Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 576



127 III 576

99. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. September 2001
i.S. X. GmbH gegen Y. SA (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

    Offensichtliches Versehen im internationalen Schiedsverfahren;
Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG).

    Nicht jedes offensichtliche Versehen stellt eine Verletzung
des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG
dar. Voraussetzungen, unter denen ein offensichtliches Versehen zu
einer formellen Rechtsverweigerung und damit zu einer Verletzung des
Gehörsanspruchs führt (E. 2).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin rügt, dem Schiedsgericht seien
diverse offensichtliche Versehen unterlaufen. Dies stelle gemäss der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 121 III 331 ff.) eine formelle
Rechtsverweigerung dar und verletze den Anspruch der Beschwerdeführerin
auf rechtliches Gehör.

    a) In der Lehre wird auf die Problematik der vom Bundesgericht im
angeführten Entscheid getroffenen Unterscheidung zwischen einer formellen
und einer materiellen Rechtsverweigerung

hingewiesen (KNOEPFLER/SCHWEIZER, in: SZIER 1996 S. 572; JERMINI,
Die Anfechtung der Schiedssprüche im internationalen Privatrecht,
Diss. Zürich 1997, S. 232 f.; vgl. auch AUBERT, Bundesstaatsrecht
der Schweiz, Basel 1995, Bd. II, N. 1797 S. 838). Ebenso wird die
Diskrepanz zwischen einer bewusst willkürlichen Beweiswürdigung des
Schiedsgerichts und einem offensichtlichen Versehen in Bezug auf
entscheidrelevante Tatsachen hervorgehoben. Während Erstere nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht korrigiert werden könne, führe
Letzteres zur Aufhebung des Entscheides, selbst wenn es für den Ausgang
des Verfahrens nicht ausschlaggebend gewesen sei (KNOEPFLER/SCHWEIZER,
in: SZIER 1996 S. 572). Auch die Vornahme der Abgrenzung im konkreten
Fall wird in Frage gestellt und die Befürchtung geäussert, die
Parteien könnten unter dem Mantel der formellen Rechtsverweigerung die
Beweiswürdigung des Schiedsgerichts in Frage stellen. Daher sei eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs nur restriktiv anzunehmen und auf
die Fälle zu beschränken, in denen das Schiedsgericht eine Aktenstelle
übersehe. Sofern es eine Aktenstelle berücksichtige, aber missverstehe,
liege dagegen fehlerhafte Beweiswürdigung vor (JERMINI, aaO, S.
233). PATOCCHI/GEISINGER (Internationales Privatrecht, Zürich 2000,
N. 25.2 zu Art. 190 IPRG S. 621) interpretieren den Entscheid dahin, dass
ein Versehen des Schiedsgerichts dann eine Verletzung des Gehörsanspruchs
darstellt, wenn sich die Parteien im Verfahren über diese Frage einig
waren, während RÜEDE/HADENFELDT (Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht,
Supplement zur 2. Aufl., Zürich 1999, S. 61) daraus ableiten, eine
Verweigerung des rechtlichen Gehörs liege vor, wenn der Schiedsrichter
versehentlich eine entscheidungserhebliche Behauptung einer Partei nicht
zur Kenntnis nehme. Andere Kommentatoren sprechen sich dafür aus, in
jedem offensichtlichen Versehen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
zu erkennen (BERTI/SCHNYDER, Basler Kommentar, N. 68 zu Art. 190 IPRG,
wohl auch HEINI, IPRG Kommentar, N. 36 zu Art. 190 IPRG). Vorab ist daher
die Tragweite des von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheides,
an dem das Bundesgericht auch in neuerer Rechtsprechung festgehalten hat
(Urteil des Bundesgerichts vom 22. Februar 1999, publiziert in: SZIER
2000 S. 575, E. 3b S. 578), zu erläutern.

    b) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin liegt nicht in jedem
offensichtlichen Versehen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das
Bundesgericht hat vielmehr festgehalten, dass eine offensichtlich falsche
oder aktenwidrige Feststellung für sich allein

nicht ausreiche, um einen internationalen Schiedsentscheid aufzuheben
(BGE 121 III 331 E. 3a S. 333). Der Anspruch auf rechtliches Gehör enthält
keinen Anspruch auf einen materiell richtigen Entscheid. Daher ist es
nicht Sache des Bundesgerichts, zu überprüfen, ob das Schiedsgericht
sämtliche Aktenstellen berücksichtigt und richtig verstanden hat. Im
Gegensatz zur Regelung des Schiedsgerichtskonkordats (Konkordat über
die Schiedsgerichtsbarkeit vom 27. März 1969; SR 279), wonach die Rüge
zulässig ist, der Schiedsspruch sei willkürlich, weil er auf offensichtlich
aktenwidrigen tatsächlichen Feststellungen beruhe (Art. 36 lit. f),
schränkt Art. 190 Abs. 2 IPRG (SR 291) dem Willen des Gesetzgebers
entsprechend aus Gründen der Effizienz der Schiedsgerichtsbarkeit
die Anfechtungsgründe erheblich ein (BGE 119 II 380 E. 3c S. 383 mit
Hinweis). Während der Entwurf des Bundesrates vom 10. November 1982
(BBl 1983 I 516) in Art. 177 Abs. 2 noch vorsah, die Anfechtung "wegen
offensichtlicher Rechtsverweigerung oder wegen Willkür" zuzulassen
(SCHWANDER, Einführung in das internationale Privatrecht, Bd. 2, Besonderer
Teil, St. Gallen 1997, S. 443 Fn. 75), beschränkte der Gesetzgeber die
materiellrechtliche Überprüfung eines internationalen Schiedsentscheides
durch das Bundesgericht auf die Frage, ob der Schiedsspruch mit dem Ordre
public vereinbar ist (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG; BGE 121 III 331 E. 3a
S. 333; 120 II 155 E. 6a S. 166; 117 II 604 E. 3 S. 606; 116 II 634 E. 4
S. 636 mit Hinweisen).

