Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 429



126 V 429

72. Urteil vom 29. Dezember 2000 i. S. J. gegen Ausgleichskasse des
Kantons Thurgau und AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau Regeste

    Art. 29sexies Abs. 3 AHVG. Erziehungsgutschriften bei
Stiefkindverhältnissen. Obwohl im Falle einer Wiederverheiratung die Kinder
aus erster Ehe zum einen Elternteil lediglich in einem Stiefkindverhältnis
stehen, ist sowohl für die erste wie auch für die zweite (kinderlose)
Ehe eine hälftige Aufteilung der Erziehungsgutschriften vorzunehmen.

Sachverhalt

    A.- Die am 9. März 1937 geborene J. war vom 3. April 1964 bis zur
Verwitwung am 25. Dezember 1975 in erster Ehe verheiratet. Aus dieser
Ehe entstammen vier in den Jahren 1964, 1965, 1970 und 1973 geborene
Kinder. Am 5. Oktober 1979 ging die Versicherte eine zweite Ehe ein,
welche kinderlos blieb. Nach Erreichen des 62. Altersjahres sprach ihr
die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau mit Verfügung vom 31. März 1999
ab April 1999 eine einfache Altersrente von 1'897 Franken im Monat auf
Grund eines durchschnittlichen Jahreseinkommens von 63'918 Franken aus 41
Jahren gemäss Rentenskala 44 zu. Dabei wurde für die Jahre 1964 bis 1974
eine halbe, für 1975 bis 1979 eine ganze und für 1980 bis 1989 wieder
eine halbe Erziehungsgutschrift angerechnet.

    B.- J. beschwerte sich gegen diese Verfügung und beantragte,
es sei auch für die Zeit von Januar 1980 bis Dezember 1989 eine ganze
Erziehungsgutschrift zu berücksichtigen. Die AHV/IV-Rekurskommission des
Kantons Thurgau wies die Beschwerde mit Entscheid vom 12. Januar 2000 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt J. den vorinstanzlichen
Beschwerdeantrag erneuern.

    Die Ausgleichskasse, die Rekurskommission und das Bundesamt
für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 29bis Abs. 1 AHVG werden für die Rentenberechnung
Beitragsjahre, Erwerbseinkommen sowie Erziehungs- oder
Betreuungsgutschriften der rentenberechtigten Person zwischen dem 1. Januar
nach Vollendung des 20. Altersjahres und dem 31. Dezember vor Eintritt
des Versicherungsfalles (Rentenalter oder Tod) berücksichtigt. Die Rente
wird nach Massgabe des durchschnittlichen Jahreseinkommens berechnet,
welches sich aus den Erwerbseinkommen, den Erziehungsgutschriften und den
Betreuungsgutschriften zusammensetzt (Art. 29quater AHVG). Gemäss Art.
29sexies Abs. 1 AHVG (in dem bis 31. Dezember 1999 gültig gewesenen
und auf den vorliegenden Fall anwendbaren Wortlaut) wird Versicherten
für die Jahre, in welchen sie die elterliche Gewalt über eines oder
mehrere Kinder ausüben, die das 16. Altersjahr noch nicht erreicht
haben, eine Erziehungsgutschrift angerechnet. Dabei werden Ehepaaren
jedoch nicht zwei Gutschriften kumulativ gewährt. Der Bundesrat regelt
die Einzelheiten, insbesondere die Anrechnung der Erziehungsgutschrift,
wenn a) Eltern Kinder unter ihrer Obhut haben, ohne die elterliche Gewalt
auszuüben, b) lediglich ein Elternteil in der schweizerischen Alters-
und Hinterlassenenversicherung versichert ist und c) die Voraussetzungen
für die Anrechnung einer Erziehungsgutschrift nicht während des ganzen
Kalenderjahres erfüllt werden (Art. 52e und 52f AHVV). Nach Abs. 2
der Gesetzesbestimmung entspricht die Erziehungsgutschrift dem Betrag
der dreifachen minimalen jährlichen Altersrente gemäss Art. 34 AHVG im
Zeitpunkt der Entstehung des Rentenanspruchs. Abs. 3 bestimmt, dass bei
verheirateten Personen die Erziehungsgutschrift während der Kalenderjahre
der Ehe hälftig aufgeteilt wird. Der Teilung unterliegen aber nur die
Gutschriften für die Zeit zwischen dem 1. Januar nach Vollendung des
20. Altersjahres und dem 31. Dezember vor Eintritt des Versicherungsfalles
beim Ehegatten, welcher zuerst rentenberechtigt wird.

