Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 21



127 III 21

4. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. Oktober 2000
i.S. E.M. gegen X. Versicherung (Berufung) Regeste

    Art. 9 VVG; Krankenzusatzversicherung.

    Gemäss Art. 9 VVG können bereits eingetretene Ereignisse grundsätzlich
nicht versichert werden (sog. Rückwärtsversicherungsverbot). Hat der
Versicherte vor Vertragsabschluss eine Krankheit erlitten, bei der nach
medizinischer Erfahrung mit Rückfällen zu rechnen ist, ist das Ereignis
bereits eingetreten, so dass Rückfälle nicht versicherbar sind.

Sachverhalt

    A.- E.M. unterzeichnete am 31. Oktober 1997 ein Antragsformular zur
Aufnahme in die X. Versicherung. Dabei verneinte sie, zur Zeit krank oder
arbeitsunfähig zu sein, bejahte aber das Vorliegen von Krankheiten der
Knochen und Gelenke mit dem präzisierenden Hinweis auf Arthritis, die 1990
durch Dr. B. behandelt worden sei; die Behandlung sei abgeschlossen. Die
X. Versicherung ordnete eine Untersuchung durch den Hausarzt von E.M.,
Dr. Z. an, welche am 25. November 1997 durchgeführt wurde. Per 1. Januar
1998 wurde E.M. bei der X. Versicherung obligatorisch krankenversichert.
Dabei schloss sie auch Zusatzversicherungen für erweiterte besondere
Pflegeleistungen, Aufenthalte in der Privatabteilung eines Spitals oder
einer Klinik sowie für Naturheilmethoden ab.

    Erstmals am 13. Januar 1998 begab sich E.M. wieder wegen
Gelenkschmerzen in ärztliche Behandlung. Die behandelnde Ärztin
Dr. G. diagnostizierte aufgrund von Untersuchungen vom 18. und 24. März
1998 eine seropositive, ANA positive Polyarthritis mit mässiger
Entzündungsaktivität. Mit Schreiben vom 28. August 1998 unterbreitete
Dr. Z. als behandelnder Hausarzt der X. Versicherung ein Kurgesuch für
eine stationäre Balneotherapie, da E.M. seit Monaten an einem Schub ihrer
bekannten chronischen Polyarthritis leide. Die X. Versicherung teilte der
Versicherten am 12. November 1998 mit, sie hebe die Zusatzversicherungen
rückwirkend auf Vertragsbeginn auf und werde die dafür geleisteten Prämien
zurückerstatten, da die behandelten Beschwerden bereits im Jahre 1990,
also vor dem Beitritt in die Krankenkasse, aufgetreten seien, was weder
im medizinischen Fragebogen des Aufnahmegesuchs noch bei der Arztvisite
bei Dr. Z. erwähnt worden sei.

    B.- Mit Klage vom 30. April 1999 beantragte E.M. dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, die X. Versicherung
zur Ausrichtung der vertraglich vereinbarten Leistungen aus den
Zusatzversicherungen zu verpflichten. Das Versicherungsgericht stellte
in teilweiser Gutheissung der Klage fest, E.M. habe die Anzeigepflicht
nicht verletzt und die X. Versicherung sei somit nicht berechtigt gewesen,
gestützt auf Art. 6 VVG vom Vertrag bezüglich der Zusatzversicherungen
zurückzutreten; im Übrigen wies es aber die Klage ab.

    C.- Gegen das Urteil des Versicherungsgerichts führt E.M. Berufung
mit dem Antrag, dieses aufzuheben und die Klage vollumfänglich
gutzuheissen. Die X. Versicherung schliesst auf Abweisung der Berufung. Das
Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz verneinte ein Rücktrittsrecht der Beklagten gemäss
Art. 6 des Bundesgesetzes vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag
(VVG; SR 221.229.1), da nicht erstellt sei, dass die Klägerin ihre Anzeige-
bzw. Nachmeldepflicht verletzt habe. Sie erwog, gemäss Art. 4.1.1 der
Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Zusatzversicherung (im
Folgenden: AVB) seien bei Inkrafttreten des Vertrages bereits bestehende
Leiden von der Versicherung ausgeschlossen. Unter einem bestehenden Leiden
sei eine Krankheit zu verstehen, die bereits ausgebrochen sei und bei der
Aufnahme in die Kasse andaure. Sowohl Dr. Z. als auch die Rheumatologin
Dr. G. seien übereinstimmend zum Schluss gekommen, dass die Klägerin an
einer chronischen Polyarthritis leide, deren erster Schub im Jahre 1990
erfolgt sei. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses sei diese Krankheit
bereits ausgebrochen gewesen, wenn sie auch zwischen Januar 1991 und
Herbst 1997 offenbar keine Symptome gezeigt habe.

