Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 440



127 III 440

74. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. Mai 2001
i.S. A. gegen Genossenschaft B. (Berufung) Regeste

    Untergang von Dienstbarkeiten (Art. 734-736 ZGB).

    Der Untergang einer Dienstbarkeit ist, abgesehen von den gesetzlichen
Gründen, auch durch Verzicht möglich (E. 2a). Auf ein Wegrecht kann
implizit verzichtet werden, wenn dessen Ausübung mit einem späteren,
durch Dienstbarkeitsvertrag eingeräumten Recht auf Näherbau unvereinbar
ist (E. 2b). Erforderliche Aufmerksamkeit zum Schutz des guten Glaubens in
eine im Grundbuch eingetragene Dienstbarkeit (Art. 973 Abs. 1 i.V.m. Art. 3
Abs. 2 ZGB) (E. 2c).

Sachverhalt

    A. ist Eigentümer des Grundstücks Nr. 164. Dieses grenzt nördlich
an das Grundstück Nr. 162, welches im Miteigentum der Genossenschaft
B. und sechs weiteren Miteigentümern steht. Entlang der Westgrenze
beider Grundstücke verläuft die Strasse Q. Die damaligen Eigentümer
der Grundstücke vereinbarten mit Dienstbarkeitsverträgen vom 6. Oktober
1938 ein unbeschränktes Fuss- und Fahrwegrecht zugunsten von Grundstück
Nr. 164 und zulasten von Grundstück Nr. 162 (als Verbindung zwischen der
Strasse Q. und dem Hofraum auf Grundstück Nr. 164) sowie ein oberirdisches
Näherbaurecht bis auf 2 m an die Grenze zugunsten von Grundstück Nr. 162
und zulasten von Grundstück Nr. 164. Die Grundbucheinträge erfolgten am
gleichen Tag. Am 7./10. Dezember 1990 schlossen die damaligen Eigentümer
derselben Grundstücke - bei Grundstück Nr. 164 war dies die H. AG -
einen Dienstbarkeitsvertrag, der am 10. Dezember 1990 im Grundbuch
eingetragen wurde. Inhalt dieses Dienstbarkeitsvertrages war u.a.,
dass beide Grundeigentümer berechtigt seien, bis an die (gemeinsame)
Grundstücksgrenze zu bauen, was in der Folge bezüglich des Grundstückes
Nr. 162 getan wurde. Am 8. Juli 1997 erwarb A. das Grundstück Nr. 164.

    Mit Einreichung der Weisung am 14. Dezember 1998 erhob A.  beim
Bezirksgericht Arbon Klage gegen die Genossenschaft B. und sechs weitere
derzeitige Miteigentümer des Grundstückes Nr. 162. Er beantragte, es sei
festzustellen, dass das Fuss- und Fahrwegrecht zur Strasse Q. gemäss
Dienstbarkeitsvertrag und -eintrag von 1938 bestehe, und es seien die
Beklagten zu verpflichten, ihm dieses Recht innert angemessener Frist
wieder zur uneingeschränkten Ausnützung bereitzustellen; eventuell sei
ihm Schadenersatz zuzusprechen. Die Genossenschaft B. und sechs weitere
Miteigentümer erhoben Widerklage mit dem Antrag, das Grundbuchamt
sei anzuweisen, die beiden Dienstbarkeiten (Fuss- und Fahrwegrecht,
Näherbaurecht) gemäss den Dienstbarkeitsverträgen vom 6. Oktober 1938 zu
löschen. Mit Urteil vom 5. März 1999 wies das Bezirksgericht Arbon die
Klage von A. ab und hiess die Widerklage der Genossenschaft B. und sechs
weiteren Miteigentümern gut. Das Obergericht des Kantons Thurgau wies
mit Urteil vom 30. November 1999 die Berufung von A. ab und bestätigte
das erstinstanzliche Urteil.

    Das Bundesgericht weist die von A. erhobene Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Das Obergericht hat im Wesentlichen festgehalten, dass
einerseits der das Grenzbaurecht einräumende Dienstbarkeitsvertrag von
1990 und die nachfolgende Realisierung des Grenzbaurechts durch den
Eigentümer des Grundstückes Nr. 162, der sich die damalige Eigentümerin
des Grundstückes Nr. 164 nicht widersetzt habe, einen beidseitigen
stillschweigenden Verzicht auf die Dienstbarkeiten von 1938 (Fuss-
und Fahrwegrecht, Näherbaurecht) bzw. deren materiellen Untergang
beinhalte. Anderseits habe der Kläger bezüglich des Weiterbestehens dieser
Dienstbarkeiten trotz des nach wie vor bestehenden Grundbucheintrages
nicht gutgläubig sein dürfen.

    b) Der Kläger verneint einen Verzicht auf die Dienstbarkeiten von
1938. Zur Begründung bringt er im Wesentlichen vor, ein solcher Verzicht
sei nie bewiesen worden; vielmehr spreche der Brief vom 18. März 1992
der damaligen Eigentümerin des Grundstückes Nr. 164 (H. AG) gegen einen
Verzicht. Zudem sei eine Baueinsprache gegenüber dem Bauprojekt auf
Grundstück Nr. 162 deswegen nicht erfolgt, weil die damalige Eigentümerin
des Grundstücks Nr. 164 in Konkursliquidation gestanden habe. Hinsichtlich
seines guten Glaubens beruft sich der Kläger auf den Grundbucheintrag
und die gesetzliche Vermutung des guten Glaubens.

