Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 IV 62



127 IV 62

9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. November
2000 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und A.
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 125 Abs. 2 StGB; fahrlässige schwere Körperverletzung, Reitunfall.

    Sorgfaltspflichten des Reitlehrers bei mehrmaligem Ausbrechen der
Pferde während einer Reitlektion in der Halle (E. 2).

Sachverhalt

    Am 13. September 1996 erteilte X. im Reitsportzentrum "Höldihof"
in Rupperswil einer Gruppe von sechs Mädchen im Alter von 10-12 Jahren
Reitunterricht. Da er zum vereinbarten Zeitpunkt noch an einer in der Nähe
stattfindenden Springkonkurrenz anwesend war, wählten die Schülerinnen mit
seinem Einverständnis die Pferde, welche sie auch sonst ritten, selber aus
und stellten sie bereit. X. kontrollierte, nachdem er mit rund fünfzehn
Minuten Verspätung in den Stallungen erschienen war, das Bereitmachen
der Tiere und prüfte, bevor er mit dem Unterricht begann, in der Halle
die Einstellung der Steigbügel und Gurten. Wegen der kühlen Witterung
und der Springkonkurrenz zeigten die Pferde eine gewisse Unruhe. Als
X. nach fünfzehn Minuten befahl, vom Schritt in den Trab zu wechseln,
scherte das Pferd "Amigo" aus. Die anderen Pferde, darunter das von A.,
geboren 1986, gerittene Pferd "Dubai" taten es ihm gleich und trabten
ebenfalls aus der Reihe los. X. gelang es, die Tiere mit der Stimme zu
beruhigen, und ordnete wiederum eine Schrittphase an. Nach einigen Minuten
wiederholte sich der Vorgang, die Tiere brachen aus und X. konnte sie
wiederum beruhigen. Nachdem er in der Folge ein drittes Mal den Übergang
vom Schritt in den Trab befohlen hatte, begann "Amigo" erneut zu bocken und
galoppierte los, wobei es "Dubai" und die andern Pferde mitzog. Die Pferde
liessen sich dieses Mal nicht mehr beruhigen und galoppierten schliesslich
kreuz und quer durch die Halle. Es herrschte ein Durcheinander, bei dem
mehrere Reiterinnen vom Pferd fielen. Dabei warf "Dubai" seine Reiterin,
A., vornüber ab, so dass sie vor die Vorderhufe des Pferdes stürzte. Dieses
rannte über das Kind hinweg und traf es mit einem Huf am Hinterkopf.
A. erlitt dabei ein Schädel-Hirntrauma mit diversen Frakturen.

    Das Bezirksgericht Lenzburg erklärte X. mit Urteil vom 29.  April 1999
der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig und verurteilte
ihn zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von drei Monaten,
unter Auferlegung einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse
von Fr. 500.-. Es stellte fest, dass der Geschädigten dem Grundsatz nach
Zivilansprüche zustehen und verwies die Zivilkläger im Übrigen an das
Zivilgericht. Eine von X. hiegegen erhobene Berufung hiess das Obergericht
des Kantons Aargau mit Urteil vom 8. Juni 2000 teilweise gut und setzte die
Freiheitsstrafe auf einen Monat herab. Im Übrigen wies es die Berufung ab.

    X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen,
ihn von Schuld und Strafe freizusprechen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den Schuldspruch
der fahrlässigen schweren Körperverletzung. Er macht geltend, er
habe keine Sorgfaltspflichten verletzt und die Reitstunde fachgerecht
aufgebaut. Pferde seien Fluchttiere, die oft schreckhaft und in gewissem
Masse unberechenbar seien. Der Reitsport sei daher grundsätzlich
gefährlich, was jedem Reiter bewusst sei. Er habe, indem er die Pferde
nach dem zweiten Ausbrechen erneut habe im Schritt dem Hufgang entlang
schreiten lassen, angemessen reagiert. Ausserdem sei für ihn nicht
voraussehbar gewesen, dass seine wiederholte Anordnung, vom Schritt
in den Trab überzugehen, eine derart unglückliche Verletzung der
Beschwerdegegnerin bewirken würde.

    b) Die Vorinstanz gelangt zum Schluss, der Beschwerdeführer habe
spätestens dann sorgfaltswidrig gehandelt, als er die Schülerinnen zum
dritten Mal anwies, vom Schritt in den Trab zu wechseln. Aufgrund des
vorangegangenen Verhaltens des Pferdes "Amigo" habe er davon ausgehen
müssen, dass dieses ein weiteres Mal bocken und losgaloppieren
könnte. Er hätte es daher nicht erneut mit derselben Massnahme,
nämlich der Beruhigungsphase im Schritt, bewenden lassen dürfen,
die sich bereits vorgängig als untauglich erwiesen hatte. Überhaupt
hätte der Beschwerdeführer angesichts des Risikos, dass die Pferde
erneut durchbrennen könnten, nicht ein weiteres Mal den Wechsel in den
Trab anordnen dürfen, es sei denn, er hätte das Pferd "Amigo" selber
geritten. Überdies sei voraussehbar gewesen, dass ein nochmaliges
Durchbrennen von "Amigo" die übrigen Pferde veranlassen würde, es ihm
gleich zu tun, und dass dies zum Sturz einzelner Schülerinnen und damit
zu mehr oder minder schweren Verletzungen führen könnte. Damit habe der
Beschwerdeführer den Tatbestand der fahrlässigen schweren Körperverletzung
erfüllt.