    c) Zu prüfen bleibt, unter welchen Umständen in einem einfachen
offensichtlichen Versehen, welches das Bundesgericht unter Vorbehalt
des Ordre public nicht korrigiert, auch eine formelle Rechtsverweigerung
liegt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen eines internationalen
Schiedsverfahrens entspricht im Wesentlichen den aus Art. 29 Abs. 2 BV
hergeleiteten Verfahrensgarantien mit Ausnahme der Pflicht zur Begründung
des Entscheides (BGE 116 II 373 E. 7b S. 374 f.; BERTI/SCHNYDER, aaO, N. 64
zu Art. 190 IPRG; RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht,
2. Aufl., Zürich 1993, S. 368 f.; kritisch VISCHER, IPRG Kommentar,
N. 17 zu Art. 182 IPRG, mit Hinweis). Er umfasst die Rechte der Parteien
auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der
Entscheidfindung (BGE 126 V 130 E. 2b S. 131 f. mit Hinweis). Die
Rechtsprechung leitet daraus insbesondere das Recht der Parteien ab,
sich über alle für das Urteil wesentlichen Tatsachen zu äussern, ihren
Rechtsstandpunkt zu vertreten, erhebliche Beweisanträge zu stellen,
an den Verhandlungen teilzunehmen,

sowie das Recht, in die Akten Einsicht zu nehmen (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56;
126 V 130 E. 2b S. 131 f., je mit Hinweisen).

    d) Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 190
IPRG ist nicht bereits gegeben, wenn ein offensichtliches Versehen zu
einem Fehlentscheid führt. Diesfalls handelt es sich um eine materielle
Rechtsverweigerung. Eine formelle Rechtsverweigerung liegt nur vor,
wenn den Parteien die Möglichkeit, am Prozess teilzunehmen, ihn zu
beeinflussen und ihren Standpunkt einzubringen, verbaut, mithin ihr
Anspruch auf rechtliches Gehör durch das offensichtliche Versehen faktisch
ausgehöhlt wird. Dies allein rechtfertigt, den Entscheid ohne Rücksicht auf
die materiellen Erfolgschancen der Beschwerde aufzuheben, da der Anspruch
auf rechtliches Gehör nicht die materielle Richtigkeit, sondern das Recht
auf Beteiligung der Parteien an der Entscheidfindung garantiert. Würde
der Schiedsentscheid bei jedem offensichtlichen Versehen ungeachtet
der materiellen Erfolgsaussichten der Beschwerde aufgehoben, käme dem
Bundesgericht im Rahmen der Schiedsbeschwerde eine Kognition zu, die es
in anderen Verfahren nicht einmal als ordentliche Rechtsmittelinstanz hat
(vgl. Art. 63 Abs. 2 OG; BGE 101 Ib 220 E. 1 S. 222; POUDRET, Commentaire
de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. II, Bern 1990, N 5.1
zu Art. 63 OG). Dies widerspricht dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers
(vgl. SCHWANDER, aaO, S. 443 Fn. 75).

    e) In dem BGE 121 III 331 zu Grunde liegenden Fall führten beide
Parteien aus, während einer gewissen Zeit seien Leistungen erbracht worden,
wogegen das Schiedsgericht infolge eines offensichtlichen Versehens davon
ausging, für den entsprechenden Zeitraum habe keine Partei die Erbringung
einer Leistung behauptet. Damit hat das Schiedsgericht nicht etwa die
ihm unterbreitete Streitfrage falsch entschieden, sondern vielmehr über
einen Sachverhalt geurteilt, der ihm gar nicht unterbreitet wurde. Im
Ergebnis war die Partei mit Bezug auf einen Teil der Klage nicht besser
gestellt, als wenn ihr das rechtliche Gehör überhaupt nicht gewährt
worden wäre, indem das Gericht infolge des Versehens eine wesentliche
Behauptung der Partei überhaupt nicht zur Kenntnis nahm (BGE 121 III
331 E. 3b S. 334). Die formelle Rechtsverweigerung liegt darin, dass
eine Partei ihren Standpunkt nicht in das Verfahren einbringen konnte,
so dass ihn das Gericht bei der Entscheidfindung nicht berücksichtigte
(vgl. ALBERTINI, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im
Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 2000, S. 90). Dabei
spielt keine Rolle, ob das Schiedsgericht

eine Aktenstelle überhaupt unberücksichtigt lässt oder
missversteht. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass eine Partei im Verfahren
benachteiligt worden ist (vgl. AUBERT, aaO, N. 1797 S. 837) und ihr
Mitwirkungsrecht derart entwertet wurde, dass sie im Ergebnis nicht besser
dasteht, als wenn ihr das rechtliche Gehör zu einer entscheidwesentlichen
Frage überhaupt nicht gewährt worden wäre.

    f) Wer aus einem offensichtlichen Versehen eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs ableiten will, kann sich demnach nicht darauf
beschränken, auszuführen, inwiefern das behauptete Versehen zu einer
fehlerhaften Beweiswürdigung führte, da darin, wie auch in einer
willkürlichen Beweiswürdigung, keine Verletzung des rechtlichen Gehörs
liegt. Die betreffende Partei hat vielmehr darzulegen, dass ihr das
richterliche Versehen verunmöglicht hat, ihren Standpunkt in Bezug auf
ein prozessrelevantes Thema in den Prozess einzubringen und zu beweisen.