Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 399



126 V 399

66. Auszug aus dem Urteil vom 8. August 2000 i.S. L. gegen
Arbeitslosenkasse SYNA und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 81 Abs. 2 lit. a, Art. 85 Abs. 1 lit. e, Art. 95
Abs. 1 AVIG: Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen
nach Zweifelsfallverfahren. Die kantonale Amtsstelle hat
im Zweifelsfallverfahren einzig zu prüfen, ob die materiellen
Anspruchsvoraussetzungen (u.a. die Vermittlungsfähigkeit) gegeben sind.
Diesbezüglich ist ihr Entscheid für die Arbeitslosenkasse bindend. Diese
hat ihrerseits im Rückforderungsverfahren selbstständig zu prüfen, ob
die Wiedererwägungsvoraussetzungen, insbesondere jene der zweifellosen
Unrichtigkeit, erfüllt sind.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 95 Abs. 1 AVIG muss die Kasse Leistungen der Versicherung
zurückfordern, auf welche der Empfänger keinen Anspruch hatte. Eine auf
Grund einer formell rechtskräftigen Verfügung ausgerichtete Leistung ist
in der Sozialversicherung nur zurückzuerstatten, wenn entweder die für die
Wiedererwägung oder die prozessuale Revision erforderlichen Voraussetzungen
erfüllt sind (BGE 122 V 21 Erw. 3a).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, eine Rückforderung könne nur
erfolgen, wenn eine qualifizierte Unrichtigkeit der erfolgten Leistung
vorliege. Zwar habe vorliegend das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 15. Januar 1998 die Vermittlungsfähigkeit
des Beschwerdeführers mit Wirkung ab 1. Juni 1993 verneint, doch könne
aus dessen abwägender Begründung bloss von einer "durchschnittlichen"
Unrichtigkeit der Leistungsausrichtung ausgegangen werden.

    a) Eine der gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung ist die Vermittlungsfähigkeit (Art. 8 Abs. 1
lit. f AVIG). Nachdem die Arbeitslosenkasse die Anspruchsberechtigung
zunächst bejaht hatte, im Laufe der Leistungsausrichtung jedoch
Zweifel aufkamen, unterbreitete sie die Sache im Rahmen eines
Zweifelsfallverfahrens (Art. 81 Abs. 2 lit. a AVIG; BGE 124 V 386) am 20.
Oktober 1993 dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich (AWA)
zum Entscheid über die Frage der Vermittlungsfähigkeit. In einer ersten
Verfügung vom 10. Februar 1994 begrenzte dieses die Anspruchsberechtigung
auf Ende Mai 1994. In einer zweiten lite pendente am 29. August 1994
ergangenen Verfügung verneinte das AWA die Vermittlungsfähigkeit
rückwirkend ab dem 1. Juni 1993. Die Verwaltung hat damit die Frage
der Vermittlungsfähigkeit rückblickend neu beurteilt, nachdem sie
diese anfänglich (bis Ende Mai 1994) bejaht hatte. Im darauf folgenden
Rechtsmittelverfahren hat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
die nachträglich festgestellte Vermittlungsunfähigkeit mit Entscheid vom
15. Januar 1998 rechtskräftig bestätigt. Davon ist auszugehen.

    b) Es ist im Folgenden zu prüfen, ob die Verwaltung berechtigt ist,
auf ihre formlose, jedoch rechtsbeständige Leistungsausrichtung (BGE 122
V 368 Erw. 3) zurückzukommen.

    aa) Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts
kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche
nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in
Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung
von erheblicher Bedeutung ist (BGE 122 V 21 Erw. 3a, 173 Erw. 4a, 271
Erw. 2, 368 Erw. 3, 121 V 4 Erw. 6, je mit Hinweisen).

    Die für die Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen
massgebenden Voraussetzungen gelten auch mit Bezug auf die Rückerstattung
zu Unrecht bezogener Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung gemäss
Art. 95 AVIG (BGE 122 V 138 Erw. 2c, 272 Erw. 2, 368 Erw. 3) und finden
ebenfalls Anwendung, wenn die zur Rückforderung Anlass gebenden Leistungen
formlos verfügt worden sind (BGE 107 V 182 Erw. 2a in fine).

    bb) Eine zweifellose Unrichtigkeit liegt nicht nur vor, wenn die in
Wiedererwägung zu ziehende Verfügung auf Grund falscher oder unzutreffender
Rechtsregeln erlassen wurde, sondern auch, wenn massgebliche Bestimmungen
nicht oder unrichtig angewandt wurden (ARV 1996/97 Nr. 28 S. 158 Erw. 3c).
Eine gesetzwidrige Leistungszusprechung gilt regelmässig als zweifellos
unrichtig (BGE 103 V 128).

    Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung setzt u.a. die
Vermittlungsfähigkeit des Versicherten voraus (Art. 8 Abs. 1 lit. f in
Verbindung mit Art. 15 AVIG). Für die Frage der zweifellosen Unrichtigkeit
ist entscheidend, ob sich die gesetzliche Anspruchsvoraussetzung der
Vermittlungsfähigkeit klar verneinen lässt (ARV 1996/97 S. 158 Erw. 3c/aa).

    Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat im Entscheid vom
15. Januar 1998 die Vermittlungsfähigkeit rechtskräftig verneint. Dadurch
erweist sich die früher vorgenommene Taggeldausrichtung im Nachhinein als
materiell unrechtmässig, weshalb die erste Rückforderungsvoraussetzung nach
Art. 95 Abs. 1 AVIG erfüllt ist. Damit ist aber über die Zulässigkeit der
Rückforderung noch nicht abschliessend entschieden. Zwar ist die Kasse
an den aus der Durchführung des Zweifelsfallverfahrens resultierenden
(allenfalls gerichtlich bestätigten) Feststellungsentscheid der kantonalen
Amtsstelle gebunden. Hingegen fragt sich, wer die Rückkommenstitel
(prozessuale Revision oder Wiedererwägung) beurteilt, nachdem für die
Rückforderung nicht die kantonale Amtsstelle, sondern die Arbeitslosenkasse
zuständig ist (Art. 95 Abs. 1 AVIG).

    cc) Die gesetzliche Zuständigkeitsordnung ist eindeutig: Nach Art. 85
Abs. 1 AVIG klärt die kantonale Amtsstelle in den ihr übertragenen
Fällen einzig die Anspruchsberechtigung ab (lit. b) oder überprüft die
Vermittlungsfähigkeit der Arbeitslosen (lit. d). In den Fällen nach
Art. 81 Abs. 2 AVIG entscheidet sie über die Anspruchsberechtigung,
gegebenenfalls die Vermittlungsfähigkeit (Art. 85 Abs. 1 lit. e AVIG). Dies
geschieht, wie erwähnt, in Form einer Feststellungsverfügung. Wird diese
rechtskräftig, ist die Feststellung der kantonalen Amtsstelle (oder, im
Falle der Anfechtung, des Gerichts) bezüglich der Vermittlungsfähigkeit
für die Kasse bindend. Doch trifft dies nur insofern zu, als diese zu
entscheiden hat, ob und allenfalls für welchen Zeitraum eine versicherte
Person diese materielle Anspruchsvoraussetzung erfüllt oder nicht. Daraus
ergibt sich dreierlei: Wird die Vermittlungsfähigkeit bejaht, so hat die
Kasse ihre Leistungen, allenfalls auch nachträglich, zu erbringen und es
ist ihr verwehrt, bereits erfolgte Zahlungen zurückzufordern. Wurde,
zweitens, die Vermittlungsfähigkeit hingegen verneint und hat die
Kasse noch keine Leistungen erbracht, so darf sie für den fraglichen
Zeitraum keine Leistungen erbringen. Hat die Kasse, drittens, für
einen Zeitraum bereits Taggelder ausbezahlt, für welche zufolge des
negativen rechtskräftigen Entscheids der kantonalen Amtsstelle im
Zweifelsfallverfahren die Anspruchsvoraussetzungen nachträglich nicht
mehr erfüllt sind, gelten diese Leistungen als unrechtmässig bezogen,
weshalb die Kasse diese gemäss Art. 95 Abs. 1 AVIG zurückzufordern hat.
Dies darf sie nach der Rechtsprechung jedoch nur, wenn die Wiedererwägungs-
oder Revisionsvoraussetzungen erfüllt sind. Ob dies zutrifft, hatte
die kantonale Amtsstelle weder zu prüfen noch zu entscheiden; denn im
Zweifelsfallverfahren geht es weder um eine Wiedererwägung noch um
allfällige Rückforderungen, sondern einzig um die - unter Umständen
rückwirkende - Prüfung der materiellen Anspruchsvoraussetzungen. Deshalb
obliegt es der Kasse bei im Zweifelsfallverfahren festgestellter
Rechtswidrigkeit einer bestimmten Leistungsausrichtung, ihrerseits im
Rückforderungsverfahren zu prüfen, ob die zweifellose Unrichtigkeit
und die erhebliche Bedeutung ihrer Berichtigung als Voraussetzungen der
Wiedererwägung (oder gegebenenfalls die Voraussetzungen der prozessualen
Revision) der verfügten Taggeldzusprechung erfüllt sind. (...)

    dd) Nach dem Gesagten ist im vorliegenden Rückerstattungsprozess nur
zu prüfen, ob Kasse und Vorinstanz die Wiedererwägungsvoraussetzungen,
insbesondere jene der offensichtlichen Unrichtigkeit, zu Recht als erfüllt
annehmen durften. Gemäss eigener - gegenüber dem amtsstelleninternen
Protokoll "korrigierter" - Darstellung in der "Persönlichen Stellungnahme
des Versicherten vom 11.07.96" erledigte der Beschwerdeführer als
Teilhaber der zusammen mit seinem Partner K. gegründeten Firmen, die
im Import und Export tätig waren, von allem Anfang an alle anfallenden
Arbeiten (Studium des Inseratemarktes, Lektüre spezieller Zeitschriften,
Telefonarbeit, Postversand, Besuch von Börsen); er hielt sich - alleine
oder zusammen mit dem Partner - zudem ab 1993 regelmässig im Ausland
auf; die beiden Firmeninhaber betätigten sich in gleicher Weise, es gab
keine Arbeitsaufteilung. Aus den Akten ergibt sich schlüssig, dass die
selbstständige Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers gleich wie jene
von K. nicht nur als vorübergehend geplant war. Dafür spricht auch,
dass er sich in der Steuererklärung 1994 als seit 21. Januar 1993
Selbstständigerwerbender bezeichnet. Zu beachten ist schliesslich,
dass in der Erfolgsrechnung 1993 für Werbekosten immerhin 12'000
Franken ausgewiesen sind. Bei dieser Aktenlage steht fest, dass der
Beschwerdeführer tatsächlich in einer selbstständigen Erwerbstätigkeit
beschäftigt war (ARV 1996/1997 Nr. 36 S. 202 Erw. 3). In Würdigung der
gesamten Aktenlage ist die anfängliche Annahme der Vermittlungsfähigkeit
durch die Kasse zweifellos unrichtig. Die Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen daran nichts zu ändern.

    ee) Der hier strittige Betrag von über 43'000 Franken erfüllt das
Kriterium der erheblichen Bedeutung ohne weiteres.