Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 347



127 III 347

58. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. Mai 2001
i.S. A.S. gegen P.S. (Berufung) Regeste

    Unzumutbarkeit im Sinne von Art. 115 ZGB.

    Scheidung einer Ehe, die bloss von der beklagten Partei zum Schein
eingegangen worden ist (E. 2).

Sachverhalt

    Der 1920 geborene P.S. und die 1963 geborene A.L. heirateten
nach wenigen Monaten Bekanntschaft am 6. Dezember 1995 in Z. Nach
erfolgloser Versöhnung reichte P.S. am 18. Mai 1999 gegen A.S. beim
Richter des Bezirkes X. Klage ein, mit der er nebst der Scheidung
um Zuspruch einer Rente und um Genugtuung ersuchte. A.S. beantragte
die kostenpflichtige Abweisung der Klage. Nach der Durchführung einer
Vorverhandlung wurde den Parteien an der Beweisverhandlung vom 6. Januar
2000 Gelegenheit geboten, neue Rechtsbegehren zu stellen. In der Folge
ersuchte P.S. um Scheidung der Ehe nach Art. 115 ZGB und um Zuspruch
einer vom Richter festzusetzenden Rente. Mit Urteil vom 4. Mai 2000
schied der Bezirksrichter von X. die Ehe nach Art. 115 ZGB, wies das
Unterhaltsbegehren des Klägers ab, auferlegte die Gerichtskosten zu
1/5 dem Kläger und zu 4/5 der Beklagten und verpflichtete Letztere zur
Bezahlung einer reduzierten Parteientschädigung an den Kläger.

    Die von der Beklagten erhobene Berufung wies das Kantonsgericht
Wallis mit Urteil vom 17. Januar 2001 ab. Die von der Beklagten beim
Bundesgericht eingelegte Berufung bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Kantonsgericht leitet aus der Entstehungsgeschichte der
(kurzen) Bekanntschaft und den Briefen, die der Kläger der Beklagten
in der zweiten Jahreshälfte 1995 geschrieben hat, her, dieser sei die
Ehe mit der Beklagten schon nach bloss zwei kurzen Treffen eingegangen,
weil er die Beklagte vor den Nachteilen habe bewahren wollen, die ihr aus
dem kurz bevorstehenden Ablauf der Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz
entstanden wären. Gleichzeitig habe er aber immer erklärt, dass er eine
Familie gründen wolle und ein Kind wünsche. Der Kläger sei der Beklagten
bezüglich des Heiratstermines entgegengekommen in der von der Beklagten
geschürten Hoffnung, diese werde mit ihm dann auch zusammenleben und ein
Kind zeugen. Die Beklagte habe zugegeben, dass sie möglichst schnell einen
Schweizer heiraten wollte und an Stelle des Klägers auch einen anderen
genommen hätte. Nach der Heirat sei die Beklagte zunächst am ursprünglichen
Wohnort geblieben und erst im Frühjahr 1996 zum Kläger gezogen; sie habe
in Y. ein Geschäft geführt. Ab Juli 1998 habe sie sich nur wenige Tage
in X. aufgehalten; am 16. Juli 1998 sei sie nach Wien gegangen, um ihre
zwar kranke, aber entgegen ihren Aussagen nicht pflegebedürftige Mutter
zu betreuen. Danach habe sie sich nur vom 31. August bis zum 3. September,
vom 21. Oktober bis zum 1. November und vom 14. bis zum 16. Dezember 1998
in X. aufgehalten. Während des folgenden Jahres habe sie nicht mehr Tage
in X. verbracht. Nach der vom Beklagten erstellten Liste sei die Klägerin
durchschnittlich einmal im Monat zu Hause gewesen; sie habe jeweils ihr
Haushaltsgeld von monatlich Fr. 2'500.- abgeholt. Ab dem Juli 1998 habe
sie die Wohngemeinschaft aufgegeben und ihr eigenes Leben geführt. Der
Kläger habe nicht mehr gewusst, was geschehe; eine Lebensgemeinschaft habe
von Anfang an nicht bestanden. Auch die Geschwister des Klägers seien im
Verlauf der Zeit zur Einsicht gelangt, dieser sei von der Beklagten nur aus
fremdenpolizeilichen Gründen und wegen des Geldes geheiratet worden. Das
Kantonsgericht gelangt zum Schluss, der Kläger habe die Beklagte aus Liebe
geheiratet und sei von deren Zuneigung anfänglich überzeugt gewesen. Dem
Kläger könne die Weiterführung der Ehe nicht zugemutet werden, nachdem er
habe erkennen müssen, dass er von der aus dem Balkan stammenden Beklagten
nicht aus Zuneigung geheiratet worden sei. Angesichts seines hohen Alters
sei dem Kläger das Abwarten der Vierjahresfrist nach Art. 114 ZGB auch
aus unterhalts- und erbrechtlichen Gründen unzumutbar, zumal die Beklagte
nun behaupte, aus der ehelichen Wohnung nicht ausgezogen zu sein, und
somit ein zweiter Rechtsstreit über den Beginn der Vierjahresfrist nicht
vermieden werden könne.

