Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 484



126 V 484

81. Urteil vom 7. Dezember 2000 i. S. Visana gegen G. und
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Regeste

    Art. 41 Abs. 1 und 2, Art. 50 KVG: Leistungspflicht bei Aufenthalt
in einem Pflegeheim.

    - Die Kostenübernahme für den Aufenthalt in einem Pflegeheim richtet
sich nach der Regelung für ambulante Behandlung gemäss Art. 41 Abs. 1
Satz 2 KVG.

    - Art. 41 Abs. 2 KVG bestimmt abschliessend, was unter medizinischen
Gründen zu verstehen ist.

Sachverhalt

    A.- Der 1928 geborene G. ist bei der Visana obligatorisch
krankenversichert. Er ist bevormundet. Die Vormundschaft wird von der
Einwohnergemeinde X im Kanton Solothurn geführt. Diese hat E. als Vormund
ernannt.

    G. hält sich seit 1979 als Pensionär im Heim Y im Kanton Bern auf
und ist leicht pflegebedürftig. Bis Ende 1996 hat die Visana einen
Pflegeheimbeitrag von 30 Franken pro Tag ausgerichtet, wie er im Kanton
Bern für leichte Pflegebedürftigkeit gilt. Ab 1. Januar 1997 gestand
sie ihm nur noch den Pflegeheimbeitrag des Kantons Solothurn für leichte
Pflegebedürftigkeit von 11 Franken pro Tag zu.

    Nach Interventionen des Vormunds des Versicherten erliess die Visana
am 8. Juni 1998 eine Verfügung, wonach für den Aufenthalt von G., mit
gesetzlichem Wohnsitz in X (Kanton Solothurn), im Heim Y (Kanton Bern), ab
1. Januar 1997 bis auf weiteres der Pflegeheimbeitrag des Kantons Solothurn
entsprechend der jeweiligen Pflegebedarfsstufe erbracht werde. An diesem
Standpunkt hielt die Krankenkasse mit Einspracheentscheid vom 17. Juli
1998 fest.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher der Vormund
des Versicherten ab 1. Januar 1997 bis auf weiteres die Ausrichtung
des Pflegeheimbeitrages des Kantons Bern entsprechend der jeweiligen
Pflegebedarfsstufe beantragen liess, hat das Versicherungsgericht des
Kantons Solothurn mit Entscheid vom 21. Mai 1999 gutgeheissen.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Visana die
Aufhebung des Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn.

    Der Vormund des Versicherten und das Bundesamt für Sozialversicherung
(BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig und zu prüfen ist, welche Leistungen die Visana
dem Beschwerdegegner an den Aufenthalt im Heim Y zu entrichten
hat. Unbestritten ist dabei die Einstufung in die Kategorie der leichten
Pflegebedürftigkeit.

Erwägung 2

    2.- Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt nach Art. 24
KVG die Kosten für die Leistungen gemäss den Art. 25-31 KVG nach Massgabe
der in den Art. 32-34 KVG festgelegten Voraussetzungen. Die Leistungen
umfassen u.a. Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen,
die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem
Pflegeheim durchgeführt werden von Ärzten oder Ärztinnen, Chiropraktoren
oder Chiropraktorinnen und Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag
eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen (Art. 25 Abs. 2
lit. a KVG).

