durch Anwendung von Gewalt zur Duldung des Beischlafs gezwungen. Zur
Zeit der inkriminierten Handlungen galt noch das alte Sexualstrafrecht.
Im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Beurteilung galt das am 1. Oktober 1992
in Kraft getretene neue Sexualstrafrecht. Die inkriminierten Handlungen
lagen bei Erstattung der Strafanzeige und Anhebung der Untersuchung mehr
als fünf Jahre zurück.

    a) Die inkriminierten Handlungen erfüllen altrechtlich die Tatbestände
der Unzucht mit Kindern im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB und, in
Idealkonkurrenz (s. dazu das nicht publizierte Urteil des Kassationshofes
vom 12. Juni 1991 i.S. T. c. LU), der Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB.
Sie erfüllen neurechtlich die Tatbestände der sexuellen Handlungen mit
Kindern im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 StGB und, in Idealkonkurrenz (s. BGE
124 IV 154 E. 3a), der Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1 StGB.

    Die relativen Verfolgungsverjährungsfristen betragen

    - für die Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB seit jeher fünf Jahre;

    - für die altrechtliche Unzucht mit Kindern im Sinne von Art. 191
Ziff. 1 Abs. 1 aStGB, unter dem nachfolgend dargelegten Vorbehalt,
zehn Jahre;

    - für die neurechtliche Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1
StGB zehn Jahre;

    - für die neurechtlichen sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne
von Art. 187 Ziff. 1 StGB, unter dem nachstehend dargestellten Vorbehalt,
zehn Jahre.

    b) Für das Verbrechen der sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne
von Art. 187 StGB sah dessen Ziff. 5 (Fassung vom 21. Juni 1991, in
Kraft seit 1. Oktober 1992) eine von der allgemeinen Regel abweichende
Verjährungsfrist von bloss fünf Jahren vor: "Die Verjährung tritt in
fünf Jahren ein" (AS 1992 S. 1670 ff.). Der Bundesrat hatte in Art. 187
Ziff. 4 seines Entwurfs für das Verbrechen der geschlechtlichen Handlungen
mit Kindern gar eine Verjährungsfrist von bloss zwei Jahren vorgesehen
(BBl 1985 II 1009 ff., 1069, 1113). Der Ständerat als Erstrat erhöhte die
Verjährungsfrist auf fünf Jahre (AB 1987 S 384 f.). Der Nationalrat strich
Art. 187 Ziff. 4 des bundesrätlichen Entwurfs ersatzlos, mit der Folge,
dass die ordentliche Verjährungsfrist von zehn Jahren für Verbrechen gelten
sollte (AB 1990 N 2275). Der Ständerat hielt an der Frist von fünf Jahren
fest (AB 1991 S 79 f.). Der Nationalrat stimmte dem zu (AB 1991 N 854).

    Ziff. 5 von Art. 187 StGB wurde durch Bundesgesetz vom 21.  März 1997,
in Kraft seit 1. September 1997, aufgehoben. Damit gilt für das Verbrechen
der sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 StGB
seit dem 1. September 1997, entsprechend den allgemeinen Regeln, die
ordentliche relative Verjährungsfrist von zehn Jahren. Durch dasselbe
Bundesgesetz vom 21. März 1997, in Kraft seit 1. September 1997, ist
Art. 187 StGB zudem eine neue Ziff. 6 beigefügt worden, die lautet:
      "Die Strafverfolgung verjährt auch dann in zehn Jahren, wenn die

    Verjährung  der Tat nach der Bestimmung von Ziff. 5 in der Fassung
vom 21.

    Juni 1991 am 1. September 1997 noch nicht eingetreten ist".  c) aa)
Während der Geltungsdauer von Art. 187 Ziff. 5 StGB, d.h. vom 1. Oktober
1992 bis zum 31. August 1997, verjährte die Strafverfolgung in Bezug auf
eine Handlung, soweit sie den Tatbestand der sexuellen Handlungen mit
Kindern im Sinne von Art. 187 StGB erfüllt, relativ in fünf Jahren. Die
Verjährungsfrist beträgt aber seit jeher zehn Jahre, soweit eine sexuelle
Handlung mit einem Kind wegen der Anwendung von psychischem Druck oder
des Einsatzes von Nötigungsmitteln (Gewalt, Drohung etc.) den Tatbestand
der sexuellen Nötigung im Sinne von Art. 189 StGB oder der Vergewaltigung
im Sinne von Art. 190 StGB erfüllt.