    c) Ein Schuldspruch gemäss Art. 125 StGB setzt unter anderm voraus,
dass der strafbare Erfolg durch ein sorgfaltswidriges Verhalten des Täters
verursacht worden ist. Der Beschwerdeführer wendet sich einzig gegen die
Schlussfolgerung der Vorinstanz, er habe sich pflichtwidrig unvorsichtig
verhalten und seine Anordnung sei adäquat kausal für die Verletzungen
der Geschädigten gewesen. Die Prüfung der weiteren Tatbestandselemente
der fahrlässigen Körperverletzung kann somit unterbleiben (BGE 124 IV
53 E. 1).

    d) Fahrlässig begeht der Täter ein Verbrechen oder Vergehen, wenn die
Tat darauf zurückzuführen ist, dass er die Folgen seines Verhaltens aus
pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder darauf nicht Rücksicht
genommen hat (Art. 18 Abs. 3 Satz 1 StGB). Ein Schuldspruch wegen eines
Fahrlässigkeitsdelikts setzt somit voraus, dass der Täter den Erfolg
durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht hat. Sorgfaltswidrig
ist die Handlungsweise, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund
der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte
Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen
und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten
hat (Art. 18 Abs. 3 Satz 2 StGB). Wo besondere Normen ein bestimmtes
Verhalten gebieten, bestimmt sich das Mass der dabei zu beachtenden
Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften. Fehlen solche, kann
auf analoge Regeln privater oder halbprivater Vereinigungen abgestellt
werden, sofern diese allgemein anerkannt sind. Das schliesst nicht aus,
dass der Vorwurf der Fahrlässigkeit auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze
wie etwa den allgemeinen Gefahrensatz gestützt werden kann (BGE 126 IV
13 E. 7a/bb mit Hinweisen).

    Grundvoraussetzung für das Bestehen einer Sorgfaltspflichtverletzung
und mithin für die Fahrlässigkeitshaftung ist die Vorhersehbarkeit
des Erfolgs. Die zum Erfolg führenden Geschehensabläufe müssen für den
konkreten Täter mindestens in seinen wesentlichen Zügen voraussehbar sein
(STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 2. Aufl., Bern
1996, § 16 N. 16; TRECHSEL/NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil
I, 5. Aufl., Zürich 1998, S. 269 f.). Zunächst ist daher zu fragen, ob
der Täter eine Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte voraussehen
bzw. erkennen können und müssen. Für die Beantwortung dieser Frage gilt der
Massstab der Adäquanz. Danach muss sein Verhalten geeignet sein, nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen des Lebens einen Erfolg
wie den eingetretenen herbeizuführen oder mindestens zu begünstigen. Die
Adäquanz ist nur zu verneinen, wenn ganz aussergewöhnliche Umstände, wie
das Mitverschulden eines Dritten oder Material- oder Konstruktionsfehler,
als Mitursachen hinzutreten, mit denen schlechthin nicht gerechnet werden
musste und die derart schwer wiegen, dass sie als wahrscheinlichste
und unmittelbarste Ursache des Erfolges erscheinen und so alle anderen
mitverursachenden Faktoren - namentlich das Verhalten des Angeschuldigten
- in den Hintergrund drängen (BGE 126 IV 13 E. 7a/bb; 122 II 315 E. 3c;
122 IV 17 E. 2c/bb).

    e) Für die Erteilung von Reitunterricht bestehen in der Schweiz keine
staatlichen Vorschriften. Auch der Schweizerische Verband für Berufsreiter
und Reitschulbesitzer (S.V.B.R) hat in dieser Hinsicht bisher keine
Regeln aufgestellt. Indes hat die Schweizerische Beratungsstelle für
Unfallverhütung (bfu) im Jahre 1996 in Zusammenarbeit mit dem S.V.B.R.,
dem Schweizerischen Verband für Pferdesport (SVP) und der Eidgenössischen
Sportschule Magglingen (ESSM) das Merkblatt "Reiten. Aber sicher"
(Mb 9623/1) herausgegeben. Darin werden Hinweise auf die speziellen
Verhaltensweisen der Pferde gegeben und Ratschläge für deren Pflege und den
Umgang mit ihnen erteilt. Ferner werden die Ausrüstung für Reiter und Pferd
sowie das Verhalten im Gelände und die Sicherheit durch qualifizierte
Ausbildung erläutert. Welche Vorsichtsmassnahmen vom Reitlehrer im
Unterricht allgemein zu treffen sind und wie in heiklen Situationen zu
reagieren ist, lässt sich dem Merkblatt indes nicht entnehmen. Immerhin
geht daraus hervor, dass Pferde mit sehr feinen Sinnesorganen ausgestattet
sind und sofort auf jede Bewegung, fremde Geräusche oder Gerüche reagieren,
auf etwas Neues oder Unbekanntes oft mit Flucht, und dass sie sich als
Herdentiere von ihren Artgenossen beeinflussen lassen.