    Nach Art. 41 Abs. 1 KVG können die Versicherten unter den zugelassenen
Leistungserbringern, die für die Behandlung ihrer Krankheit geeignet sind,
frei wählen (Satz 1). Bei ambulanter Behandlung muss der Versicherer die
Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der am Wohn- oder Arbeitsort
der versicherten Person oder in deren Umgebung gilt (Satz 2). Bei
stationärer oder teilstationärer Behandlung muss der Versicherer die Kosten
höchstens nach dem Tarif übernehmen, der im Wohnkanton der versicherten
Person gilt (Satz 3). Beanspruchen Versicherte aus medizinischen Gründen
einen anderen Leistungserbringer, so richtet sich laut Art. 41 Abs. 2 KVG
die Kostenübernahme nach dem Tarif, der für diesen Leistungserbringer gilt
(Satz 1). Medizinische Gründe liegen bei einem Notfall vor oder wenn
die erforderlichen Leistungen bei ambulanter Behandlung am Wohn- oder
Arbeitsort der versicherten Person oder in deren Umgebung (Satz 2 lit. a),
bei stationärer oder teilstationärer Behandlung im Wohnkanton oder in
einem auf der Spitalliste des Wohnkantons aufgeführten ausserkantonalen
Spital nicht angeboten werden (Satz 2 lit. b).

    Bei Aufenthalt in einem Pflegeheim (Art. 39 Abs. 3 KVG) vergütet der
Versicherer gemäss Art. 50 KVG die gleichen Leistungen wie bei ambulanter
Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause.

Erwägung 3

    3.- Die Visana stellte sich in ihrer Verfügung vom 8. Juni 1998 und im
Einspracheentscheid vom 17. Juli 1998 im Wesentlichen auf den Standpunkt,
der Versicherer müsse bei stationärer oder teilstationärer Behandlung
gemäss Art. 41 Abs. 1 KVG die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen,
der im Wohnkanton der versicherten Person gelte. Bevormundete hätten ihren
Wohnsitz laut Art. 25 Abs. 2 ZGB am Sitz der Vormundschaftsbehörde. Da
sich der gesetzliche Wohnsitz des Beschwerdegegners demzufolge in X
im Kanton Solothurn befinde, gelte der Aufenthalt im Heim Y im Kanton
Bern als ausserkantonale Behandlung, was wiederum zur Folge habe, dass
der Versicherer höchstens die Leistungen nach dem Tarif des Wohnkantons
Solothurn erbringen müsse.

    Das kantonale Gericht hat diese Ausführungen bestätigt, die gegen
den Einspracheentscheid gerichtete Beschwerde jedoch mit der Begründung
gutgeheissen, der Versicherte könne die erforderlichen Leistungen in
einer Institution im Wohnkanton nicht beziehen und beanspruche aus
medizinischen Gründen im Sinne von Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG einen
andern Leistungserbringer. Dem 70-jährigen Mann sei nach rund 20-jährigem
Aufenthalt im Heim Y ein Wohnwechsel sowohl aus medizinischer wie auch
aus sozialer Sicht nicht zumutbar.

    In ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde verneint die Krankenkasse das
Vorliegen medizinischer Gründe gemäss Art. 41 Abs. 2 KVG.

Erwägung 4

    4.- Was zunächst die Frage des Vorliegens medizinischer Gründe
anbelangt, ist festzuhalten, dass Art. 41 Abs. 2 KVG abschliessend
bestimmt, was darunter zu verstehen ist. Es sind dies einerseits der
Notfall, d.h. die Lage, in welcher medizinische Hilfe unaufschiebbar und
für die notwendige ambulante Behandlung eine Rückkehr in die Wohn- oder
Arbeitsregion bzw. für die stationäre oder teilstationäre Behandlung in den
Wohnkanton nicht möglich oder angemessen ist, und anderseits der Umstand,
dass die erforderlichen Leistungen innerhalb der örtlichen Grenzen gar
nicht angeboten werden (vgl. GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz 318).