    Es war offensichtlich weder der Sinn von Art. 187 Ziff. 5 StGB noch der
Wille des Gesetzgebers, die Vergewaltigung einer weiblichen Person unter
16 Jahren in Bezug auf die Verjährung zu privilegieren. Die besondere,
kurze Verjährungsfrist von fünf Jahren galt nach den Vorstellungen des
Gesetzgebers einzig für sexuelle Handlungen mit Personen unter 16 Jahren
ohne Anwendung von psychischem Druck und ohne Einsatz von Nötigungsmitteln
(siehe z.B. AB 1987 S 385, Votum Cavelty). Sexuelle Handlungen unter
Anwendung von psychischem Druck oder unter Einsatz von Nötigungsmitteln
(Gewalt, Drohung etc.) erfüllen nach dem neuen Sexualstrafrecht, auch
soweit Personen unter 16 Jahren Opfer sind, je nach Art der sexuellen
Handlungen die Tatbestände der sexuellen Nötigung (Art. 189 StGB) oder
der Vergewaltigung (Art. 190 StGB). Die Verjährungsfrist betrug für
diese Tatbestände nach dem neuen Sexualstrafrecht seit jeher, mithin
auch während der Geltungsdauer von Art. 187 Ziff. 5 StGB, unabhängig
vom Alter des Opfers zehn Jahre.

    bb) Art. 187 Ziff. 5 StGB galt auch für sexuelle Handlungen mit
Kindern, die vor dem Inkrafttreten des neuen Sexualstrafrechts am
1. Oktober 1992 begangen wurden (siehe das nicht publizierte Urteil
des Kassationshofes vom 28. Januar 1999 i.S. R. c. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich, E. 6b). Dies ergibt sich aus Art. 337 Abs. 1 StGB,
wonach die Bestimmungen dieses Gesetzes über die Verfolgungsverjährung
auch Anwendung finden, wenn eine Tat vor Inkrafttreten dieses Gesetzes
verübt worden und dieses Gesetz für den Täter das mildere ist. Auch
für eine vor dem Inkrafttreten des neuen Sexualstrafrechts begangene
Handlung galt Art. 187 Ziff. 5 StGB aber nur insoweit, als sie im Falle
ihrer Beurteilung nach dem neuen Recht unter Art. 187 StGB zu subsumieren
wäre. Art. 187 Ziff. 5 StGB galt mit andern Worten nicht für eine vor dem
Inkrafttreten des neuen Sexualstrafrechts begangene Handlung, soweit diese
im Falle ihrer Beurteilung nach dem neuen Sexualstrafrecht etwa unter
Art. 189 StGB (sexuelle Nötigung) oder Art. 190 StGB (Vergewaltigung)
zu subsumieren wäre.

    d) Die Vorinstanz ist im Wesentlichen der Auffassung, dass das
inkriminierte Verhalten nach dem alten Sexualstrafrecht einzig den
Tatbestand der Unzucht mit Kindern im Sinne von Art. 191 aStGB erfülle,
dass Art. 187 StGB (sexuelle Handlungen mit Kindern) an die Stelle von
Art. 191 aStGB getreten sei (siehe auch die Botschaft des Bundesrates,
BBl 1985 II 1009 ff., 1065) und dass gemäss Art. 337 Abs. 1 StGB daher
Art. 187 Ziff. 5 StGB anwendbar sei.

    Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Sie lässt ausser Acht,
dass der Anwendungsbereich von Art. 191 aStGB wesentlich weiter ist als
der Anwendungsbereich von Art. 187 StGB und auch Handlungen erfasst,
die nach dem neuen Sexualstrafrecht weitere Tatbestände erfüllen.

