Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 393



126 V 393

65. Urteil vom 25. September 2000 i.S. M. gegen Industrie-, Gewerbe-
und Arbeitsamt des Kantons Aargau und Versicherungsgericht des Kantons
Aargau Regeste

    Art. 13 Abs. 3 AVIG; Art. 12 Abs. 1 und 2 AVIV: Beitragszeit vorzeitig
pensionierter Versicherter. Kündigt ein Arbeitnehmer nach Erreichung
der Altersgrenze, ab welcher das Reglement der Vorsorgeeinrichtung eine
vorzeitige Pensionierung zulässt, das Arbeitsverhältnis, so fällt er nicht
unter die Ausnahme von Art. 12 Abs. 2 AVIV, sondern unter die Regel von
Art. 12 Abs. 1 AVIV, wonach nur die nach der vorzeitigen Pensionierung
zurückgelegten Beitragszeiten angerechnet werden können. Ebenso verhält
es sich mit einer Person, die aus einem anderen als den in Art. 12 Abs. 2
lit. a AVIV erwähnten Gründen von ihrem Arbeitgeber entlassen wird.

Sachverhalt

    A.- Die am 31. März 1938 geborene M. arbeitete seit 1. März 1992
als Betreuerin des Tageszentrums X. Am 28. Januar 1998 kündigte sie das
Arbeitsverhältnis auf den 31. März 1998. Von der Vorsorgeeinrichtung Y
der Arbeitgeberin erhielt sie eine einmalige Zahlung von 19'830 Franken.

    Am 15. April 1998 stellte die Versicherte Antrag auf
Arbeitslosenentschädigung. Mit Verfügung vom 2. Dezember 1998 lehnte das
Industrie-, Gewerbe- und Arbeitsamt des Kantons Aargau (KIGA) das Begehren
wegen fehlender Beitragszeit ab.

    B.- Gegen diese Verfügung erhob M. beim Versicherungsgericht des
Kantons Aargau Beschwerde. Das Gericht stellte in seinem Urteil vom 12.
Januar 2000 fest, dass die Versicherte, unabhängig davon, ob sie dies
gewollt habe oder nicht, auf Grund des Reglements der Vorsorgeeinrichtung
Y vorzeitig pensioniert worden sei. Die Verwaltung habe sich deshalb
zu Recht auf den Standpunkt gestellt, dass nur die nach der vorzeitigen
Pensionierung zurückgelegten Beitragszeiten angerechnet werden könnten.
Hingegen hiess das Gericht die Beschwerde insoweit gut, als es die Sache
an die Verwaltung zurückwies, damit diese prüfe, ob die Versicherte seit
dem 1. April 1998 einer Beschäftigung nachgegangen sei und damit die
Beitragszeit erfüllt habe.

    C.- M. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie macht geltend, sie
sei auf Grund zwingender Regelungen im Rahmen der beruflichen Vorsorge
vorzeitig pensioniert worden, sodass die vor der vorzeitigen Pensionierung
zurückgelegte Beitragszeit anzurechnen sei. Insoweit sei der Entscheid
der Vorinstanz aufzuheben.

    Sowohl das KIGA als auch das Staatssekretariat für Wirtschaft
verzichten auf eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 13 Abs. 3 AVIG kann der Bundesrat zur Verhinderung
eines ungerechtfertigten gleichzeitigen Bezuges von Altersleistungen
der beruflichen Vorsorge und Arbeitslosenentschädigung die Anrechnung
von Beitragszeiten vorzeitig pensionierter Personen von Art. 13 AVIG
abweichend regeln. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat der Bundesrat
in Art. 12 AVIV unter der Marginalie "Beitragszeit vorzeitig pensionierter
Versicherter" folgende Bestimmung erlassen:
      "1 Versicherten, die vor Erreichung des Rentenalters der AHV

    pensioniert worden sind, wird nur jene beitragspflichtige Beschäftigung

    als Beitragszeit angerechnet, die sie nach der Pensionierung ausgeübt

    haben.
      2 Absatz 1 gilt nicht, wenn der Versicherte: a. aus wirtschaftlichen
      Gründen oder auf Grund von zwingenden Regelungen

    im Rahmen der beruflichen Vorsorge vorzeitig pensioniert wurde und
      b. einen Anspruch auf Altersleistungen erwirbt, der geringer ist
      als die

    Entschädigung, die ihm nach Artikel 22 AVIG zustünde.
      3 Als Altersleistungen gelten Leistungen der obligatorischen und

    weitergehenden beruflichen Vorsorge."