    Die Vorinstanz hat sich bei der Gewährung des Tarifschutzes gemäss
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG auf das Attest des Ärztlichen Dienstes des
Heims Y vom 13. Oktober 1998 gestützt, wonach es für den 70-jährigen
Versicherten, der in der Vergangenheit psychisch labil gewesen sei,
sehr belastend und hinsichtlich seines nun seit Jahren stabilen
Gesundheitszustandes kontraproduktiv und gefährdend wäre, wenn er in ein
anderes Heim verlegt werden müsste. Für solche in der Person liegenden
Gründe haben die Krankenkassen indessen - wie dies die Beschwerdeführerin
zu Recht ausführt - nicht einzustehen. Würden in Art. 41 Abs. 2 KVG als
Voraussetzung nur medizinische Gründe genannt, wäre die Interpretation
des kantonalen Gerichts, wonach es aus medizinischen Gründen für den
Versicherten vorteilhafter wäre, im Heim Y zu bleiben, durchaus in Erwägung
zu ziehen. Auf Grund der - wie erwähnt - abschliessenden Definition des
Gesetzgebers in Art. 41 Abs. 2 KVG kann es jedoch nicht darauf ankommen,
ob es für die versicherte Person medizinisch ganzheitlich gesehen besser
wäre, im bisherigen Heim bleiben zu können. Vielmehr kommt es, nachdem
eine Notfallsituation unbestrittenermassen auszuschliessen ist, darauf
an, ob im Kanton Solothurn die erforderlichen Leistungen nicht angeboten
werden. Vorliegend wird nun aber weder behauptet, noch sind Anhaltspunkte
dafür vorhanden, dass es im Kanton Solothurn keine Pflegeheime gäbe,
welche die für den Versicherten erforderlichen Leistungen anbieten würden.

Erwägung 5

    5.- a) Im Weitern ist zu prüfen, wie der Aufenthalt in einem Pflegeheim
von Art. 41 Abs. 1 KVG erfasst wird. Krankenkasse, Vorinstanz und BSV gehen
davon aus, dass diesbezüglich Satz 3 von Art. 41 Abs. 1 KVG zur Anwendung
kommt, der die Kostenübernahme bei stationärer oder teilstationärer
Behandlung regelt, dies obwohl in Art. 50 KVG bestimmt wird, dass beim
Aufenthalt in einem Pflegeheim der Versicherer die gleichen Leistungen
wie bei ambulanter Krankenpflege vergütet.

    b) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der
dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn,
der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und
unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden,
u.a. dann, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht
den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus
der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder
aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben (BGE 126 V 105
Erw. 3 mit Hinweisen).