    aa) Die gewaltsame Erzwingung des Beischlafs mit einem Mädchen unter
16 Jahren konnte altrechtlich allein als Unzucht mit Kindern (Art. 191
aStGB) und Nötigung (Art. 181 StGB) geahndet werden. Das in der gewaltsamen
Erzwingung des Beischlafs liegende schwere Tatunrecht wird vom allgemeinen
Tatbestand der Nötigung gemäss Art. 181 StGB, welcher Gefängnis oder
Busse androht, offensichtlich nicht vollumfänglich erfasst. Dem in der
gewaltsamen Erzwingung des Beischlafs mit einem Mädchen unter 16 Jahren
liegenden Tatunrecht war bei der Strafzumessung für die Unzucht mit
Kindern im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB gebührend Rechnung zu
tragen. Die altrechtliche Straftat der Unzucht mit Kindern (Art. 191 aStGB)
war im Unterschied zur neurechtlichen Straftat der sexuellen Handlungen mit
Kindern (Art. 187 StGB), wie sich aus der systematischen Einordnung der
beiden Bestimmungen im Gesetz ergibt, auch ein Delikt gegen die sexuelle
Freiheit; unter anderem aus diesem Grunde drohte Art. 191 aStGB wesentlich
höhere Strafen als Art. 187 StGB an.

    bb) Der altrechtliche Tatbestand der Unzucht mit Kindern im Sinne
von Art. 191 aStGB erfasst mithin im Unterschied zum neurechtlichen
Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne von Art. 187
StGB auch sexuelle Handlungen unter Anwendung von psychischem Druck und
unter Einsatz von Nötigungsmitteln (Gewalt, Drohung etc.), die nicht
unter andere Tatbestände des alten Sexualstrafrechts (Notzucht, Art. 187
aStGB; Nötigung zu einer andern unzüchtigen Handlung, Art. 188 aStGB)
subsumiert werden konnten, sei es, weil das weibliche Opfer unter 16
Jahren keine Frau im Sinne des Gesetzes (siehe Art. 110 Ziff. 1 aStGB),
sei es, weil das angewandte Mittel (psychischer Druck, Drohung) mangels
der erforderlichen Intensität nicht tatbestandsmässig war. Insoweit
ist Art. 191 aStGB daher nicht nur "Vorgänger-Norm" zu Art. 187 StGB,
sondern auch "Vorgänger-Norm" zu Art. 189 und insbesondere zu Art. 190
StGB, für welche die besondere, kurze Verjährungsfrist von fünf Jahren
gemäss Art. 187 Ziff. 5 StGB nicht galt. Soweit eine altrechtlich als
Unzucht mit Kindern (Art. 191 aStGB) zu qualifizierende sexuelle Handlung
neurechtlich nicht nur den Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern
(Art. 187 StGB), sondern auch die Tatbestände der sexuellen Nötigung
(Art. 189 StGB) und/oder der Vergewaltigung (Art. 190 StGB) erfüllt,
gelangt Art. 187 Ziff. 5 StGB nicht zur Anwendung.

    e) Der Kassationshof ist denn auch in seinem mehrfach zitierten Urteil
vom 28. Januar 1999 ohne weiteres davon ausgegangen, dass die Sonderregel
von Art. 187 Ziff. 5 StGB nicht anwendbar war auf die altrechtlich als
Unzucht mit Kindern im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 StGB zu qualifizierende
gewaltsame Erzwingung des Beischlafs mit einem Mädchen unter 16 Jahren.

    f) Dem Beschwerdegegner wird in der Anklageschrift gewaltsame
Erzwingung des Beischlafs mit einem Mädchen unter 16 Jahren zur Last
gelegt. Diese altrechtlich als Unzucht mit Kindern (Art. 191 aStGB)
zu qualifizierende Handlung erfüllt neurechtlich auch den Tatbestand
der Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1 StGB. Art. 187 Ziff. 5
StGB ist insoweit nicht anwendbar. Die Verjährungsfrist betrug daher
auch während der Geltungsdauer von Art. 187 Ziff. 5 StGB zehn Jahre,
unabhängig davon, ob die inkriminierte Handlung auf der Grundlage des alten
Sexualstrafrechts als Unzucht mit Kindern (Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB)
oder auf der Grundlage des allenfalls milderen neuen Sexualstrafrechts
als Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB) beurteilt wird.

    Die Vorinstanz verletzte daher Bundesrecht, indem sie auf die Anklage
nicht eintrat mit der Begründung, dass die relative Verjährungsfrist
lediglich fünf Jahre betrage und deshalb die Strafverfolgung in Bezug
auf die eingeklagten Handlungen verjährt sei.