Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 235



127 III 235

42. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Februar 2001
i.S. X. Versicherungen AG gegen Y. (Berufung) Regeste

    Übertritt von der Kollektiv- in die Einzelversicherung
infolge Beendigung des Arbeitsverhältnisses; zum Begriff des
Versicherungsvorbehalts im Sinne von Art. 71 Abs. 1 KVG.

    Unter dem Versicherungsvorbehalt versteht Art. 71 Abs. 1 KVG sowohl
die individuelle, konkrete und zeitlich begrenzte Einschränkung des
Versicherungsschutzes in Einzelfällen als auch den generellen, zeitlich
unbefristeten Deckungsausschluss (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Y. arbeitete bis zum 28. Februar 1997 bei der Verwaltung der Stadt
Z. und war über deren privatrechtliche Kollektiv-Krankentaggeldversicherung
bei der X. Versicherungen AG (nachfolgend X.) versichert. Nach
Beendigung des Arbeitsverhältnisses schied er aus
der Kollektiv-Krankentaggeldversicherung aus und wurde zufolge
Arbeitslosigkeit per 1. März 1997 in die Einzel-Krankentaggeldversicherung
der X. übernommen. Die Versicherungsdeckung in der Einzelversicherung
umfasste - wie zuvor in der Kollektivversicherung - ein Krankentaggeld
von Fr. 70.- ab dem 31. Tag für die Dauer von 720 Tagen.

    Y. war in der Folge vom 18. November 1997 bis zum 27. Februar 1998
und vom 21. Mai bis zum 8. August 1999 wegen Alkoholmissbrauches
arbeitsunfähig. In der Folge erhob er bei der X. Anspruch auf
Krankentaggelder für die genannten Perioden; die X. lehnte die
Zahlung indessen mit der Begründung ab, die Arbeitsunfähigkeit
des Versicherten sei aufgrund des Alkoholentzuges erfolgt; gemäss
Ziff. 3.6 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für die
Einzelversicherung gelte Alkoholmissbrauch nicht als Krankheit, weshalb
keine Versicherungsleistungen geschuldet seien.

    B.- Am 17. Dezember 1999 klagte Y. beim Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau als Versicherungsgericht gegen die X. auf Zahlung von Fr. 5'040.-
nebst Zins zu 5% seit dem 22. Januar 1998 für die Periode vom 18. Dezember
1997 bis zum 27. Februar 1998 (72 Krankheitstage) bzw. von Fr. 3'430.-
nebst Zins zu 5% seit dem 15. Juli 1999 für den Zeitraum vom 21. Juni bis
zum 9. August 1999 (49 Krankheitstage). Mit Urteil vom 6. September 2000
hiess das Verwaltungsgericht die Klage gut.

    C.- Mit eidgenössischer Berufung beantragt die Beklagte
zusammengefasst, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei teilweise
aufzuheben und die Klage im Umfang von Fr. 5'040.- nebst Zins zu 5%
seit dem 22. Januar 1998 abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Verweisungsnorm von Art. 100 Abs. 2 des Bundesgesetzes
vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (SR 221.229.1; VVG)
erklärt Art. 71 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über
die Krankenversicherung (SR 832.10; KVG) als sinngemäss anwendbar auf
arbeitslose Versicherungsnehmer und Versicherte. Im vorliegenden Verfahren
geht es um die Bedeutung dieses Verweises. Art. 71 Abs. 1 KVG lautet
wie folgt:
      "Scheidet eine versicherte Person aus der Kollektivversicherung aus,

    weil sie nicht mehr zu dem im Vertrag umschriebenen Kreis der
Versicherten

    zählt oder weil der Vertrag aufgelöst wird, so hat sie das Recht,
in die

    Einzelversicherung des Versicherers überzutreten. Soweit die
versicherte

    Person in der Einzelversicherung nicht höhere Leistungen versichert,

    dürfen keine neuen Versicherungsvorbehalte angebracht werden; das im

    Kollektivvertrag massgebende Eintrittsalter ist beizubehalten."

