Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 IV 172



127 IV 172

28. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29.
Juni 2001 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden gegen
X. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 249 BStP; Art. 55 und 91 Abs. 2 SVG; Art. 138 Abs.  1 VZV. Fahren
in angetrunkenem Zustand; Nachweis der Angetrunkenheit.

    Die geeignete Untersuchungsmassnahme zur Feststellung der
Angetrunkenheit ist die Blutprobe. Wurde aber entgegen Art. 138 Abs. 2
VZV keine Blutprobe vorgenommen, obschon dies möglich gewesen wäre,
kann der Beweis der Fahruntauglichkeit durch Alkoholeinwirkung auch auf
anderem Wege, insbesondere durch einen eindeutigen Atemlufttest oder
Zeugenaussagen erbracht werden (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 12. Juni 1999 führte die Kantonspolizei Nidwalden beim
Motorfahrradfahrer X. zwei Atemlufttests (Dräger Alcotest) durch, die
einen Blutalkoholgehalt von 1,36 bzw. 1,54 Gewichtspromillen ergaben. Auf
die Durchführung einer Blutprobe wurde verzichtet.

    Nachdem der Verhörrichter des Kantons Nidwalden X. mit Strafbefehl
vom 25. August 1999 wegen Führens eines Motorfahrrades in angetrunkenem
Zustand (Art. 91 Abs. 2 SVG [SR 741.01]) zu einer Busse von Fr. 300.-
verurteilt hatte, sprach das Kantonsgericht des Kantons Nidwalden
diesen am 6. September 2000 von der Anklage des Fahrens in angetrunkenem
Zustand frei.

    Die durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden gegen dieses
Urteil gerichtete Appellation wies das Obergericht des Kantons Nidwalden
mit Urteil vom 18. Januar 2001 ab.

    B.- Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde vom 1./2. Mai 2001
beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Nidwalden vom 18. Januar 2001 vollumfänglich
aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Grundsatzes
der freien Beweiswürdigung im Sinne von Art. 249 BStP (SR 312.0). Diese
erblickt sie darin, dass die Vorinstanzen den Freispruch damit begründeten,
weder die durchgeführten Atemlufttests noch die Aussagen der Polizeibeamten
(Feststellung von Alkoholgeruch im Atem des Beschuldigten) dürften
als Beweismittel verwertet werden, weil keine Blutprobe durchgeführt
worden sei, wie dies Art. 138 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über
die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR
741.51) in jedem Fall vorschreibe, und damit der gesetzlich verlangte
Beweis nicht erhoben sei.

    a) Art. 249 BStP bestimmt, dass die entscheidende kantonale Behörde in
Bundesstrafsachen die Beweise frei würdigen soll und nicht an gesetzliche
Beweisregeln gebunden ist. Die Bestimmung will sicherstellen, dass die
Organe der Strafrechtspflege frei von Beweisregeln und nur nach ihrer
persönlichen Ansicht aufgrund gewissenhafter Prüfung darüber entscheiden,
ob sie eine Tatsache für bewiesen halten. Daraus folgt, dass die Bestimmung
dem Richter bloss verbietet, bei der Erhebung von Beweisen und der
Würdigung erhobener Beweise gesetzlichen Regeln - z.B. Verwertungsverboten
- zu folgen, die die eigene Prüfung und Bewertung der Überzeugungskraft von
Beweismitteln ausschliessen. Eine Verletzung von Art. 249 BStP liegt mithin
nur vor, wenn bestimmten Beweismitteln von vornherein in allgemeiner Weise
die Beweiseignung abgesprochen wird oder wenn der Richter im konkreten
Fall bei der Würdigung der Beweise im Ergebnis nicht seiner eigenen
Überzeugung folgt (BGE 127 IV 46 E. 1c). Dagegen steht der Grundsatz der
freien Beweiswürdigung nicht Beweisbeschränkungen entgegen, die sich daraus
ergeben, dass das Gesetz den Richter anhält, sich bei Feststellung einer
Tatsache gewisser Beweismittel zu bedienen; dann darf er die Feststellung
nicht treffen, ohne den gesetzlich verlangten Beweis zu erheben und seine
Beweiskraft zu prüfen; unterlässt er es, verletzt er die Vorschrift,
die ihn zur Erhebung des Beweises verpflichtet (BGE 103 IV 299 E. 1a).