Erwägung 2

    2.- a) Dass der Klägerin keine Verletzung ihrer Anzeigepflicht
vorgeworfen werden kann und die Beklagte mithin zu einem Vertragsrücktritt
gemäss Art. 6 VVG nicht berechtigt war, ist nicht mehr umstritten. Zu
beurteilen bleibt, ob die Beklagte berechtigt ist, die Ausrichtung von
Leistungen für das erneut ausgebrochene Arthritisleiden der Klägerin zu
verweigern. Dass die Untersuchung durch Dr. Z. vom 25. November 1997
mangelhaft gewesen sei, wird von der Beklagten nicht behauptet und ergibt
sich auch nicht aus den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen,
so dass auf die Frage, wem dies anzulasten wäre, nicht einzugehen ist.

    b) Die Beklagte hält den Argumenten der Klägerin sinngemäss
entgegen, eine individuelle Abrede betreffend Kostenübernahme für ein
bei Vertragsschluss bereits bestehendes Leiden sei gar nicht möglich,
da eine entsprechende Abrede gemäss dem zwingend anwendbaren Art. 9 VVG
nichtig wäre.

    aa) Gemäss Art. 9 VVG ist ein Versicherungsvertrag u.a.  dann nichtig,
wenn bei Vertragsschluss das befürchtete Ereignis bereits eingetreten
ist. Die Gefahr, gegen deren Folgen versichert wird, muss sich auf
ein zukünftiges Ereignis beziehen; ist dieses bereits eingetreten, ist
eine künftige Verwirklichung der Gefahr nicht möglich. Eine sogenannte
Rückwärtsversicherung, bei welcher der Versicherer die Deckung für
ein bereits vor Vertragsschluss eingetretenes Ereignis übernimmt, ist
unzulässig, unabhängig davon, ob der entsprechende Schaden vor oder
nach Vertragsschluss eintritt. Ob die Vertragsparteien vom Eintritt
des Ereignisses bei Vertragsschluss Kenntnis hatten, ist unerheblich
(ROELLI/KELLER/TÄNNLER, Kommentar zum Schweizerischen Bundesgesetz über
den Versicherungsvertrag, Band I, Bern 1968, S. 172 ff.).

    In der Krankenversicherung besteht die Gefahr, gegen deren
Folgen versichert wird, in der Erkrankung der versicherten Person
(ROELLI/KELLER/TÄNNLER, aaO, S. 234). Die Beklagte versichert als Krankheit
"jede Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit, die
nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder
Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat" (Ziff. 2.4
AVB); die Umschreibung entspricht der Krankheitsdefinition nach Art. 2
Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung
(KVG; SR 832.10). Ist eine Krankheit im Sinne dieser Definition bei
Vertragsschluss bereits ausgebrochen, so ist die Versicherung gegen ihre
Folgen nach Art. 9 VVG ausgeschlossen, unbekümmert darum, ob sie noch
andauert (vgl. BGE 118 V 158 E. 5c S. 169).

    Nicht erfasst werden von Art. 9 VVG Fälle, da die Gefahr nur teilweise
eingetreten ist; die Versicherung eines nach Vertragsschluss eingetretenen
Teilereignisses ist zulässig (ROELLI/KELLER/TÄNNLER, aaO, S. 175 und
Fn. 1). Als nur teilweise eingetreten gilt die Gefahr bei einzelnen
Krankheitsfällen (aaO, S. 610); insoweit schliessen Erkrankungen vor
Abschluss des Versicherungsvertrages die Deckung künftiger Erkrankungen
nicht ohne weiteres aus, handle es sich um gleichartige Erkrankungen
oder um andersartige. Fraglich ist nun, wie ein Gesundheitszustand zu
bewerten ist, wenn die Krankheit früher bereits einmal ausgebrochen ist
und, obwohl seither eine längere Phase der Symptomfreiheit zu verzeichnen
war, aus medizinischer Sicht die Gefahr von Rückfällen besteht.