    a) Die Vorinstanz hat angenommen, beim Übertritt von der Kollektiv-
in die Einzelversicherung dürften dem Versicherten keine Einschränkungen
des Versicherungsschutzes irgendwelcher Art auferlegt werden, verfolge
Art. 71 Abs. 1 KVG doch das Ziel, dem Versicherten den bisherigen
Besitzstand zu wahren. Diese Garantie wäre indessen nicht gegeben,
wenn der Versicherungsschutz des Übertretenden durch Vorbehalte oder
Bedingungen eingeschränkt würde. Zwar könnten bei der Aufnahme in die
Kollektivversicherung Vorbehalte unter Benennung von Krankheit und
Vorbehaltsdauer angebracht werden; beim Wechsel von der Kollektiv- zur
Einzelversicherung aber seien neue Vorbehalte auf den bisherigen Leistungen
unzulässig. Seien aber schon individuelle Vorbehalte untersagt, so müsse
dies erst recht für allgemein umschriebene Versicherungsausschlüsse
gelten. Im konkreten Fall würden die AVB der Kollektivversicherung
- im Gegensatz zu den einschlägigen AVB der Einzelversicherung -
keine Einschränkungen des Versicherungsschutzes bei Heilbehandlung und
Arbeitsunfähigkeit infolge übermässigen Alkoholkonsums vorsehen. Damit aber
dürften dem Übertretenden keine Einschränkungen der Versicherungsdeckung
gegenüber dem bisherigen Versicherungsschutz auferlegt werden und sei der
Anspruch des Versicherten auf Krankentaggeld grundsätzlich gutzuheissen.

    b) Die Beklagte wirft dem Verwaltungsgericht vor, es habe
den Bestimmungen von Art. 100 Abs. 2 VVG und Art. 71 Abs. 1
KVG fälschlicherweise die Bedeutung beigelegt, dass dem in
die Einzelversicherung Übertretenden nicht nur die bisherigen
Leistungen, sondern darüber hinaus auch noch sämtliche bisherigen
Versicherungsbedingungen zugestanden werden müssten. Diese Auffassung
sei mit Sinn und Zweck der Übertrittsregelung unvereinbar. Die
Besitzstandsgarantie erstrecke sich - im Gegenteil - nur auf die
bisherigen Versicherungsleistungen. Der Übertritt erfolge zwar zu den
alten Versicherungsleistungen, jedoch zu den Bedingungen und Tarifen der
Einzelversicherung; diesbezüglich handle es sich um einen Neuabschluss,
weshalb nicht mehr die Bedingungen der Kollektivversicherung, sondern
jene der Einzelversicherung zur Anwendung gelangten. Dass es sich bei der
Kollektivversicherung und der Einzelversicherung um identische Produkte mit
denselben AVB handeln müsse, gehe weder aus dem Gesetz selber noch aus den
Materialien hervor und finde auch in der Literatur keine Stütze. Vielmehr
würden die gesetzlichen Vorschriften vom Einzelversicherer nur verlangen,
dass er dem Übertretenden das Krankentaggeld im bisherigen Umfang
weiterversichere, sofern dieser es wünsche.