Erwägung 2

    2.- a) Das Gesetz macht den Anspruch auf Anrechnung von
Erziehungsgutschriften grundsätzlich davon abhängig, dass der Versicherte
über eines oder mehrere Kinder die elterliche Gewalt (nunmehr elterliche
Sorge: Ziff. I 4 des Bundesgesetzes über die Änderung des ZGB vom
26. Juni 1998, in Kraft seit 1. Januar 2000; AS 1999 1118, 1144) ausgeübt
hat. Eine Ausnahme von der Voraussetzung der elterlichen Gewalt sieht das
Gesetz lediglich insofern vor, als der Bundesrat Vorschriften über die
Anrechnung von Erziehungsgutschriften u.a. für den Fall erlassen kann,
dass Eltern Kinder unter ihrer Obhut haben, ohne die elterliche Gewalt
über sie auszuüben (Art. 29sexies Abs. 1 lit. a AHVG). Die gestützt
hierauf erlassene Bestimmung von Art. 52e AHVV beschränkt sich darauf,
einen Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften auch für Jahre
vorzusehen, in denen Eltern Kinder in ihrer Obhut hatten, ohne dass ihnen
die elterliche Gewalt zustand. Geregelt wird damit der Fall, dass den
Eltern die elterliche Gewalt entzogen wurde (Art. 311 ff. ZGB).

    Nach der Rechtsprechung ist der Begriff der elterlichen Gewalt gemäss
Art. 29sexies AHVG im Sinne der Art. 296 ff. ZGB zu verstehen. Nach diesen
Bestimmungen haben Pflegeeltern keine elterliche Gewalt, sondern lediglich
die Befugnis, die leiblichen Eltern in der elterlichen Gewalt zu vertreten,
soweit es zur gehörigen Erfüllung ihrer Aufgaben angezeigt ist (Art. 300
Abs. 1 ZGB). Pflegeeltern sind daher - anders als die Adoptiveltern -
vom Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften ausgeschlossen
(BGE 125 V 246 Erw. 2a). Demgegenüber hat das Eidg. Versicherungsgericht
in BGE 126 V 1 den Anspruch auf Erziehungsgutschriften im Falle einer
Vormundin bejaht, welche einen unmündigen Neffen in persönlicher Obhut
hatte. Als massgebend hiefür erachtete das Gericht, dass der Vormund bei
Unmündigkeit des Bevormundeten zwar nicht über die elterliche Gewalt
verfügt, ihm nach Art. 405 Abs. 2 ZGB unter Vorbehalt der Mitwirkung
der vormundschaftlichen Behörden aber grundsätzlich die gleichen Rechte
zustehen wie den Eltern und er über Befugnisse verfügt, welche der
elterlichen Gewalt nahe kommen (BGE 126 V 3 Erw. 4a).

    b) Bei Stiefkindverhältnissen hat jeder Ehegatte dem andern in der
Ausübung der elterlichen Gewalt gegenüber dessen Kindern in angemessener
Weise beizustehen und ihn zu vertreten, wenn es die Umstände erfordern
(Art. 299 ZGB). Die elterliche Gewalt steht aber allein dem leiblichen
Elternteil zu, weil nur zu diesem ein Kindesverhältnis besteht (Art. 252
ZGB). Der Stiefelternteil ist zur stellvertretungsweisen Ausübung der
elterlichen Gewalt berechtigt, wenn der Inhaber selbst verhindert ist
und sofort gehandelt werden muss. Er hat dabei den mutmasslichen Willen
des Inhabers der elterlichen Gewalt zu beachten. Ist der Inhaber der
elterlichen Gewalt dauernd an der Ausübung seiner Befugnisse verhindert,
so tritt der Stiefelternteil nicht an seine Stelle, sondern ist das Kind
zu bevormunden, wobei der Stiefvater oder die Stiefmutter als Vormund
bzw. Vormundin bestellt werden kann (CYRIL HEGNAUER, Grundriss des
Kindesrechts und des übrigen Verwandtschaftsrechts, 5. Aufl., Bern 1999,
S. 181 Rz 25.09 f.).