    b) Das Rücktrittsalter ist, soweit für die Frage der vorzeitigen
Pensionierung relevant, in den Absätzen 3 und 4 von Ziffer 2.3.
des Vorsorgereglementes der Y (Ausgabe 1998) wie folgt geregelt:
      "Das ordentliche Rücktrittsalter entspricht, gemäss den Bestimmungen

    der AHV, dem Alter 65 für Männer bzw. 62 für Frauen. Es wird an
demjenigen

    Monatsersten erreicht, welcher auf den betreffenden Geburtstag folgt.
      In Abweichung von diesen Bestimmungen kann der Versicherte das

    Rücktrittsalter im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber bis zu fünf Jahre

    vorverlegen, sofern er jede hauptamtliche Erwerbstätigkeit definitiv

    aufgibt. Die Alters- bzw. Hinterlassenenleistungen werden in diesem
Fall

    auf Grund versicherungstechnischer Berechnungen reduziert."

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz hat in zutreffender Würdigung der Akten
festgestellt, dass die Beschwerdeführerin von der Y als Vorsorgeeinrichtung
nicht eine Freizügigkeitsleistung, sondern infolge ihrer Kündigung des
Arbeitsvertrages, des Erreichens der reglementarischen Altersgrenze für
eine vorzeitige Pensionierung und ihres Begehrens eine Altersrente in Form
einer einmaligen Kapitalzahlung erhalten hat (vgl. BGE 120 V 309 Erw. 4a).

    Die Beschwerdeführerin anerkennt die Richtigkeit dieser
Feststellung. Sie hält aber dafür, dass sie auf Grund zwingender Regelung
durch das Reglement der Vorsorgeeinrichtung vorzeitig pensioniert worden
sei. Deshalb erfülle sie die Voraussetzung von Art. 12 Abs. 2 lit. a
AVIV. Da die kumulativ zu erfüllende Voraussetzung von Art. 12 Abs. 2
lit. b AVIV ebenfalls gegeben sei, falle sie nicht unter Art. 12 Abs. 1
AVIV, sodass für sie die vor der vorzeitigen Pensionierung zurückgelegte
Beitragszeit anzurechnen sei.

    Streitig und zu prüfen ist demnach, ob die vor der vorzeitigen
Pensionierung zurückgelegte Beitragszeit anzurechnen ist, was davon
abhängt, ob sich die Situation der Beschwerdeführerin nach Art. 12 Abs. 1
oder nach Art. 12 Abs. 2 AVIV beurteilt.

Erwägung 3

    3.- a) GERHARDS weist in seinem Kommentar zum
Arbeitslosenversicherungsgesetz (Bd. I, N 34-45 zu Art. 13) zu Recht darauf
hin, dass die Bestimmung von Art. 12 AVIV in Anbetracht der Delegationsnorm
des Art. 13 Abs. 3 AVIG nur einen ungerechtfertigten gleichzeitigen Bezug
von Pensionskassenleistungen und Arbeitslosenentschädigung zu verhindern
erlaubt (vgl. auch BGE 123 V 146 Erw. 4b). Einen solchen ungerechtfertigten
Bezug könne sie aber nicht verhindern, sondern durch den Neubeginn
der Beitragszeit nach der Pensionierung lediglich hinausschieben. Die
Bestimmung sei richtigerweise lediglich unter dem Aspekt verständlich,
dass der Versicherte damit seine Vermittlungsbereitschaft unter Beweis
stellen müsse.

    THOMAS NUSSBAUMER (Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Bd. Soziale Sicherheit, Rz 191) sieht in
Art. 12 Abs. 2 lit. a AVIV das Moment der Freiwilligkeit angesprochen. Wer
freiwillig von der statutarischen Möglichkeit einer Frühpensionierung
Gebrauch mache, falle unter die Regelung von Art. 12 Abs. 1 AVIV.

    b) aa) Die Ansicht NUSSBAUMERS ist grundsätzlich richtig,
lässt aber nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen eine Person
freiwillig von der statutarischen Möglichkeit einer Frühpensionierung
Gebrauch macht. Insbesondere bleibt die Frage unbeantwortet, ob eine
Person, die ihr Arbeitsverhältnis in einem Alter kündigt, in welchem
sie vorzeitig in Pension gehen kann, und damit nach der Praxis des
Eidg. Versicherungsgerichts (BGE 120 V 309 Erw. 4), gleichgültig ob
sie dies will oder nicht, eine Altersrente erhält, freiwillig vorzeitig
pensioniert wird.

