Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 II 297



127 II 297

30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. Juni 2001
i.S. Bundesamt für Strassen (Beschwerdeführer 1) gegen A. und
i.S. A. (Beschwerdeführer 2) gegen Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn
(Verwaltungsgerichtsbeschwerden)

Regeste

    Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG; Unterschreitung der gesetzlichen
Mindestentzugsdauer von sechs Monaten.

    Die gesetzliche Mindestentzugsdauer für Führerausweise von sechs
Monaten gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG kann unterschritten werden,
wenn seit dem massnahmeauslösenden Ereignis verhältnismässig viel Zeit
verstrichen ist, der fehlbare Lenker die lange Verfahrensdauer nicht
verschuldet und sich in dieser Zeit wohl verhalten hat.

Sachverhalt

    Am 21. Januar 1997 eröffnete die Motorfahrzeugkontrolle des Kantons
Solothurn gegen A. ein Administrativverfahren, weil er im September und
Oktober 1996 ein Fahrzeug gelenkt hatte, obwohl ihm am 4. Juni 1996 der
Führerausweis für elf Monate entzogen worden

war. Das Administrativverfahren wurde bis zum rechtskräftigen Abschluss des
parallel geführten Strafverfahrens sistiert. Mit Schreiben vom 12. März
1997 forderte die Administrativbehörde das Untersuchungsrichteramt auf,
ihr die Untersuchungsakten nach rechtskräftiger Erledigung zuzustellen.

    Am 11. Juni 1997 wurde A. wegen Fahrens trotz Entzugs des
Führerausweises schuldig gesprochen und zu einer bedingten Haftstrafe
von drei Wochen sowie zu einer Busse von Fr. 500.- verurteilt. Der
Strafentscheid wurde der Administrativbehörde jedoch nicht mitgeteilt.

    Mit Gesuch vom 30. August 2000 forderte die Administrativbehörde das
Untersuchungsrichteramt erneut auf, ihr die Akten nach rechtskräftiger
Erledigung des Strafverfahrens zukommen zu lassen, was dann am
7. September 2000 geschah. Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs
entzog die Administrativbehörde mit Verfügung vom 15. Dezember 2000 A.
den Führerausweis für sechs Monate.

    Auf Beschwerde von A. hin reduzierte das Verwaltungsgericht des
Kantons Solothurn die Entzugsdauer auf drei Monate.

    Das Bundesamt für Strassen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, das vorinstanzliche Urteil sei aufzuheben und der Führerausweis
sei A. für sechs Monate zu entziehen.

    Ebenfalls Verwaltungsgerichtsbeschwerde führt A., mit den Anträgen,
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für Strassen sei
abzuweisen und auf den Entzug des Führerausweises sei ganz zu verzichten.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn beantragt die Abweisung
der Beschwerde des Bundesamtes für Strassen; zur Beschwerde von A. äussert
es sich nicht.

    Das Bundesgericht weist beide Beschwerden ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann die Verletzung von
Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens,
nicht aber Unangemessenheit gerügt werden (Art. 104 OG). Nachdem als
Vorinstanz eine richterliche Behörde entschieden hat, ist das Bundesgericht
an die Feststellung des Sachverhaltes gebunden, soweit dieser nicht
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist (Art. 105 Abs. 2 OG).

    b) Der Sachverhalt wird von keinem der Beschwerdeführer angefochten. Es
steht somit fest, dass der Beschwerdeführer 2 am 11. Juni 1997 wegen
Autofahrens im September und Oktober 1996 trotz Entzugs des Führerausweises
schuldig gesprochen worden ist. Weil die Strafverfolgungsbehörden dieses
Urteil den Administrativbehörden erst am 7. September 2000 auf eine zweite
Aufforderung hin mitteilten, konnte das Administrativverfahren erst am
15. Dezember 2000 abgeschlossen werden. Fest steht damit auch, dass der
Beschwerdeführer 2 die mehr als dreijährige Verfahrensverzögerung, die
ausschliesslich auf einen Fehler innerhalb der staatlichen Verwaltung
zurückzuführen ist, nicht zu vertreten hat.

