Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 308



126 V 308

52. Auszug aus dem Urteil vom 26. Oktober 2000 i.S. S. gegen VERA
Sammelstiftung in Liquidation, Olten, und Verwaltungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 2 Abs. 1, Art. 23 und 24 Abs. 1 BVG; Art. 1 Abs. 1 lit. d
BVV 2: Bindung der Vorsorgeeinrichtung an die Invaliditätsbemessung
der Invalidenversicherung. Für die Beurteilung der Frage, ob sich
die Invaliditätsbemessung der Invalidenversicherung als offensichtlich
unhaltbar erweist und aus diesem Grund für die Vorsorgeeinrichtung nicht
verbindlich ist, muss auf die Aktenlage, wie sie sich den Organen der
Invalidenversicherung bei Verfügungserlass präsentierte, abgestellt
werden. Nachträglich geltend gemachte Tatsachen oder Beweismittel,
welche die Verwaltung nicht von Amtes wegen hätte erheben müssen, sind
nur beachtlich, sofern sie von der IV-Stelle im Rahmen einer prozessualen
Revision berücksichtigt werden müssten.

Sachverhalt

    A.- Der 1954 geborene S. war von 1979 bis 1990 Inhaber eines Betriebes
für Isolationen und Fassadenbau. Von November 1990 bis zur Entlassung
aus wirtschaftlichen Gründen auf Ende Juli 1992 war er bei der Firma Y
AG angestellt, wobei er ab 24. Januar 1992 aus gesundheitlichen Gründen
der Arbeit fernblieb. Wegen der Folgen eines Rückenleidens wurde ihm
gestützt auf den Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission,
welche nach Eingang der Anmeldung zum Rentenbezug mehrere Arztberichte
eingeholt und die Regionalstelle in Bern mit der Abklärung der
beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten beauftragt hatte, für die
Zeit vom 1. August bis 30. September 1990 eine Viertels- und ab
1. Oktober 1990 bei einem Invaliditätsgrad von 100% eine ganze Rente
der Invalidenversicherung zugesprochen (Verfügungen der Ausgleichskasse
Exfour vom 16. April 1993). Auf Grund des Anstellungsverhältnisses mit
der Y AG wurde S. gemäss Schreiben vom 9. September 1992 ab 1. November
1990 in deren Personalvorsorgeeinrichtung bei der VERA Sammelstiftung,
Olten, aufgenommen, wobei im überobligatorischen Bereich ein Vorbehalt
bei Lumbovertebralsyndrom und dessen Folgen angebracht wurde. Nach
der Zusprechung der ganzen Rente der Invalidenversicherung wurde die
Berufsvorsorge-Versicherung rückwirkend ab 1. November 1990 annulliert.
Mit Eingabe vom 18. Juli 1994 liess S. die Ausgleichskasse Exfour
um Wiedererwägung der Rentenverfügung vom 16. April 1993 betreffend
Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente ab 1. Oktober 1990 ersuchen und
beantragen, die ganze Rente sei ihm erst mit Wirkung ab 1. August 1992
zuzusprechen, weil er andernfalls nicht in die Vorsorgeeinrichtung der
Firma Y AG aufgenommen werde. Diesem Ansinnen gab die IV-Stelle Bern
gemäss Schreiben vom 17. März 1995 keine Folge; mangels eines rechtlich
geschützten Interesses an der Wiedererwägung könne nicht auf das Gesuch
eingetreten werden.

    Mit Schreiben vom 14. Februar 1996 an die VERA Sammelstiftung liess S.
beantragen, er sei rückwirkend ab 1. November 1990 in die BVG-Versicherung
der Y AG aufzunehmen und es seien die ihm zustehenden Invalidenrenten mit
Invaliditätsbeginn am 1. August 1992 festzusetzen. Dieses Gesuch lehnte
die VERA Sammelstiftung mit Schreiben vom 10. Mai 1996 ab.

    B.- Am 20. Juni 1997 liess S. beim Verwaltungsgericht des Kantons
Bern Klage einreichen mit dem Begehren, die VERA Sammelstiftung in
Liquidation sei zu verpflichten, ihn rückwirkend ab 1. November 1990 in die
obligatorische sowie die überobligatorische BVG-Personalvorsorgeeinrichtung
der Y AG aufzunehmen und ihm rückwirkend ab 1. August 1993 die ihm
zustehenden Invalidenrenten nebst Zins zu bezahlen. (...). Mit Entscheid
vom 17. Mai 1999 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Klage ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S. die vorinstanzlich
gestellten Rechtsbegehren erneuern; eventualiter sei die Sache zu neuer
Beurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. (...).

