Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 463



126 V 463

78. Urteil vom 6. November 2000 i. S. Sozialversicherungsanstalt
des Kantons St. Gallen gegen Z. und Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen Regeste

    Art. 2 Abs. 2 ELG (in der bis 31. Dezember 1997 gültig gewesenen
Fassung); Art. 2 Abs. 2 lit. a ELG: Unterbrechung des Aufenthaltes
ausländischer Staatsangehöriger. Die bisherige Rechtsprechung zur
Karenzzeit gilt auch für Ausländer, welche diese zwar früher schon
einmal bestanden, sich jedoch unmittelbar vor dem Zeitpunkt, da sie
Ergänzungsleistungen beanspruchen, nicht während 15 Jahren ununterbrochen
in der Schweiz aufgehalten haben. Mit der 3. ELG-Revision hat sich daran
nichts geändert.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 17. September 1997 lehnte die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen das Gesuch des 1929
geborenen deutschen Staatsbürgers Z. um Ergänzungsleistungen zur Rente der
Alters- und Hinterlassenenversicherung ab, da er sich vor der Anmeldung
zum Bezug dieser Leistung nicht während 15 Jahren ununterbrochen in der
Schweiz aufgehalten habe.

    B.- Die dagegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 3. Juni 1999 gut. Es betrachtete
das Erfordernis des 15-jährigen Aufenthaltes als erfüllt, hob die
Verfügung vom 17. September 1997 auf und wies die Sache zur Fortführung
des Verwaltungsverfahrens an die Sozialversicherungsanstalt zurück.

    C.- Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid
sei aufzuheben.

    Z. schliesst auf Abweisung, das Bundesamt für Sozialversicherung auf
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das kantonale Versicherungsgericht hat das gesetzliche Erfordernis
eines 15-jährigen ununterbrochenen Aufenthaltes in der Schweiz von
ausländischen Staatsbürgern zum Bezug von Ergänzungsleistungen (Art. 2
Abs. 2 ELG in der bis Ende 1997 gültig gewesenen, vorliegend anwendbaren
Fassung) richtig dargelegt.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdegegner meldete sich am 26. März 1997 zum Bezug von
Ergänzungsleistungen an. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob er sich in
den 15 Jahren vor der Anmeldung, d.h. von März 1997 zurück bis März 1982,
ununterbrochen im Sinne dieser Vorschrift in der Schweiz aufgehalten hat.

    a) Gemäss den Auskünften mehrerer Einwohnergemeinden verzeichnete der
Beschwerdegegner vom 25. August 1970 bis 30. April 1994 ohne Unterbruch
Wohnsitz in der Schweiz. Im April 1994 erhielt er von der Fremdenpolizei
die Erlaubnis zu einem Auslandaufenthalt von 1 1/2 Jahren ab 1. Mai 1994
mit der Zusage, dass er die Niederlassungsbewilligung C nicht verlieren
werde. In der Folge hielt er sich vom 1. Mai 1994 bis 31. Oktober 1994
im Ausland auf. Dieser Aufenthalt diente nach eigenen Angaben der
Verbesserung seiner Fremdsprachenkenntnisse und der Recherche über
Vorkommnisse während der Besatzungszeit.

    b) Die Vorinstanz erwog, der Beschwerdegegner habe durch seinen
langjährigen Aufenthalt bewiesen, dass er in der Schweiz habe bleiben
wollen. Er habe seine Niederlassungsbewilligung C für die geplante
Dauer des Auslandaufenthaltes reservieren lassen, was seinen Willen
belege, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Der Gesetzgeber habe
Ergänzungsleistungen nur an diejenigen Ausländer ausrichten wollen,
welche im Zeitpunkt der Gesuchstellung bereits eine intensive Bindung
an die Schweiz hätten. Vorübergehende Unterbrüche des tatsächlichen
Aufenthaltes änderten an dieser Bindung nichts, solange sie unterhalb
einer bestimmten Schwelle lägen. An Hand der bisherigen Rechtsprechung sei
festzustellen, dass das zu tolerierende Ausmass der Dauer einer faktischen
Abwesenheit einen gewissen Spielraum offen lasse. Zu beachten sei,
dass Ergänzungsleistungs-Bezüger, die ihre 15-jährige Karenzzeit einmal
bestanden hätten, die Schweiz für maximal ein Jahr verlassen könnten,
wonach der Anspruch auf Ergänzungsleistungen wieder auflebe. Solche
Versicherte seien zu Unrecht besser gestellt als diejenigen, welche
die Karenzfrist bei der erstmaligen Gesuchstellung noch nicht bestanden
hätten. Daher dürfe ein Aufenthaltsunterbruch von weniger als einem Jahr
die angelaufene Karenzzeit nicht untergehen lassen.