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG (SR 741.01) ist der
Führerausweis für mindestens sechs Monate zu entziehen, wenn eine Person
ein Fahrzeug lenkt, obwohl ihr der dafür erforderliche Führerausweis
entzogen worden ist. Dieser Sachverhalt ist in casu erfüllt. Es stellt
sich somit die Frage, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie
die gesetzliche Mindestentzugsdauer von sechs Monaten unterschritten hat.

    b) Die Vorinstanz geht unter Hinweis auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung davon aus, dass die gesetzliche Mindestentzugsdauer
unter folgenden kumulativen Voraussetzungen unterschritten werden dürfe:
Zwischen dem massnahmeauslösenden Ereignis und der Massnahmeverfügung
müsse relativ viel Zeit verstrichen sein, den Beschwerdeführer dürfe keine
Schuld an der langen Verfahrensdauer treffen, und der Beschwerdeführer
müsse sich in dieser Zeit wohl verhalten haben. Da diese Voraussetzungen
in casu erfüllt seien, könne die gesetzliche Minimalfrist unterschritten
werden. Der Beschwerdeführer 2 teilt diese Auffassung.

    c) Das beschwerdeführende Amt wendet mit seiner Eingabe dagegen
ein, dass Ausnahmen von der gesetzlichen Minimalfrist nur unter
restriktiven Bedingungen zuzulassen seien. Das Bundesgericht habe
Ausnahmen nur bei einer Verfahrensdauer von fünfeinhalb und mehr Jahren
zugelassen. Vorliegend habe die Dauer zwischen dem massnahmeauslösenden
Ereignis und dem letztinstanzlichen kantonalen Entscheid vier Jahre und
fünf Monate betragen, weshalb sich ein Unterschreiten der Grenze von sechs
Monaten nicht rechtfertige. Im Übrigen habe sich der Beschwerdeführer
auch widersprüchlich verhalten: Er habe nach Rechtskraft des Strafurteils
gewusst, dass ihm zusätzlich ein Führerausweisentzug drohe und dass das
entsprechende Verfahren fortzusetzen wäre. Zwar habe er keine Pflicht
gehabt, den Strafentscheid der Administrativbehörde selbst mitzuteilen,

doch handle widersprüchlich, wer die Zeit verstreichen lasse und sich
anschliessend auf die überlange Verfahrensdauer berufe. Solches Verhalten
verdiene keinen Schutz.

    d) Unter den von der Vorinstanz in Übereinstimmung mit der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung genannten Voraussetzungen kann die
gesetzliche Minimaldauer von sechs Monaten gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG
unterschritten werden. Fest steht, dass zwischen dem massnahmeauslösenden
Ereignis und dem letztinstanzlichen kantonalen Entscheid rund viereinhalb
Jahre verstrichen sind, dass sich der Beschwerdeführer seither wohl
verhalten hat und dass ihn keine Schuld an der langen Verfahrensdauer
trifft. Strittig ist allein, ob die Verfahrensdauer von rund viereinhalb
Jahren das Unterschreiten der gesetzlichen Limite von sechs Monaten
Führerausweisentzug rechtfertigen kann. Das Bundesgericht hat seine
Rechtsprechung in BGE 120 Ib 504 (vgl. dort, mit Hinweisen; bestätigt mit
BGE 122 II 180) mit den folgenden beiden wesentlichen Motiven begründet:
Der Warnungsentzug sei eine Administrativmassnahme mit erzieherischem
Charakter; ausserdem weise er eine gewisse Strafähnlichkeit auf. Beide
Charakteristika sprechen für eine Milderung der Sanktion, wenn seit dem
massnahmeauslösenden Ereignis viel Zeit verstrichen ist.