    bb) Nach den im angefochtenen Urteil zitierten Äusserungen von
Dr. B. soll sich aus seinen Aufzeichnungen ergeben, dass die Röntgenbilder
der Hände und Füsse der Klägerin nebst geringen Abnutzungen Hinweise auf
eine Polyarthritis zeigten. Dr. G. erklärte zu Handen der Vorinstanz, eine
chronische Polyarthritis könne chronisch progressiv oder intermittierend
mit Perioden von teilweiser oder vollständiger Remission verlaufen; bei
der Klägerin sei von einem intermittierenden Verlauf auszugehen, wobei
im Jahre 1990 der erste Schub erfolgt sei. Schliesslich diagnostizierte
nach den Feststellungen der Vorinstanz auch Dr. Z. nach dem Auftreten
des zweiten Schubes eine chronische Polyarthritis, wobei die Erkrankung
im Jahre 1990 als deren erster Schub zu betrachten sei. Aus medizinischer
Sicht ist demnach die Erkrankung der Klägerin als einheitliches Ereignis
aufzufassen, wobei die Symptome nur intermittierend auftreten.

    Der rechtliche Krankheitsbegriff deckt sich nicht notwendig mit dem
medizinischen (BGE 124 V 118 E. 3b S. 121). Das heisst aber nicht, dass
er beliebig definierbar ist und auf medizinische Grundgegebenheiten
keine Rücksicht zu nehmen hat. Dies wäre aber der Fall, wenn nur
darauf abgestellt würde, ob jemand an gesundheitlichen Symptomen
leidet und unberücksichtigt bliebe, dass sich die Gesundheit trotz
Verschwindens der Symptome in einem prekären Zustand befindet, wenn
sich der Wiedereintritt der Störung mit Wahrscheinlichkeit voraussehen
lässt, die Krankheit also trotz vorübergehender Symptomfreiheit als
Ursache künftiger Störungen bestehen bleibt. Eine Differenzierung
aufgrund mehr oder weniger langer symptomfreier Phasen führte zu kaum
lösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten. Daraus folgt aber, dass das erneute
Auftreten von Symptomen einer vorbestandenen, rückfallgefährdeten
Krankheit juristisch nicht als selbstständige Neuerkrankung bzw. als
Teilereignis aufzufassen ist, sondern als Fortdauern einer bereits
eingetretenen Krankheit, mithin als Anwendungsfall eines bereits
eingetretenen Ereignisses im Sinne von Art. 9 VVG. Die Auffassung,
wonach nicht das Auftreten von Symptomen, sondern deren medizinische
Ursache für die Definition des Krankheitsbegriffs im Vordergrund steht,
ist mit der Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (BGE 124 V
118 E. 6b S. 124 f.), aber auch mit der Regelung des Vorbehaltsrechts in
der obligatorischen Krankenversicherung im Einklang. Art. 69 Abs. 1 KVG
(SR 832.10) behandelt den Rückfall bezüglich des Ausschlusses aus der
freiwilligen Taggeldversicherung ausdrücklich gleich wie eine bestehende
Krankheit; schon Art. 5 Abs. 3 KVG kannte eine entsprechende Regelung,
die im Übrigen nach der Botschaft des Bundesrates (BBl 1961 I 1440) in
Anlehnung an Art. 9 VVG getroffen wurde, dem man auch damals das Verbot
der Versicherung von Rückfällen entnahm.

    Obwohl der Krankheitsschub der Klägerin im Jahre 1998 nach
einer relativ langen symptomfreien Phase auftrat, liegt aufgrund der
verbindlichen Sachverhaltsdarstellung der behandelnden Ärzte ein Rückfall
in eine vorbestehende Krankheit vor. Somit war das massgebende Ereignis
mit der vor Vertragsschluss erfolgten Arthritiserkrankung der Klägerin
bereits eingetreten und dieses Leiden damit gemäss Art. 9 VVG nicht mehr
versicherbar. Da es sich hierbei um eine zwingende Vorschrift handelt
(Art. 97 Abs. 1 VVG), ist irrelevant, ob die zwischen den Parteien
getroffene Individualabrede nach Treu und Glauben als Derogation des
Leistungsausschlusses gemäss Art. 4.1.1 AVB zu verstehen wäre.