Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 330



126 V 330

56. Auszug aus dem Urteil vom 20. Juli 2000 i. S. Helsana Versicherungen
AG gegen W. und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau Regeste

    Art. 24, Art. 25 Abs. 2 lit. a und Abs. 3, Art. 35 Abs. 1 und 2 lit.
e, Art. 38 KVG; Art. 7 und 8 KLV; Art. 51 KVV: Spitex-Leistungen;
Austauschbefugnis. Keine Vergütung von Spitex-Leistungen durch den
Krankenversicherer an den nicht als Leistungserbringer zugelassenen
Ehemann einer Versicherten, auch nicht im Rahmen der Austauschbefugnis.

Sachverhalt

    A.- Die 1947 geborene W. ist bei der Helsana Versicherungen AG
obligatorisch für Krankenpflege versichert; ferner hat sie verschiedene
Zusatzversicherungen nach VVG abgeschlossen. Wegen der Folgen einer
Poliomyelitis nimmt sie seit längerer Zeit Spitex-Dienste in Anspruch.
(...). Nachdem sich die Versicherte im Juli 1997 erstmals nach den
Versicherungsleistungen bei Erbringung der Pflege durch den Ehemann
erkundigt hatte, liess sie am 19. März 1999 sinngemäss erneut um Vergütung
der Spitex-Leistungen an den Ehemann ersuchen, welcher sich auf Ende
1998 vorzeitig hatte pensionieren lassen. Mit Verfügung vom 23. März
1999 lehnte die Helsana das Begehren mit der Begründung ab, dass es
nach der gesetzlichen Regelung nicht möglich sei, Spitex-Leistungen an
Privatpersonen auszurichten. Mit Einspracheentscheid vom 11. August 1999
hielt sie an dieser Verfügung fest.

    B.- In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde verpflichtete
das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Helsana mit Entscheid
vom 15. Dezember 1999, der Versicherten für die vom Ehemann im Rahmen
der Bedarfsabklärung erbrachten Pflegeleistungen die gesetzlichen und
reglementarischen Leistungen auszurichten.

    C.- Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei der
Einspracheentscheid vom 11. August 1999 zu bestätigen.

    W. beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung lässt sich mit dem Antrag auf Gutheissung
der Beschwerde vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz hat die Leistungspflicht des Krankenversicherers
für die vom Ehemann der Beschwerdegegnerin erbrachten oder noch zu
erbringenden Pflegeleistungen mit der von Lehre und Rechtsprechung
anerkannten Austauschbefugnis begründet. Die Helsana bestreitet die
Anwendbarkeit dieser Rechtsfigur.

    a) Die aus dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz fliessende
Austauschbefugnis wurde vom Eidg. Versicherungsgericht zunächst in den
invalidenversicherungsrechtlichen Bereichen der Hilfsmittelversorgung
(Art. 21 IVG) und der medizinischen Massnahmen (Art. 12 f. IVG) zur
Anwendung gebracht. Nachdem das Gericht in einem unveröffentlichten Urteil
K. vom 5. August 1993 die Substitution des Anspruchs auf Entschädigung
bei Hauspflege gemäss Art. 14 Abs. 3 IVG und Art. 4 IVV im Verhältnis zum
Anspruch bei Durchführung medizinischer Massnahmen in stationärem Rahmen
zugelassen hatte, bejahte es in BGE 120 V 280 die Austauschbefugnis bei
Hauspflegebeiträgen auch für den Fall, dass die erforderliche Pflege
nicht von Dritten, sondern von den Eltern des Versicherten erbracht wird,
sofern hiefür schützenswerte Gründe bestehen. Dabei wurde ein Anspruch
auf diejenigen Hauspflegebeiträge bejaht, welche zugesprochen werden
könnten, wenn die betreffende Behandlungs- und Grundpflege nicht von
den Eltern, sondern von zugezogenen Dritten erbracht würde. Nach Meinung
der Beschwerdegegnerin besteht kein sachlicher Grund, die gleiche Frage
im Bereich des KVG anders zu beurteilen. Schon im Hinblick auf das
Gleichbehandlungsgebot sei die Austauschbefugnis auch im vorliegenden
Fall zur Anwendung zu bringen, da hiefür schützenswerte Gründe vorlägen.