    Der Beschwerdegegner macht geltend, insgesamt habe er seit dem
23. Lebensjahr einundvierzigeinhalb Jahre in der Schweiz verbracht. Während
des Aufenthaltes im Ausland habe er seinen Haushalt in der Schweiz
eingestellt, Steuern bezahlt und sei alle vier Wochen für mehrere Tage
heimgekehrt, um Post, Miete, Versicherungen und anderes zu erledigen. Er
habe somit zu keiner Zeit den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in
der Schweiz aufgegeben.

    c) Im nicht veröffentlichten Urteil T. vom 26. Juni 1998 hat das Eidg.
Versicherungsgericht seine Rechtsprechung zur Problematik der 15-jährigen
Karenzzeit dargestellt. Demnach gilt diese nicht als unterbrochen,
solange die Landesabwesenheit drei Monate nicht übersteigt (BGE 110 V
175 Erw. 4b). Bei längerer Abwesenheit beginnt sie mit der erneuten
Einreise in die Schweiz wieder von vorne zu laufen. Ausnahmsweise ist
eine Erstreckung über die höchstzulässige Dauer von drei Monaten möglich,
ohne dass die Karenzzeit unterbrochen wird. Hiezu müssen jedoch triftige
Gründe vorliegen. In Zusammenfassung seiner bisherigen Rechtsprechung
hat das Gericht festgehalten, dass anerkannte triftige Motive für eine
Erstreckung der dreimonatigen Landesabwesenheit sich auf zwei Kategorien
beschränken: einerseits auf zwingende krankheits- oder unfallbedingte
Ursachen in der Person des Leistungsansprechers selbst, anderseits auf
Tatbestände aus dem Bereich der höheren Gewalt. An dieser Limitierung ist
festzuhalten, da eine Anerkennung weiterer Gründe die Rechtssicherheit
gefährden und eine praktikable Grenzziehung verunmöglichen würde. Die
Erstreckung der dreimonatigen Zeitspanne muss eine Ausnahme bleiben und
sich an klar fassbaren Kriterien orientieren können. Motive sozialer,
familiärer, persönlicher oder beruflicher Art können daher, so achtbar sie
im Einzelfall sein mögen, nicht als triftig im Sinne dieser Rechtsprechung
anerkannt werden.

    d) Die vom Beschwerdegegner vorgelegten Gründe für die Erstreckung
der dreimonatigen Landesabwesenheit lassen sich unter keine der beiden
erwähnten Kategorien subsumieren. Demnach wurde die Karenzzeit bei dem
hier streitigen Aufenthalt im Ausland unterbrochen mit dem Ergebnis, dass
sie mit der Einreise in die Schweiz am 1. November 1994 wieder von vorne zu
laufen begann. Daran vermag nach dem Gesagten der Umstand nichts zu ändern,
dass der Versicherte insgesamt über 40 Jahre in der Schweiz verbracht
hat. Die gelegentlichen Rückreisen nach Hause zur Erledigung von Post,
Versicherungen und Miete vermögen ebenfalls zu keinem andern Resultat
zu führen. Zudem hat das Gericht im erwähnten Urteil T. festgehalten,
dass sich auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention kein weiter
gehender Anspruch ergibt.