    c) Wie sich bereits aus der Überschrift zum dritten Titel des
KVG, aber auch aus den Gesetzesmaterialien ergibt, besteht für die
Krankentaggeldversicherung kein Obligatorium (vgl. dazu: Botschaft über
die Revision der Krankenversicherung vom 6. November 1991, BBl 1992 I
93/97, 139; AB 1992 S 1335 f.; AB 1993 N 1893). Sie kann freiwillig auf
der Grundlage des KVG oder des VVG abgeschlossen werden (ALFRED MAURER,
Das neue Krankenversicherungsrecht, Basel 1996, S. 108 und 113; KURT
MEIER/THOMAS FINGERHUTH, Krankentaggeld statt Lohnfortzahlung, Plädoyer
1999 3 S. 27). Vor diesem Hintergrund ist die Verweisungsnorm von Art. 100
Abs. 2 VVG zu sehen. Durch sie werden die privatversicherungsrechtliche
und die sozialversicherungsrechtliche Regelung aufeinander abgestimmt
und wird eine einheitliche Ordnung namentlich für den Fall geschaffen,
dass eine versicherte Person aus der Kollektivversicherung ausscheidet
(Art. 71 Abs. 1 KVG). In erster Linie gewährt Art. 71 Abs. 1 KVG dem
aus der Kollektivversicherung Austretenden das Recht, beim gleichen
Versicherer in die Einzelversicherung überzutreten, womit er sich nicht
anderweitig um Versicherungsschutz bemühen muss, was namentlich für einen
Arbeitslosen mit Schwierigkeiten verbunden sein kann. Beim Wechsel von
der Kollektiv- zur Einzelversicherung sind der übertretenden Person
die gleichen Leistungen zu gewähren wie in der Kollektivversicherung
(MAURER, Bundessozialversicherungsrecht, 2. unveränderte Aufl.,
Basel 1994, S. 272). Damit hat es jedoch nicht sein Bewenden, wie die
Beklagte offenbar annimmt. Als Zweites sieht Art. 71 Abs. 1 KVG vor,
dass auf diesen gleichen Leistungen - mit Ausnahme des Falles der
Höherversicherung - grundsätzlich keine neuen Vorbehalte angebracht
werden dürfen. Was unter dem Versicherungsvorbehalt im Sinne von Art. 71
Abs. 1 KVG zu verstehen ist, ergibt sich aus Art. 69 Abs. 1 KVG: Danach
kann der Versicherer Krankheiten, die bei der Aufnahme einer Person
in die Versicherung bestehen, vom Versicherungsschutz ausschliessen;
dasselbe gilt für frühere Krankheiten, die erfahrungsgemäss zu Rückfällen
führen können; derartige Vorbehalte fallen allerdings nach fünf Jahren
dahin (Art. 69 Abs. 2 KVG). Beim Vorbehalt handelt es sich demnach
um eine individuelle, konkrete und zeitlich begrenzte Einschränkung
des Versicherungsschutzes in Einzelfällen. Ein solcher Vorbehalt ist
grundsätzlich ausgeschlossen. Was aber für die individuelle Einschränkung
der Versicherungsdeckung gilt, muss erst recht für einen generellen,
zeitlich unbefristeten Deckungsausschluss Geltung haben, der wegen
seiner abstrakten Formulierung und seiner zeitlichen Unbegrenztheit
den Versicherungsschutz weit stärker einschränkt als ein konkreter,
auf fünf Jahre begrenzter Vorbehalt bei einem individuellen Versicherten
(argumentum a fortiori; zur geschilderten Methode vgl. ERNST A. KRAMER,
Juristische Methodenlehre, Bern 1998, S. 151).

    d) Als der Kläger von der Kollektivversicherung in die
Einzelversicherung übertrat, war er arbeitslos; nach der Verweisungsnorm
von Art. 100 Abs. 2 VVG gelangt daher Art. 71 Abs. 1 KVG zur Anwendung,
wobei der Kläger unbestrittenermassen keine Höherversicherung abgeschlossen
hat. Die AVB der Kollektivversicherung, die bis zur Beendigung des
Arbeitsverhältnisses gegolten hatten, sahen keine Einschränkung der
Versicherungsdeckung für Heilbehandlungen und Arbeitsunfähigkeit
infolge (übermässigen) Alkoholkonsums vor. Anders jedoch die AVB der
Einzelversicherung. Gemäss deren Ziff. 3.6 ist der Versicherer nicht
leistungspflichtig bei Heilbehandlungen und Arbeitsunfähigkeit wegen
missbräuchlichen Alkoholgenusses. Die Einzelversicherung enthält demnach
im Unterschied zur Kollektivversicherung eine neue Einschränkung des
Versicherungsschutzes in Gestalt eines generellen und zeitlich unbegrenzten
Deckungsausschlusses, was nach den Ausführungen unter E. 2c hievor ebenso
unzulässig ist wie ein neuer individueller Vorbehalt. Aus dem Vergleich der
beiden AVB erhellt mithin, dass der Versicherer in der Einzelversicherung
überhaupt nicht leistungspflichtig ist in Fällen, in denen er im Rahmen der
Kollektivversicherung unzweifelhaft Leistungen erbringen müsste. Insoweit
ist bei einem Übertritt von der Kollektiv- zur Einzelversicherung der
Leistungsbestand nicht garantiert, was Art. 71 Abs. 1 KVG gerade verhindern
will. Die Vorinstanz hat daher kein Bundesrecht verletzt, indem sie den
Anspruch des Klägers auf Krankentaggelder im Grundsatz bejaht hat. Die
Berufung ist abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.