    Der Pferdefachmann B. hat in seinem Bericht an das Bezirksgericht
Lenzburg festgehalten, dass Anlässe wie die Springkonkurrenz, die
in unmittelbarer Nähe stattfand, beim Gewohnheitstier Pferd die
tägliche, gleichmässige Ruhe störe und gespannte, nervöse Reaktionen
hervorrufe. Dies sei zwar normal, rufe aber nach erhöhter Sorgfalt beim
Erteilen des Unterrichts, insbesondere bei Kinder- und Anfängerklassen.
Der Sachverständige C. vom S.V.B.R hat anlässlich der Ortsschau des
erstinstanzlichen Gerichts zum konkreten Vorfall Stellung genommen. Nach
seiner Ansicht hätte der Reitlehrer nach dem zweiten Ausscheren des Pferdes
"Amigo" eine Massnahme treffen, etwa das Tier selber übernehmen und von
zuhinterst die Klasse führen, müssen. Aus dieser Position hätte er ganz
sicher Einfluss auf das Geschehen behalten können.

    Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass der Beschwerdeführer,
nachdem das Pferd "Amigo" zum zweiten Mal ausgebrochen war, sich
nicht damit hätte begnügen dürfen, die Pferde noch einmal in den
Schrittgang zurückzubeordern, sondern beim erneuten Wechsel in den Trab
eine weitergehende Sicherheitsmassnahme hätte treffen müssen. Wohl
wäre ein Abbruch der Reitstunde nicht unbedingt notwendig, wenn auch
immerhin empfehlenswert gewesen. Jedenfalls wäre es geboten gewesen,
das unruhige Pferd selber zu reiten und erst dann erneut einen Wechsel
vom Schritt zum Trab zu befehlen. Nur eine solche Vorkehr hätte es
dem Beschwerdeführer erlaubt, die Lage in der Reithalle im Griff zu
behalten. Indem er davon absah und seine Lektion wie zuvor weiterführte,
schuf er eine Gefahrensituation, ohne gleichzeitig die erforderlichen
Sicherheitsmassnahmen zu treffen. Da er um das eingegangene Risiko und
die Gefährdung der Schülerinnen wusste, muss ihm dies als Verletzung
seiner Sorgfaltspflicht als Reitlehrer vorgeworfen werden. Soweit der
Beschwerdeführer vorbringt, auch die Pferde "Dubai" und "Aron" seien
unruhig gewesen, so dass ungewiss gewesen sei, welches Pferd er hätte
übernehmen sollen, richtet er sich in unzulässiger Weise gegen die
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
[SR 312.0]). Wenn er in diesem Zusammenhang auch die Ablehnung der Zeugen
D. und E. durch die Vorinstanz beanstandet, macht er eine Verletzung
des rechtlichen Gehörs geltend, worauf im Verfahren der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde nicht eingetreten werden kann (Art. 269 Abs. 2
BStP). Im Übrigen hätte die erwähnte Sicherheitsmassnahme nicht bloss
der Überwachung der Pferde dienen sollen, die nach der Auffassung des
Beschwerdeführers vom Boden aus ebenso gut hätte erfolgen können, sondern
der Erfüllung seiner Pflicht, die Situation während der ganzen Lektion
zu beherrschen und die Tiere sicher zu führen. Von dieser Pflicht kann
er sich nicht einfach mit dem Hinweis auf die mit dem Reitsport immer
verbundenen Gefahren entledigen. Dass er zudem in der heiklen Lage nicht
auf seine Schülerinnen vertrauen durfte, versteht sich von selber. Die
Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.

    f) Ebenfalls unbegründet ist die Beschwerde, soweit der
Beschwerdeführer den adäquaten Kausalzusammenhang bestreitet. Nach dem
Verlauf der Unterrichtsstunde bis zum zweiten Ausbrechen der Tiere war
es für den Beschwerdeführer voraussehbar, dass es beim erneuten Wechsel
vom Schritt in den Trab zu einem weiteren Ausscheren von "Amigo", zu
allgemeiner Unruhe und zum Abwerfen einer Reiterin mit den entsprechenden
Verletzungsgefahren kommen könnte. Insoweit ist die adäquate Kausalität
zwischen seinem Verhalten und den bei der Beschwerdegegnerin eingetretenen
Verletzungen gegeben. Mitursachen, mit denen schlechthin nicht hätte
gerechnet werden müssen und die das Verhalten des Beschwerdeführers in
den Hintergrund drängen würden, sind nicht ersichtlich. Der Schuldspruch
der fahrlässigen schweren Körperverletzung verstösst somit nicht gegen
Bundesrecht.