Erwägung 3

    3.- a) Das Eidg. Versicherungsgericht verkennt nicht, dass dieses
Ergebnis für den Beschwerdegegner hart ausfällt, zumal dieser sich vom 25.
August 1970 bis 30. April 1994 ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten
und somit - im Unterschied zum Versicherten im erwähnten Urteil T. -
die 15-jährige Wartezeit an sich einmal bestanden hatte. Nach seinem
Wortlaut verlangt alt Art. 2 Abs. 2 ELG jedoch ausdrücklich, dass ein
Leistungsansprecher sich "unmittelbar" vor dem Zeitpunkt, von welchem
an er Ergänzungsleistungen verlangt, ununterbrochen 15 Jahre in der
Schweiz aufgehalten haben muss. Dieser Wortlaut entspricht dem Willen des
Gesetzgebers, wie sich aus der Botschaft des Bundesrates vom 21. September
1964 (BBl 1964 II 690 f.) ergibt. Die AHV/IV-Kommission lehnte damals
die Gewährung von Ergänzungsleistungen an in der Schweiz wohnhafte
Ausländer und Staatenlose überhaupt ab, stiess aber auf den Widerstand
einer grösseren Anzahl von Kantonen, woraus sich als Kompromiss die hier
umstrittene Regelung ergab.

    b) Im Rahmen der 3. ELG-Revision beantragte der Bundesrat die
Herabsetzung der Karenzzeit von 15 auf 10 Jahre (Botschaft vom 20. November
1996, BBl 1997 I 1203). Bei dieser Gelegenheit wurde auch das Problem der
Erfüllung der Karenzzeit nach alt Art. 2 Abs. 2 ELG erörtert. Gerade das
Wort "unmittelbar" war Gegenstand von Diskussionen in der vorberatenden
Kommission des Nationalrates, wurde aber in der Folge beibehalten. In der
Kommission wurde darauf hingewiesen, dass selbst bei einer Herabsetzung
der Karenzzeit ein in vielen Vernehmlassungen genanntes Problem bestehen
bleibe, nämlich dass bei einer Unterbrechung des Aufenthalts in der
Schweiz der Anspruch auf Ergänzungsleistungen entfalle. Dies führe dann zu
Ungerechtigkeiten, wenn beispielsweise jemand viel mehr als zehn Jahre in
der Schweiz gelebt, in dieser Zeit aber einige Monate im Heimatland oder
sonst im Ausland verbracht habe. Deshalb schlug ein Kommissionsmitglied
vor, Art. 2 Abs. 2 ELG flexibler zu formulieren. Damit ein Ausländer
Ergänzungsleistungen beziehen könne, solle es genügen, dass er sich
unmittelbar vor dem Zeitpunkt, von welchem an er solche verlangt,
"insgesamt zehn Jahre innerhalb eines Zeitraumes von fünfzehn Jahren"
in der Schweiz aufgehalten hat. Indessen wurde dieser Antrag von der
Kommission des Nationalrates wie auch später vom Nationalrat selber
(Amtl.Bull. 1997 N 455 ff.) abgelehnt. Der Rat teilte die Auffassung des
Bundesrates, wonach der Vorschlag zu wenig klar umrissen und eine Lösung
im Rahmen der Verhandlungen auf internationaler Ebene zu suchen sei. Der
Ständerat folgte dem Nationalrat (Amtl.Bull. 1997 S 617).

    c) Dem Gesetzgeber war somit die hier zu beurteilende Problematik
sehr wohl bekannt. Dennoch hat er eine Regelung abgelehnt, welche
unbefriedigende Ergebnisse der hier auftretenden Art verhindert
hätte. Unter diesen Umständen besteht für das Eidg. Versicherungsgericht
kein Raum, die Rechtsprechung zu ändern, weil der insoweit unveränderte
Wortlaut dem in der nationalrätlichen Debatte mehrheitlich befürworteten
Rechtssinne entspricht und damit für das Gericht massgeblich bleibt
(Art. 191 BV).