    b) Gemäss Art. 55 Abs. 2 SVG sind Fahrzeugführer, bei denen
Anzeichen von Angetrunkenheit vorliegen, geeigneten Untersuchungen zu
unterziehen. Die Blutprobe kann angeordnet werden. Nach Art. 55 Abs. 4 SVG
erlässt der Bundesrat Vorschriften über das Vorgehen bei der Blutentnahme
und über die technische Auswertung der Blutprobe sowie über die zusätzliche
ärztliche Untersuchung des der Angetrunkenheit Verdächtigten.

    Nach Art. 138 Abs. 1 VZV ist die Blutprobe die geeignete
Untersuchungsmassnahme, der sich Fahrzeugführer zur Feststellung der
Angetrunkenheit nach Art. 55 SVG zu unterziehen haben. Die Blutprobe ist
vorzunehmen, wenn Anzeichen von Angetrunkenheit bestehen oder wenn jemand
sie an sich selbst zu seiner Entlastung verlangt (Abs. 2). Zur Vorprobe
kann ein Atemprüfgerät verwendet werden. Von den weiteren Untersuchungen
wird abgesehen, wenn die Atemprobe einen Alkoholgehalt von weniger als 0,6
Gewichtspromillen ergibt (Abs. 3). Wenn wichtige Gründe vorliegen, kann
die Blutprobe gegen den Widerstand des Verdächtigten durchgeführt werden
(Abs. 5). Vorbehalten bleiben weitergehende Bestimmungen des kantonalen
Prozessrechts, ferner die Feststellung der Angetrunkenheit aufgrund
von Zustand und Verhalten des Verdächtigten oder durch Ermittlung über
den Alkoholkonsum und dergleichen, namentlich wenn die Blutprobe nicht
vorgenommen werden kann (Abs. 6).

    c) Die Vorinstanz vertritt im angefochtenen Entscheid die Auffassung,
aus dieser Regelung ergebe sich, dass die Blutprobe bei Anzeichen von
Angetrunkenheit zwingend vorzunehmen sei. Wenn dies - obwohl möglich -
nicht geschehe, sei der gesetzlich verlangte Beweis nicht erbracht
und das Gericht dürfe die Feststellung der Angetrunkenheit nicht
treffen. Insbesondere dürfe zur Feststellung der Angetrunkenheit das
Ergebnis einer Atemprobe nur berücksichtigt werden, wenn diese als Vorprobe
genommen worden sei und die Umrechnung der Atemalkoholkonzentration
auf die Blutalkoholkonzentration ein eindeutiges Ergebnis ergeben habe,
jedoch keine Blutprobe habe durchgeführt oder diese nicht habe analysiert
werden können. Sie beruft sich dazu auf BGE 116 IV 76 (E. 4b) und 123 II
105 (E. 3c/bb). Mit dem Verzicht auf die Blutprobe sei im vorliegenden
Fall die Beweisregel von Art. 138 Abs. 2 VZV verletzt worden, welche die
Erhebung einer solchen vorschreibe. Die Ergebnisse der beiden Atemlufttests
dürften somit nicht berücksichtigt werden; dasselbe gelte damit für die
Aussagen der als Zeugen befragten Polizisten.

