Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 390



126 V 390

64. Auszug aus dem Urteil vom 23. Oktober 2000 i.S. L. gegen Öffentliche
Arbeitslosenkasse Basel-Stadt und Kantonale Schiedskommission für
Arbeitslosenversicherung Basel-Stadt Regeste

    Art. 11 Abs. 3 AVIG; Art. 5 Abs. 4 AHVG; Art. 6 Abs. 2 lit. i und k,
Art. 6bis und Art. 7 AHVV: Arbeitslosenversicherungsrechtliche Bedeutung
freiwilliger Abgangsentschädigungen ohne Vorsorgecharakter. Die Weisung
des Bundesamtes für Wirtschaft und Arbeit vom 15. Mai 1998, wonach
freiwillige Abgangsentschädigungen ohne Vorsorgecharakter rückwirkend
ab 18. März 1998 unabhängig von ihrer AHV-rechtlichen Qualifizierung für
die Arbeitslosenversicherung unberücksichtigt bleiben und somit keinen
Einfluss auf Beginn und Höhe der Arbeitslosenentschädigung ausüben, ist
gesetzwidrig, wird aber von der Verwaltung seit ihrem Erlass konsequent
angewendet, weshalb die Gleichbehandlung im Unrecht der Gesetzmässigkeit
des Verwaltungshandelns vorgeht.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Das damalige Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (BWA; ab 1.
Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft [seco]) hatte gestützt auf
die Rechtsprechung (nicht veröffentlichtes Urteil B. vom 5. September
1996) in einem Kreisschreiben vom 18. März 1998 festgehalten, freiwillige
Abgangsentschädigungen seien in Übereinstimmung mit der AHV-rechtlichen
Qualifikation als Lohn zu betrachten, mit der Folge, dass gegebenenfalls
während einer diesem Lohn entsprechenden Zeitspanne kein Anspruch
auf Arbeitslosenentschädigung bestand. Dieses Kreisschreiben wurde
nach Gesprächen mit den Sozialpartnern mit Weisung vom 15. Mai 1998
rückwirkend aufgehoben. Das hatte zur Folge, dass die seither gestützt
auf das Kreisschreiben erlassenen Verfügungen aufzuheben und die Fälle im
Lichte der neuen Praxis (gemäss Weisung vom 15. Mai 1998) zu beurteilen
waren. Betroffen waren somit sämtliche am 18. März 1998 oder später
hängigen Fälle, unabhängig davon, wann sich der ihnen zu Grunde liegende
Sachverhalt ereignet hatte (BGE 120 V 131 Erw. 3a in initio). Die neue
Verwaltungspraxis wurde mithin auf den 18. März 1998 eingeführt.

    (...)

Erwägung 5

    5.- Voraussetzung für die Anwendung der neuen Rechtspraxis ist aber,
dass sie gesetz- und verfassungsmässig ist.

    a) Nach der Rechtsprechung ist bei der Beurteilung der
Anspruchsberechtigung im Sinne von Art. 11 Abs. 3 AVIG auf die
AHV-Gesetzgebung (Art. 5 Abs. 4 AHVG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2
und Art. 7 AHVV) abzustellen. Daraus ergibt sich, dass auf dem
massgebenden Lohn Beiträge zu entrichten sind und im Gegenzug die diesem
Lohnwert entsprechende Ausfallzeit nicht zu entschädigen ist (Erw. 2a
des erwähnten nicht veröffentlichten Urteils B. vom 5. September
1996). Abgangsentschädigungen und freiwillige Vorsorgeleistungen
gehören zum massgebenden Lohn, soweit ihnen nicht Sozialleistungs- oder
Vorsorgecharakter zukommt (Erw. 2b des genannten Urteils B.). Die Weisung
vom 15. Mai 1998 ist somit gesetzwidrig.

    b) Die dem Beschwerdeführer ausgerichtete Zahlung von 26'471 Franken
stellt eine Entschädigung für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses und
das damit verbundene Risiko eines Lohnausfalles wegen Arbeitslosigkeit dar.
Vorsorgecharakter kommt dieser Leistung nicht zu, ist sie doch nicht
zur Deckung der Risiken Alter, Invalidität oder Tod bestimmt. Gestützt
auf das erwähnte Urteil B. ist folglich die diesem Lohn entsprechende
Ausfallzeit von der Arbeitslosenversicherung nicht zu entschädigen.