    Die Erziehung und Besserung eines Täters setzt voraus, dass
die Massnahme in einem angemessenen zeitlichen Zusammenhang mit der
sanktionierten Regelverletzung steht. Ausserdem wird mit dem Zeitablauf
die Erforderlichkeit einer erzieherischen Sanktion relativiert, wenn sich
der Täter in dieser Zeit wohl verhalten hat.

    Insofern ein Warnungsentzug strafähnlich ist, sind die strafrechtlichen
Verjährungsregeln sinngemäss beizuziehen, weil das SVG die Verjährung
für diese Massnahme nicht regelt; die lückenhafte gesetzliche Regelung
könnte andernfalls zu unerträglichen Härtefällen führen (vgl. BGE 120 Ib
504 E. 4d).

    Welche Verfahrensdauer als überlang zu gelten hat, lässt sich nicht
abstrakt und in absoluten Zahlen ausdrücken. Für die Beantwortung der
Frage sind die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. In
seiner bisherigen Rechtsprechung hat das Bundesgericht eine überlange
Verfahrensdauer bei fünfeinhalb oder mehr Jahren angenommen.
Dem Entscheid BGE 120 Ib 504, bei dem eine fünfeinhalbjährige
Verfahrensdauer als überlang qualifiziert wurde, lag ein Sachverhalt
zugrunde, der zu einer Bestrafung wegen grober Verkehrsregelverletzung
geführt hatte. Die strafrechtliche Verjährungsfrist für das Vergehen der
groben Verkehrsregelverletzung

beträgt fünf bzw. siebeneinhalb Jahre. In casu liegt lediglich eine
Übertretung vor (Art. 95 Ziff. 2 SVG); die strafrechtliche Verjährungsfrist
beträgt mithin zwei Jahre. Bereits aus diesem Grund unterscheidet sich
der vorliegende Fall wesentlich vom Sachverhalt des zitierten Entscheides,
weshalb vorliegend nicht erst eine Verfahrensdauer von fünfeinhalb Jahren
als überlang bezeichnet werden kann. Es wäre stossend, wenn eine volle
verwaltungsrechtliche Sanktion mit strafähnlichem Charakter angeordnet
würde, obwohl das sanktionierte Verhalten unter strafrechtlichem
Gesichtspunkt bereits verjährt ist.

    Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Verfahrensdauer
von rund viereinhalb Jahren darauf zurückzuführen ist, dass die
Verfahrensakten während drei Jahren und zwei Monaten wegen eines Fehlers
der Strafverfolgungsbehörden unbearbeitet liegen geblieben sind. Während
im Entscheid BGE 120 Ib 504 die lange Verfahrensdauer vom Beschwerdeführer
zwar nicht verschuldet, aber doch mit der Ergreifung eines Rechtsmittels
mitverursacht worden ist, liegen die Umstände in casu auch in dieser
Hinsicht anders: Der Beschwerdeführer 2 hat das ein halbes Jahr nach
Verfahrenseröffnung ergangene Strafurteil angenommen. Einer zügigen
Abwicklung des Administrativverfahrens hätte nichts entgegengestanden.

    Unbegründet ist die Rüge des Beschwerdeführers 1, wonach sich der
Beschwerdeführer 2 widersprüchlich verhalten habe. Dieser hatte weder
die Pflicht noch die Obliegenheit, das Administrativverfahren gegen
sich selbst in Gang zu halten, indem er die zuständige Behörde über den
Abschluss des Strafverfahrens hätte ins Bild setzen müssen. Deshalb ist es
ihm unbenommen, sich auf die überlange Verfahrensdauer zu berufen. Dürfte
er dies nicht, würde die Pflicht oder die Obliegenheit, ein Verfahren
gegen sich selbst in Gang zu halten, indirekt statuiert.

    e) Demnach kann festgestellt werden, dass die Vorinstanz kein
Bundesrecht verletzt hat, indem sie die gesetzliche Minimalfrist von
sechs Monaten gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG unterschritten hat.