    d) Die geeignete Untersuchungsmassnahme zur Feststellung der
Angetrunkenheit ist die Blutprobe, wie Art. 138 Abs. 1 VZV ausdrücklich
festhält. Wird sie nicht angeordnet und durchgeführt, besteht die Gefahr
von Beweisschwierigkeiten. Die Untersuchungsbehörden sind deshalb
gehalten, eine Blutprobe, soweit möglich, durchzuführen. Daraus folgt
jedoch nicht, dass dort, wo - obwohl dies möglich gewesen wäre -
keine Blutprobe abgenommen wurde, der Beweis der Angetrunkenheit nicht
mit anderen Mitteln geführt werden dürfte. Art. 138 Abs. 6 VZV behält
denn auch ausdrücklich die Ermittlung der Angetrunkenheit auf andere
Weise vor (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 8. August
1989 i.S. S. gegen Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen
gegenüber Fahrzeugführern, E. 3a: in diesem Fall wurde die Anerkennung
des Atemlufttestes von 0,9 Gewichtspromillen und der Fahrunfähigkeit
durch den Beschuldigten im Rahmen der Beweiswürdigung als ausreichender
Beweis anerkannt). Dies ergibt sich schon aus dem Grundsatz der freien
Beweiswürdigung gemäss Art. 249 BStP. Der Bundesrat hätte deshalb
gestützt auf Art. 55 SVG gar nicht die Kompetenz, auf dem Wege der
Verordnung die Blutprobe als alleiniges Beweismittel festzulegen und
damit eine Verurteilung gestützt auf andere Beweismittel auszuschliessen
(unveröffentl. Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 1994 i.S. M. gegen Ö.,
E. 2d; vgl. auch JÖRG REHBERG, Neuere Gerichtsentscheide zum Thema "Alkohol
am Steuer", in: recht 1996 S. 81). Der Beweis der Fahruntauglichkeit durch
Alkoholeinwirkung ist somit auch auf anderem Wege als über die Bestimmung
des Blutalkoholgehaltes möglich.