    b) Die Austauschbefugnis kann zwar grundsätzlich auch in der
obligatorischen Krankenversicherung zur Anwendung gelangen; sie darf
jedoch nicht dazu führen, Nichtpflichtleistungen durch Pflichtleistungen
zu ersetzen (BGE 111 V 326 Erw. 2a). Wie das Eidg. Versicherungsgericht
in RKUV 1994 Nr. K 933 S. 73 Erw. 6a festgestellt hat, geht es bei der
Austauschbefugnis darum, den gleichen gesetzlichen Zweck auf einem andern
Weg oder mit andern Mitteln zu verfolgen, nicht aber die gesetzliche
Ordnung durch eine andere, inhaltlich weiter gehende Regelung zu ersetzen.
Wählt der Versicherte, aus welchen Gründen auch immer, eine nicht zu
den gesetzlichen Pflichtleistungen gehörende Pflege und Behandlung, so
entfällt der Anspruch. An dieser Rechtsprechung ist auch im Rahmen des
KVG festzuhalten.

    Entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegnerin lässt sich
die Austauschbefugnis nicht damit begründen, dass im vorliegenden
Fall lediglich die im Gesetz vorgesehenen Leistungen in Anspruch
genommen werden. Als Pflichtleistungen gelten nur die von zugelassenen
Leistungserbringern erbrachten Leistungen. Dementsprechend hat das
Eidg. Versicherungsgericht in BGE 111 V 324 die Austauschbefugnis
bezüglich der von einer (nach damaligem Recht) nicht zugelassenen
Gemeindekrankenschwester erbrachten Pflege und Behandlung verneint. In
gleichem Sinn hat das Gericht in AHI 1999 S. 172 entschieden, wo es um
den Kostenersatz für ein invalidenversicherungsrechtliches Hilfsmittel
ging, welches der Versicherte nicht bei einem Vertragslieferanten
bezogen hatte. Weil die Austauschbefugnis nach der Rechtsprechung einen
substitutionsfähigen aktuellen gesetzlichen Leistungsanspruch voraussetzt,
kommt sie nur dann zum Tragen, wenn zwei unterschiedliche, jedoch von
der Funktion her austauschbare Versicherungsleistungen in Frage stehen
(vgl. BGE 120 V 280 Erw. 4). Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber
nicht um den Austausch von Leistungsansprüchen, sondern um denjenigen von
Leistungserbringern (zugelassene und nicht zugelassene). Es liegt daher
kein Anwendungsfall der Austauschbefugnis vor, wenn die Pflegeleistungen
nach Art. 7 KLV durch Angehörige erbracht werden (so auch GEBHARD EUGSTER,
Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR],
Bd. Soziale Sicherheit, S. 109 Fn 471).

    c) Der Vorinstanz kann auch insoweit nicht beigepflichtet werden,
als sie die Beschränkung der Zulassung auf die in Art. 7 KLV genannten
Personen und Organisationen als nicht gesetzeskonform betrachtet. Nach
der gesetzlichen Ordnung dürfen die Krankenversicherer im Rahmen der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung keine anderen Kosten als
diejenigen für die Leistungen nach Art. 25-33 KVG übernehmen (Art. 34
Abs. 1 KVG); zudem bedürfen grundsätzlich alle Leistungserbringer einer
Zulassung, wenn sie für die soziale Krankenversicherung tätig sein wollen
(Art. 35 Abs. 1 KVG). Die zugelassenen Leistungserbringer werden in
Art. 35 Abs. 2 KVG abschliessend aufgezählt. Bezüglich der in lit. c-g
dieser Bestimmung genannten Leistungserbringer bestimmt Art. 38 KVG,
dass der Bundesrat die Zulassung regelt, was mit Art. 46 ff. KVV geschehen
ist. Die Delegationsnorm von Art. 38 KVG räumt dem Bundesrat bewusst einen
sehr weiten Ermessensspielraum ein (RKUV 1999 Nr. K 87 S. 438 Erw. 4e). Es
verstösst daher nicht gegen Bundesrecht, wenn die Leistungspflicht der
Krankenversicherer bei Hauspflege auf zugelassene Krankenschwestern und
Krankenpfleger (Art. 49 KVV) sowie Organisationen der Krankenpflege und
Hilfe zu Hause (Art. 51 KVV) beschränkt wird. Damit ist auch die vom Eidg.
Departement des Innern gestützt auf Art. 25 Abs. 2 KVG und Art. 33 Abs. 2
KVG sowie die Subdelegation von Art. 33 lit. b KVV erlassene Bestimmung
von Art. 7 KLV bundesrechtskonform (vgl. auch RKUV 1999 Nr. KV 64 S. 67
Erw. 2a). Zu einer Vergütung von Spitex-Leistungen an den nicht als
Leistungserbringer zugelassenen Ehemann der Beschwerdegegnerin besteht
folglich kein Raum.