    Entsprechend der zivilrechtlichen Ordnung begründet bei
Stiefkindverhältnissen lediglich der leibliche Elternteil, nicht dagegen
der Stiefelternteil einen Anspruch auf Erziehungsgutschrift. Hieran
ändert nichts, dass nach Art. 52e AHVV ein Anspruch auf Anrechnung
von Erziehungsgutschriften auch für Jahre besteht, in denen die Eltern
Kinder unter ihrer Obhut hatten, ohne dass ihnen die elterliche Gewalt
zustand. Mit dieser Bestimmung soll nicht Versicherten ein Anspruch
auf Erziehungsgutschrift eingeräumt werden, denen von Gesetzes wegen
keine elterliche Gewalt zukommt. Vielmehr geht es um den Anspruch auf
Erziehungsgutschriften in Fällen, in welchen den Eltern die elterliche
Gewalt entzogen wurde (BGE 125 V 246 Erw. 2a in fine).

Erwägung 3

    3.- Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin für
die Kalenderjahre der zweiten Ehe Anspruch auf Anrechnung der ganzen
Erziehungsgutschrift hat oder ob die Gutschrift nach Art. 29sexies Abs.
3 AHVG unter den Ehegatten hälftig aufzuteilen ist.

    a) Die Vorinstanz gelangt im angefochtenen Entscheid zum Schluss,
die Verwaltung sei auf Grund der massgebenden gesetzlichen Bestimmungen,
des aus den Materialien hervorgehenden Willens des Gesetzgebers und
der Verwaltungsweisungen gehalten gewesen, der Beschwerdeführerin
für die Jahre 1980 bis 1989 lediglich eine halbe Erziehungsgutschrift
anzurechnen. Die Ausgleichskasse stützt die streitige Verfügung auf
Rz 5327 der vom BSV herausgegebenen Wegleitung über die Renten (RWL),
wonach es für die hälftige Aufteilung der Erziehungsgutschrift bei
verheirateten Eltern unerheblich ist, ob es sich bei den Kindern,
für die eine Erziehungsgutschrift beansprucht wird, um die eigenen
oder um Stiefkinder handelt. Die Beschwerdeführerin bestreitet die
Gesetzmässigkeit dieser Verwaltungsweisung und macht geltend, eine
Aufteilung der Erziehungsgutschrift sei nur möglich, wenn überhaupt ein
Anspruch bestehe; insofern stelle Art. 29sexies Abs. 3 AHVG lediglich
eine Ausführungsvorschrift zu Abs. 1 dieser Bestimmung dar. Danach bestehe
Anspruch auf Erziehungsgutschriften unter der doppelten (rechtlichen und
tatsächlichen) Voraussetzung, dass elterliche Gewalt gegeben sei und auch
ausgeübt werde. Mit dieser Grundvoraussetzung unvereinbar sei Rz 5327
RWL, soweit eine Aufteilung der Erziehungsgutschriften unabhängig davon
vorzunehmen sei, ob es sich um eigene oder um Stiefkinder handle. Weil
der Ehemann der Beschwerdeführerin weder rechtlich noch tatsächlich über
die elterliche Gewalt gegenüber den vier Kindern der Versicherten aus
erster Ehe verfüge und ihm auch die Obhut im Rechtssinne nicht zustehe,
habe er keinen Anspruch auf Erziehungsgutschriften.