Erwägung 2

    2.- a) Von den gesetzlichen Gründen für den Untergang von
Dienstbarkeiten (Art. 734-736 ZGB) steht im konkreten Fall keiner in
Frage. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die Aufzählung dieser Gründe
nicht abschliessend ist und insbesondere auch ein - ausdrücklicher oder
stillschweigender - Verzicht auf eine Dienstbarkeit, unter Einschluss
von entsprechend eindeutigem konkludentem Verhalten, zum Untergang führt
(Urteil des Bundesgerichts vom 19. November 1997 i.S. Z. [5C.177/1997],
E. 3a, publiziert in: ZBGR 80/1999 S. 125 f.; LIVER, Zürcher Kommentar,
N. 197 ff. zu Art. 734 ZGB; RIEMER, Die beschränkten dinglichen Rechte,
2. Aufl. 2000, § 11 Rz. 30). Darunter fällt beispielsweise auch die
"Gestattung der Verbauung eines Wegrechts" (LIVER, aaO, N. 107 a.E. zu
Art. 734 ZGB), was a fortiori gelten muss, wenn dieses Gestatten in
Gestalt eines förmlichen Dienstbarkeitsvertrages erfolgt.

    b) Ein Verzicht im dargelegten Sinn ist vorliegend klarerweise zu
bejahen. Nach den Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz wurde mit dem
Dienstbarkeitsvertrag von 1990 den jeweiligen Eigentümern der Grundstücke
Nrn. 164 und 162 das Recht eingeräumt, gegenseitig an die Grenze zu
bauen; in der Folge wurde auf Grundstück Nr. 162 das Geschäftshaus
"I." bis an die gemeinsame Grundstücksgrenze hin erstellt. Indem
der damalige Eigentümer des Grundstückes Nr. 164 im Jahre 1990 dem
damaligen Eigentümer des Grundstückes Nr. 162 gestattete, gestützt auf das
Grenz- bzw. Näherbaurecht an die gemeinsame Grundstücksgrenze zu bauen,
verzichtete er implizit - aber dennoch offensichtlich - auf sein Fuss- und
Fahrwegrecht von 1938 über das Grundstück Nr. 162, da dessen Ausübung mit
der Dienstbarkeit von 1990 rechtlich und mit der Realisierung des Grenz-
und Näherbaurechts auch faktisch absolut unvereinbar war. Auf das Verhalten
des damaligen Eigentümers des Grundstücks Nr. 164 gegenüber der Ausübung
(Realisierung) dieses Grenz- und Näherbaurechts kommt es unter diesen
Umständen nicht einmal mehr entscheidend an. Der Kläger wendet sich mit
seinem Hinweis auf das Schreiben vom 18. März 1992 - da die Beweiswürdigung
im Berufungsverfahren nicht überprüfbar ist (BGE 122 III 219 E. 3c S. 223)
- ohnehin vergeblich gegen die verbindliche Feststellung des Obergerichts
(Art. 63 Abs. 2 OG), der damalige Eigentümer des Grundstücks Nr. 164
habe sich der Ausübung (Realisierung) des Grenz- und Näherbaurechts auf
Grundstück Nr. 162 nicht widersetzt. Im Übrigen kann der Kläger daraus,
dass die Untätigkeit des damaligen Eigentümers des Grundstückes Nr. 164
konkursbedingt war, nichts zu seinen Gunsten ableiten, da er sich heute
dessen Verhalten auf jeden Fall anrechnen lassen muss.

    c) Was den guten Glauben des Klägers in den Grundbucheintrag
(Art. 973 Abs. 1 ZGB) betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass dieser
Schutz nicht absolut ist; vielmehr darf sich auch im Zusammenhang mit dem
Grundbuch derjenige nicht auf seinen guten Glauben berufen, welcher bei der
Aufmerksamkeit, wie sie nach den Umständen von ihm verlangt werden darf,
nicht gutgläubig sein konnte (Art. 3 Abs. 2 ZGB; betreffend das Grundbuch
im Besonderen vgl. BGE 109 II 102 E. 2 S. 104; 82 II 103 E. 5 S. 112;
DESCHENAUX, Das Grundbuch, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/3 II,
S. 788 u. 792 f.). Ein solcher Fall liegt hier vor: Aus dem blossen
Vergleich der Dienstbarkeitseinträge von 1938 und 1990, jedenfalls in
Verbindung mit den betreffenden, Bestandteile des Grundbuches (Art. 942
Abs. 2 ZGB) bildenden Dienstbarkeitsverträgen, sowie erst recht aufgrund
der zwischen den Jahren 1990 und 1997 (Erwerb des Grundstückes Nr. 164
durch den Kläger) erfolgten Erstellung der Baute auf Grundstück Nr. 162
bis an die gemeinsame Grundstücksgrenze, musste sich für den Kläger ohne
weiteres die implizite rechtliche Beseitigung des Fuss- und Fahrwegrechts
von 1938 ergeben.