    Auch das Ergebnis der Atemprobe kann daher ein Indiz bzw.  Beweismittel
für Angetrunkenheit bilden. Dies gilt umso mehr, als die neueren
Atemalkoholmessgeräte in Bezug auf die Atemalkoholkonzentration (AAK) recht
genaue Ergebnisse liefern, wenn sie nach Vorschrift bedient werden. Auch
eine falsche Atemtechnik verfälscht das Resultat in der Regel nicht mehr,
da moderne Geräte nur eine Luftprobe der Messeinheit zuführen, wenn
der Atemstoss korrekt erfolgt. Zudem sind die luftführenden Geräteteile
thermostatisiert, womit geräteintern den Auswirkungen der unterschiedlichen
Temperaturen der Atemluft begegnet wird. Die gängigen Geräte zeigen aber
als Messergebnis nicht die AAK an, sondern rechnen diesen Wert mittels
eines Durchschnittsfaktors in die Blutalkoholkonzentration (BAK) um. Die
so ermittelte BAK muss folglich nicht mit der BAK als Ergebnis einer
Blutprobe übereinstimmen. Zudem können die Ergebnisse des Atemtests und der
Blutprobe je nach Zeitpunkt der Testvornahme voneinander abweichen. Die
Ursache für diese Abweichungen liegt im Wesentlichen in den Lungen des
Probanden, namentlich in Unregelmässigkeiten der Lungendurchblutung und
des Gasaustauschs. Weitere Faktoren, die unterschiedliche Resultate
bewirken können, sind der Zeitpunkt des Atemtests, die Körpertemperatur
sowie Alter, Geschlecht und Konstitution des Probanden. Alle Faktoren
zusammen können dazu führen, dass das Ergebnis des Alcotests bis zu
etwa 20% über oder unter der mittels Blutprobe festgestellten BAK liegt
(BGE 119 IV 255 E. 2a). Die Atemalkoholanalytik stellt damit - trotz
der damit verbundenen Unsicherheiten (vgl. dazu auch THOMAS SIGRIST,
Zum Nachweis der Fahrunfähigkeit wegen Angetrunkenheit - Atemtest
versus Blutalkoholbestimmung, in: AJP 1996 S. 1111 ff.) - ein in
sich geschlossenes und widerspruchsfreies Verfahren zur Beurteilung
des Alkoholisierungsgrades eines Probanden dar. Es besteht daher
kein sachlicher Grund dafür, die Verurteilung eines Fahrzeuglenkers
zwar etwa gestützt auf Zeugenaussagen über dessen Zustand bzw. den
Alkoholkonsum (vgl. Art. 138 Abs. 6 VZV), nicht hingegen aufgrund des
Ergebnisses eines Atemlufttests zuzulassen. Denn der Verordnungsgeber
misst dem Atemlufttest als Beweismittel gegenüber der zuverlässigeren
Blutprobe lediglich weniger Bedeutung zu (unveröffentlichtes Urteil des
Bundesgerichts vom 6. Mai 1992 i.S. S. gegen Verwaltungsrekurskommission
des Kantons St. Gallen, E. 2). Das Bundesgericht erkannte in diesem
Urteil, wegen der mit dem Atemlufttest verbundenen Ungenauigkeiten (es
verwies dabei auf die für die Anordnung der Blutprobe festgelegte Grenze
eines Atemlufttestergebnisses von 0,6 Gewichtspromillen, bei welcher
eben eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,8 Gewichtspromillen
noch möglich sei) könne ein Atemlufttestergebnis von 0,87 bzw. 0,90
Gewichtspromillen von Bundesrechts wegen nicht eine ausreichende Grundlage
für die Feststellung einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,8
Gewichtspromillen bilden; ob ein Atemlufttestergebnis von 1,0 oder erst
1,2 Gewichtspromillen oder gar ein noch höheres Ergebnis dazu ausreiche,
wurde offen gelassen (E. 2). Dem eindeutigen Ergebnis eines Atemlufttests
indessen von vornherein jeglichen Beweiswert abzusprechen, widerspricht
nicht nur Art. 138 Abs. 6 VZV, sondern auch dem Grundsatz der freien
Beweiswürdigung (vgl. BGE 123 II 97 E. 3c/bb).

    Auch wenn die Polizei daher im vorliegenden Fall entgegen Art. 138
Abs. 2 VZV keine Blutprobe vorgenommen hat, obschon dies möglich
gewesen wäre, war es dem Verhörrichter bundesrechtlich nicht verwehrt,
die Angetrunkenheit gestützt auf das Beweismittel des eindeutigen
Atemlufttests - mit zwei Messungen von 1,36 und 1,54 Gewichtspromillen und
damit ausgehend vom tieferen Wert nach Abzug der möglichen Abweichung
von 20% immer noch über 1,08 Gewichtspromillen - festzustellen
(vgl. unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 1994
i.S. M. gegen Öffentliches Amt des Kantons Wallis, E. 2d). Dies gilt erst
recht für die Zeugenaussagen der befragten Polizisten.

    e) Es kommt hinzu, dass es dem Beschuldigten frei steht, in Kenntnis
des Ergebnisses des Atemlufttests, welches ihm unverzüglich bekannt gegeben
wird, auf der Durchführung einer Blutuntersuchung zu bestehen, auf welche
er gemäss Art. 138 Abs. 2 VZV zu seiner Entlastung grundsätzlich Anspruch
hat. Das hat der Beschuldigte nicht getan.

    f) Indem die Vorinstanzen Art. 138 VZV dahingehend auslegen, diese
Bestimmung schliesse von vornherein den Nachweis der Angetrunkenheit
mittels anderer Beweismittel wie Atemlufttest und Zeugenbefragung aus, wenn
keine Blutprobe abgenommen worden sei, obwohl dies ohne weiteres möglich
gewesen wäre, verletzten sie nach dem oben ausgeführten Bundesrecht,
d.h. Art. 138 VZV und Art. 249 BStP.