    b) Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass dem
zweiten Ehemann für die Kinder aus erster Ehe kein eigener Anspruch auf
Erziehungsgutschriften zusteht. Damit ist indessen noch nicht gesagt, dass
ihr für die fragliche Zeit eine ganze Erziehungsgutschrift anzurechnen
ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes wird bei verheirateten Personen die
Erziehungsgutschrift während der Kalenderjahre der Ehe hälftig aufgeteilt
(Art. 29sexies Abs. 3 AHVG). Eine Einschränkung, wonach dies nur für
Kinder aus gemeinsamer Ehe gilt, ergibt sich weder aus dem Wortlaut
noch aus der Systematik oder aus Sinn und Zweck des Gesetzes. Wenn die
Beschwerdeführerin geltend macht, die Bestimmung von Art. 29sexies Abs.
3 AHVG stelle lediglich eine Ausführungsvorschrift zu Abs. 1 dieser Norm
dar und es beurteile sich allein nach Abs. 1 der Bestimmung, ob überhaupt
ein Anspruch auf Erziehungsgutschrift bestehe - was die elterliche Gewalt
voraussetze, weshalb sie allein, nicht aber ihr zweiter Ehemann Anspruch
auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften habe -, so trifft dies insoweit
zu, als der Anspruch auf Erziehungsgutschrift grundsätzlich die elterliche
Gewalt voraussetzt; es folgt daraus jedoch nicht notwendigerweise, dass
die Erziehungsgutschrift bei verheirateten Personen, bei denen nur ein
Elternteil über die elterliche Gewalt verfügt, ungeteilt dem Inhaber
der elterlichen Gewalt zukommt. Bei den parlamentarischen Beratungen zur
10. AHV-Revision hielt der Nationalrat fest, die hälftige Aufteilung der
Gutschriften während der Ehe sei auch deshalb unerlässlich, damit nicht
Ehepartner, die bereits Kinder aus einer früheren Ehe oder Beziehung
haben, gegenüber Ehepaaren mit gemeinsamen Kindern besser gestellt
würden. Denn ohne diese Teilungsregel käme es zu einer keinesfalls
gewünschten Kumulation der Erziehungsgutschriften, wenn ein Ehepaar
Kinder grossziehe, die jeweils nur unter der elterlichen Gewalt des einen
Elternteils stehen (Amtl.Bull. 1994 N 1355). Das BSV weist zu Recht darauf
hin, dass die Ehe Anknüpfungspunkt für die Teilungsvorschrift bildet,
wobei es genügt, wenn ein Elternteil einen Anspruch auf eine zu teilende
Gutschrift in die Ehe "einbringt". Wäre der Gesetzgeber nicht von dieser
Betrachtungsweise ausgegangen, hätte er sich - analog dem Sachverhalt,
wenn nur ein Elternteil versichert ist (Art. 29sexies Abs. 1 lit. b
AHVG) - dazu geäussert, was gelten soll, wenn nur ein Elternteil die
elterliche Gewalt innehat. Auch stellt Art. 29sexies Abs. 3 AHVG nicht
eine blosse Ausführungsvorschrift dar; vielmehr kommt der Bestimmung im
Rahmen des mit der 10. AHV-Revision auf den 1. Januar 1997 eingeführten
geschlechtsneutralen und zivilstandsunabhängigen Rentensystems eine
selbstständige materielle Bedeutung zu. Wie die Vorinstanz zu Recht
feststellt, bildet die hälftige Aufteilung der Erziehungsgutschrift
auch bei Stiefkindverhältnissen das Korrelat zur hälftigen Teilung der
Erwerbseinkommen unter den Ehegatten. Von dieser Betrachtungsweise
ging auch der Gesetzgeber aus. So führte der Berichterstatter der
ständerätlichen Kommission (Kündig) anlässlich der parlamentarischen
Beratung von Art. 29quinquies (dem späteren Art. 29sexies) AHVG
aus, bei Stiefkindern habe der Ehepartner von Vater oder Mutter des
Kindes zwar keinen eigenen Anspruch auf die Gutschrift; er erleide
dadurch aber keinen Nachteil, da die Erziehungsgutschrift von Mutter
oder Vater während der Ehejahre wie ein Erwerbseinkommen gesplittet
werde (Amtl.Bull. 1994 S 550). Für die vom Gesetzgeber beabsichtigte
Gleichstellung der Erwerbseinkommen und der Erziehungsgutschriften bei der
Teilung sprechen auch die analogen Bestimmungen bezüglich der zu teilenden
Einkommen bzw. Gutschriften gemäss Art. 29quinquies Abs. 4 lit. a und
Art. 29sexies Abs. 3 Satz 2 AHVG. Ferner gilt die nach Art. 29quinquies
Abs. 4 lit. b AHVG für die Teilung der Erwerbseinkommen vorausgesetzte
Versicherteneigenschaft auch für die Teilung der Erziehungsgutschriften
(Art. 52f Abs. 4 AHVV). Der Vorinstanz ist deshalb darin beizupflichten,
dass eine Aufteilung der Erziehungsgutschriften nach Art. 29sexies Abs. 3
AHVG für die Kalenderjahre der Ehe auch bei Stiefkindverhältnissen zu
erfolgen hat.