    c) Die Abgrenzung zwischen ambulanter Behandlung (Art. 41 Abs. 1
Satz 2 KVG) einerseits und stationärer oder teilstationärer Behandlung
(Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG) andererseits wie auch die Qualifizierung
des langjährigen Aufenthalts in einem Pflegeheim als stationäre
oder teilstationäre Behandlung erscheinen auf den ersten Blick im
deutschsprachigen Gesetzestext klar. Diskrepanzen ergeben sich jedoch
bei Hinzuziehen des französischen und italienischen Gesetzestextes, wo
die Gegenüberstellung "traitement ambulatoire"/"traitement hospitalier
ou semihospitalier" bzw. "cura ambulatoriale"/"cura ospedaliera o
semiospedaliera" lautet und demzufolge die im deutschsprachigen Text mit
"stationär oder teilstationär" bezeichnete Behandlung nur spitalbezogen
ist. Betrachtet man damit zusammenhängende Gesetzesbestimmungen, zeigt
sich, dass diese Unterscheidung mehrmals vorkommt. So differenziert
auch Art. 25 Abs. 2 KVG nach "ambulant/sous forme ambulatoire/
ambulatorialmente", "stationär/en milieu hospitalier/in ospedale",
"teilstationär/en milieu semi-hospitalier/parzialmente in ospedale"
und "in einem Pflegeheim/dans un établissement médico-social/in una
casa di cura". In Art. 39 KVG, welcher sich auf Spitäler und andere
Einrichtungen bezieht, regelt sodann Abs. 1 den Aufenthalt in Anstalten
oder deren Abteilungen, die der stationären Behandlung dienen (Spitäler),
Abs. 2 die Behandlung in Anstalten, Einrichtungen oder deren Abteilungen,
die der teilstationären Krankenpflege dienen, während sich Abs. 3 zu
Anstalten, Einrichtungen oder deren Abteilungen äussert, die der Pflege
und medizinischen Betreuung sowie der Rehabilitation von Langzeitpatienten
und -patientinnen dienen (Pflegeheim). In der Botschaft des Bundesrates
vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung (BBl
1992 I 93 ff., namentlich S. 166) wird zu letzterer Bestimmung erläutert,
dass die Gesetzesvorlage eben zwischen drei Kategorien von Einrichtungen
unterscheidet, nämlich Spitäler als Anstalten (oder Abteilungen davon) für
die stationäre Behandlung, teilstationäre Institutionen und schliesslich
Pflegeheime. Dieser Kontext zeigt, dass die Begriffe "stationäre oder
teilstationäre Behandlung" in Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG dem Spital
zuzuordnen sind, wie es im französischen und italienischen Gesetzestext
zum Ausdruck kommt, während der deutschsprachige Text diesbezüglich
missverständlich formuliert ist. Klar ist, dass ein zwanzigjähriger
Aufenthalt in einem Pflegeheim im gewöhnlichen Sprachgebrauch als
stationärer Aufenthalt bezeichnet wird, doch sind Pflegeheime in Bezug auf
die Tarifierung - wie dies auch aus Art. 50 KVG hervorgeht - eben nicht
wie Spitäler zu behandeln, sondern es werden an den dortigen Aufenthalt
die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege erbracht. Dies
entspricht auch dem Zweck der Regelung, sind doch die Hotelleriekosten
(Unterkunft und Verpflegung) in einem Pflegeheim im Gegensatz zum
Spital nicht von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu
übernehmen und dementsprechend nicht im Leistungsbereich gemäss Art. 7
der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) enthalten (vgl. EUGSTER,
aaO, Rz 307; RKUV 1999 Nr. KV 86 S. 381). Aus dem Gesagten folgt,
dass der vorliegende Aufenthalt in einem Pflegeheim nicht als stationäre
oder teilstationäre Behandlung im Sinne von Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG,
sondern als ambulante Behandlung im Sinne von Art. 41 Abs. 1 Satz 2 KVG
zu qualifizieren ist.

    d) Bei der ambulanten Behandlung muss der Versicherer die
Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der am Wohn- oder
Arbeitsort der versicherten Person oder in deren Umgebung gilt
(Art. 41 Abs. 1 Satz 2 KVG). Unter Wohnort ist gemäss Rechtsprechung
des Eidg. Versicherungsgerichts - wie bereits unter altem Recht - der
Aufenthaltsort, nicht etwa der Wohnsitz, zu verstehen (BGE 126 V 17 Erw. 3
mit Hinweisen auf Judikatur, Literatur und Materialien). Der Aufenthaltsort
des Beschwerdegegners ist unbestrittenermassen die Ortschaft Z im Kanton
Bern, lebt er doch seit rund 20 Jahren dort in einem Pflegeheim. Daran
ändert nichts, dass er bevormundet ist, da dies nur einen Einfluss auf
den Wohnsitz hat. Die Frage aber, ob in Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG unter
"Wohnkanton" ("canton où réside l'assuré", "cantone di domicilio")
der "Wohnsitzkanton" ("canton de domicile", "cantone di domicilio")
zu verstehen ist, kann vorliegend offen gelassen werden.

    e) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Kostenübernahme
für den Aufenthalt des Beschwerdegegners im Pflegeheim nach der Regelung
für ambulante Behandlung gemäss Art. 41 Abs. 1 Satz 2 KVG richtet, was zur
Folge hat, dass die Krankenkasse auch ab 1. Januar 1997 bis auf weiteres
die Pflegeheimbeiträge des Kantons Bern, wo sich der Versicherte aufhält,
zu entrichten hat. Dementsprechend hat der Versicherte auch die Prämien
des Kantons Bern zu bezahlen.