Erwägung 6

    6.- Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer allenfalls unter dem
Gesichtspunkt der Gleichbehandlung im Unrecht Anspruch auf die Anwendung
der neuen Rechtspraxis hat.

    a) Nach der Rechtsprechung geht der Grundsatz der Gesetzmässigkeit
der Verwaltung in der Regel der Rücksicht auf die gleichmässige
Rechtsanwendung vor. Der Umstand, dass das Gesetz in anderen Fällen
nicht oder nicht richtig angewendet worden ist, gibt dem Bürger und
der Bürgerin grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ebenfalls abweichend
vom Gesetz behandelt zu werden. Das gilt jedoch nur, wenn lediglich in
einem einzigen oder in einigen wenigen Fällen eine abweichende Behandlung
dargetan ist. Wenn dagegen die Behörde die Aufgabe der in anderen Fällen
geübten gesetzwidrigen Praxis ablehnt, kann der Bürger oder die Bürgerin
verlangen, dass die gesetzwidrige Begünstigung, die den Dritten zuteil
wird, auch ihm bzw. ihr gewährt werde, soweit dies nicht andere legitime
Interessen verletzt. Die Anwendung der Gleichbehandlung im Unrecht
setzt als Vorbedingung voraus, dass die zu beurteilenden Sachverhalte
identisch oder zumindest ähnlich sind (BGE 116 V 238 Erw. 4b, 115 V
238 Erw. 7b/bb f., je mit Hinweisen; BGE 106 V 119 Erw. 3; RKUV 1987
Nr. K 710 S. 27 Erw. 3b; ANDREAS AUER, L'égalité dans l'illégalité, in:
ZBl 1978 S. 297; ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze
gleich, Bern 1985, S. 73 f.; MEYER-BLASER, Die Bedeutung von Art. 4
BV für das Sozialversicherungsrecht, in: ZSR 1992, 2. Halbbd., S. 417;
JÖRG-PAUL MÜLLER, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung,
Bern 1991, S. 223 f.).

    b) Vorliegend hat das BWA das anders lautende Kreisschreiben vom
18. März 1998 gestützt auf Gespräche mit den Sozialpartnern widerrufen und
mit der Weisung vom 15. Mai 1998 eine neue Praxis eingeführt. Diese wurde
damit begründet, dass die Beibehaltung der alten, laut dem erwähnten
nicht veröffentlichten Urteil B. gesetzmässigen Praxis die sozialpolitisch
unerwünschte Folge haben könnte, dass in Zukunft bei Entlassungen weniger
oder gar keine Sozialpläne ausgearbeitet werden. Die neue Praxis wurde
daher im Interesse des Einvernehmens zwischen den Sozialpartnern und des
für den sozialen Frieden wichtigen Instituts des Sozialplanes erlassen. Der
Verwaltung schien bewusst zu sein, dass ihr Vorgehen vom Gesetz womöglich
nicht gedeckt war. Daher kündigte sie zusammen mit dem Erlass der neuen
Weisung an, im Rahmen der nächsten ordentlichen Gesetzesrevision werde
diese Frage neu beurteilt und klar geregelt. Die auch in der Presse
veröffentlichte neue Verwaltungspraxis fand in den nunmehr zweieinhalb
Jahren ihrer Geltung auf zahlreiche Fälle, namentlich im Zusammenhang
mit Restrukturierungsmassnahmen grosser Firmen, Anwendung. Somit liegt
eine konstante gesetzeswidrige Praxis vor und besteht Grund zur Annahme,
die Verwaltung sei nicht gewillt, in Zukunft anders zu entscheiden.
Vielmehr will sie ihre Praxis bei nächster Gelegenheit (AVIG-Revision
2003) gesetzlich absichern. Dies hat das seco in der (im vorliegenden
Verfahren eingeholten) Auskunft vom 4. September 2000 ausdrücklich
bestätigt. Aus diesen Gründen ist vorliegend ausnahmsweise dem Grundsatz
der Gleichbehandlung der Vorrang vor jenem der Gesetzmässigkeit des
Verwaltungshandelns einzuräumen.