    a) Das Bundesgericht hat in zwei Urteilen zum Anwendungsbereich des
gegenüber Art. 114 ZGB subsidiären Scheidungsanspruches von Art. 115 ZGB
Stellung bezogen. Ob ein schwerwiegender Grund im Sinne dieser Bestimmung
gegeben ist oder ob dem klagenden Gatten das Abwarten der Vierjahresfrist
nach Art. 114 ZGB zugemutet werden kann, beurteilt der Richter nach Recht
und Billigkeit (Art. 4 ZGB; BGE 127 III 129 E. 3 S. 132 ff.; 126 III 404
E. 4 S. 407 ff.). Mit dem neusten Urteil (BGE 127 III 129 E. 3 S. 132
ff.) hat das Bundesgericht weiter erkannt, dass der auf Scheidung klagende
Gatte allein mit der Begründung, er sei die Ehe zum Schein eingegangen,
keine Unzumutbarkeit im Sinne von Art. 115 ZGB begründen kann und Art. 114
ZGB beachten muss.

    Soweit die Beklagte in allgemeiner Hinsicht geltend macht, Art. 115 ZGB
dürfe nicht mit aArt. 142 ZGB verglichen werden, und die schwerwiegenden
Gründe müssten gemäss Art. 4 ZGB konkretisiert werden, weichen ihre
Standpunkte nicht von denjenigen des Bundesgerichts im zuerst zitierten
Urteil (BGE 127 III 129 E. 3a und 3b S. 132 ff.) und der Argumentation im
angefochtenen Entscheid ab. Wenn sie weiter geltend macht, Art. 115 ZGB
sei restriktiv anzuwenden, verkennt sie, dass das Bundesgericht im zuerst
genannten Urteil (aaO E. 3b) von der mit BGE 126 III 404 vorgezeichneten
Begrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 115 ZGB etwas abgerückt ist
(dazu Rechtsprechungsberichte von B. SCHNYDER, in: ZBJV 137/2001 S. 397
und von R. WEBER, in: AJP 2001 S. 469 f.).

    b) Mit Urteil vom 7. August 2000 hat das Kantonsgericht St. Gallen
erwogen, ein Unzumutbarkeitsgrund im Sinne von Art. 115 ZGB könne bei
missbräuchlicher Eheschliessung vorliegen, wenn der klagende Partner "die
wirklichen Heiratsgründe" des Beklagten nicht kannte (ZBJV 137/2001 S.
81 ff. E. b a.E. S. 82). Diesen Grundsatz auf eine bloss von einer
Partei zum Schein eingegangene Ehe übertragend wird in der Literatur
ausgeführt, denkbar sei die "Scheidung wegen Unzumutbarkeit für denjenigen
Ehegatten, der eine eheliche Gemeinschaft eingehen wollte und nach der
Heirat feststellen muss, dass der andere Ehegatte nie einen Ehewillen
hatte und die Ehe nur einging, um sich fremdenpolizeiliche Vorteile
zu verschaffen" (D. STECK, Die Scheidungsklagen [nArt. 114-117 ZGB],
in: Das neue Scheidungsrecht, S. 37 Ziff. 3; ähnlich auch R. RHINER, Die
Scheidungsvoraussetzungen nach revidiertem Schweizerischem Scheidungsrecht
[Art. 111-116 ZGB], Diss. Zürich 2001, S. 320 bei Fn. 1296).

    Konkret rügt die Beklagte, die in Lehre und Rechtsprechung erwähnten
Beispiele für eine Scheidung wegen Unzumutbarkeit des Fortbestehens der
Ehe (dazu BGE 126 III 404 E. 4h S. 410, drei Urteile des Obergerichts
des Kantons Zürich, publiziert in SJZ 96/2000 S. 345 ff. Nrn. 22 bis 24
und A. RUMO-JUNGO, Rechtsprechungsbericht, in: recht 19/2001 S. 83 f.),
setzten mehr voraus als die vom Kläger erlebte Beeinträchtigung. Es liege
auf der Hand, dass eine Mutter die Scheidung nach Art. 115 ZGB verlangen
könne, wenn ihr Gatte die Kinder misshandelt habe; das Gleiche gelte für
eine Gattin, die Opfer von Gewalttätigkeiten ihres Gatten geworden sei. Sie
aber habe sich nicht unmoralisch verhalten und den Kläger offensichtlich
nicht hinreichend geschädigt. Das Kantonsgericht habe dem Kläger bloss
helfen wollen, möglichst schnell einen Schlussstrich unter seine missratene
Lebensplanung zu ziehen. Das lasse sich mit Art. 115 ZGB nicht vereinbaren;
insoweit sei diese Bestimmung durch den angefochtenen Entscheid verletzt
worden.

    Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen des
Kantonsgerichts (Art. 63 Abs. 2 OG) hat die Beklagte den Kläger im Glauben
gelassen, auch sie wolle (wenn auch nicht sofort) eine Lebensgemeinschaft
eingehen, dies aber von allem Anfang an nicht gewollt und in erster Linie
ausländerrechtliche und sekundär finanzielle Vorteile angestrebt. Da
weiter feststeht, dass der Kläger eine Ehe im Sinne einer echten Lebens-
und Schicksalsgemeinschaft eingehen wollte, ist er insoweit von der
Beklagten getäuscht, bzw. hintergangen worden, weshalb das Kantonsgericht
die Scheidung nicht bundesrechtswidrig ausgesprochen hat.