    GERHARDS ist insoweit zuzustimmen, als die Bestimmung des Art. 12 AVIV
einen ungerechtfertigten gleichzeitigen Bezug von Altersleistungen der
beruflichen Vorsorge und von Arbeitslosenentschädigung nicht zu verhindern,
sondern lediglich hinauszuschieben vermag. Die Delegationsnorm von
Art. 13 Abs. 3 AVIG ist indessen nicht so zu verstehen, dass der Bundesrat
schlechthin dafür zu sorgen hat, dass ein ungerechtfertigter gleichzeitiger
Bezug von Altersleistungen und Arbeitslosenentschädigung verhindert wird.
Die Delegationsnorm findet sich in Art. 13 AVIG über die Beitragszeit. Dem
Bundesrat wird demnach zur Verhinderung eines solchen ungerechtfertigten
Bezuges lediglich eine abweichende Regelung der Beitragszeit zugestanden.
Auf dem Weg zu diesem Ziel ist die Bestimmung des Art. 12 AVIV, wie noch
darzulegen ist, eine durchaus geeignete Lösung.

    bb) Der Sinn der Bestimmung von Art. 12 AVIV geht dahin, Personen in
einem festen Anstellungsverhältnis davon abzuhalten, ihr Arbeitsverhältnis
zu kündigen, um neben der Altersleistung der beruflichen Vorsorge auch
noch Arbeitslosenentschädigung zu erhalten. Ein solches Vorhaben wird
dadurch erschwert, dass die bisherige Beitragszeit nicht angerechnet wird,
sondern die Beitragszeit nach der Pensionierung neu zu laufen beginnt. Der
gleichzeitige Bezug von Altersleistungen der beruflichen Vorsorge und von
Arbeitslosenentschädigung wird damit nur solchen Personen ermöglicht, die
vermittlungsfähig sind, d.h. die insbesondere wirklich bereit und auch in
der Lage sind, zumutbare Arbeit anzunehmen (Art. 15 Abs. 1 AVIG). Personen,
welche diese Voraussetzungen nicht erfüllen, werden von einer solchen
Kündigung abgehalten. Aus der bundesrätlichen Botschaft zu einem neuen
Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die
Insolvenzentschädigung vom 2. Juli 1980 ist denn auch ersichtlich,
dass mit der vom Bundesrat auf Grund von Art. 13 Abs. 3 AVIG (Art. 12
Abs. 3 des Entwurfs entspricht dem Gesetz gewordenen Art. 13 Abs. 3
AVIG in seiner ursprünglichen Fassung [vgl. BBl 1980 III 652 mit AS 1982
2188]) zu erlassenden Regelung verhindert werden sollte, dass vorzeitig
Pensionierte unmittelbar im Anschluss an ihre Pensionierung zusätzlich
zur Pension noch Arbeitslosenentschädigung beziehen können, ohne dass sie
ihre weitere Vermittlungsfähigkeit und vor allem Vermittlungswilligkeit
unter Beweis stellen (BBl 1980 III 563).

    Aus dem Gesagten ist zu erkennen, wie die Ausnahmeregelung von Art. 12
Abs. 2 AVIV zu verstehen ist. Nicht unter die Regel von Art. 12 Abs. 1 AVIV
sollen Personen fallen, die an ihrer Arbeitsstelle bleiben möchten, dies
aber nicht tun können, weil sie aus wirtschaftlichen Gründen entlassen
werden oder weil sie beispielsweise die ordentliche reglementarische
Altersgrenze, die in etlichen Berufen niedriger ist als das Rentenalter in
der Alters- und Hinterlassenenversicherung, erreichen und somit ausscheiden
müssen. Nicht unter die Ausnahmebestimmung von Art. 12 Abs. 2 AVIV, sondern
unter die Regel von Art. 12 Abs. 1 AVIV fallen dagegen Personen, die ihr
Arbeitsverhältnis selbst auflösen und damit aus der Vorsorgeeinrichtung
ausscheiden. Solche Personen werden nicht im Sinne von Art. 12 Abs. 2
lit. a AVIV auf Grund von zwingenden Regelungen im Rahmen der beruflichen
Vorsorge vorzeitig pensioniert. Auch Personen, deren Arbeitsverhältnis
seitens der Arbeitgeberschaft weder aus wirtschaftlichen Gründen noch
auf Grund von zwingenden Regelungen im Rahmen der beruflichen Vorsorge
gekündigt wird, fallen nicht unter Art. 12 Abs. 2 AVIV. Zum einen werden
sie von dieser Ausnahmeregelung nicht erfasst; zum andern können solche
Kündigungen erfahrungsgemäss auch provoziert werden.

Erwägung 4

    4.- Da das Arbeitsverhältnis der Beschwerdeführerin weder
aus wirtschaftlichen Gründen noch nach dem Gesagten auf Grund von
zwingenden Regelungen der beruflichen Vorsorge aufgelöst wurde, ist gemäss
Art. 12 Abs. 1 AVIV die vor der vorzeitigen Pensionierung zurückgelegte
Beitragszeit nicht anrechenbar.