    Die VERA Sammelstiftung in Liquidation und das Bundesamt
für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Laut Art. 2 Abs. 1 BVG unterstehen Arbeitnehmer, die das 17.
Altersjahr vollendet haben und bei einem Arbeitgeber einen Jahreslohn von
mehr als 24'120 Franken (Art. 5 BVV 2 in der seit 1. Januar 1999 geltenden
Fassung) beziehen, der obligatorischen beruflichen Vorsorge. Nicht
der obligatorischen Versicherung unterstellt sind nach Art. 1 Abs. 1
lit. d BVV 2 u.a. Personen, die im Sinne der Invalidenversicherung
zu mindestens zwei Dritteln invalid sind. Diese Bestimmung wurde vom
Eidg. Versicherungsgericht in BGE 118 V 164 Erw. 4 als gesetzmässig
erachtet. Das Reglement für die Personalversicherung der Firma Y AG
bestimmt in Art. 3 Abs. 2 lit. c in analoger Weise, dass Personen, die
im Sinne der Invalidenversicherung zu mindestens zwei Dritteln invalid
sind, nicht versichert sind. Demnach ist dieser Personenkreis bei der
Personalversicherung der Firma Y AG auch im überobligatorischen Bereich
der beruflichen Vorsorge nicht versichert. Nach der Rechtsprechung sind
Vorsorgeeinrichtungen, die ausdrücklich oder unter Hinweis auf das Gesetz
vom gleichen Invaliditätsbegriff wie die Invalidenversicherung ausgehen,
an die Invaliditätsbemessung der Invalidenversicherungs-Kommission
(IV-Stelle) gebunden, wenn diese sich nicht als offensichtlich unhaltbar
erweist (BGE 120 V 108 f. Erw. 3c mit Hinweisen; SZS 1999 S. 129).

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz hat in Würdigung der medizinischen Akten,
namentlich der Berichte des Hausarztes Dr. med. G. vom 3. Juni 1991 und 16.
März 1992 sowie des Schlussberichts der Regionalstelle vom 15. Dezember
1992 festgehalten, die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 100% mit Wirkung ab 1. Oktober 1990 gemäss Verfügung
vom 16. April 1993 könne angesichts der damaligen Aktenlage und der
Angaben des Beschwerdeführers keineswegs als offensichtlich unhaltbar
bezeichnet werden.

    Dieser Auffassung ist beizupflichten. Für die Beurteilung der
Frage, ob sich die Invaliditätsbemessung der Invalidenversicherung als
offensichtlich unhaltbar erweist, ist auf die Aktenlage, wie sie sich bei
Verfügungserlass präsentierte, abzustellen. Nachträglich geltend gemachte
Tatsachen oder Beweismittel, welche die Verwaltung nicht von Amtes wegen
hätte erheben müssen, sind nicht geeignet, die Invaliditätsbemessung
der Invalidenversicherung als offensichtlich unhaltbar erscheinen
zu lassen. Dies gilt jedenfalls so lange, als es sich nicht um neue
Tatsachen oder Beweismittel handelt, welche zu einer anderen rechtlichen
Beurteilung führen und die IV-Stelle, welcher sie unterbreitet werden,
verpflichten würden, im Rahmen einer prozessualen Revision (BGE 122 V
21 Erw. 3a, 138 Erw. 2c, 173 Erw. 4a, 272 Erw. 2) auf die ursprüngliche,
formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen.

    b) Ob die damalige Invalidenversicherungs-Kommission zu einem anderen
Ergebnis gelangt wäre, wenn sie Kenntnis davon gehabt hätte, dass der
Beschwerdeführer nach Aufgabe der selbstständigen Erwerbstätigkeit ab 1.
November 1990 bis 24. Januar 1992, als sein Gesundheitszustand eine
massive Verschlechterung erfuhr, als Aussendienstmitarbeiter bei der Firma
Y AG tätig war, ist deshalb nicht entscheidend. Denn in der Anmeldung zum
Bezug einer Rente der Invalidenversicherung, die der Beschwerdeführer am
25. April 1991 ausfüllte, gab er unter dem Punkt "Hauptbeschäftigung"
an, er sei "seit 1979 bis heute" als selbstständiger Geschäftsführer
tätig, wobei er ergänzend beifügte, er habe (aus gesundheitlichen
Gründen) sein eigenes Geschäft aufgeben müssen. Ein Hinweis darauf,
dass er zu jenem Zeitpunkt bereits seit fast einem halben Jahr als
Aussendienstmitarbeiter tätig war, findet sich hingegen nirgends. Erwähnt
wurde das Anstellungsverhältnis bei der Firma Y AG im Schlussbericht
der Regionalstelle vom 15. Dezember 1992; dabei wurde dessen Beginn
unrichtig wiedergegeben (1. Februar 1991 statt 1. November 1990). Ferner
war von lediglich hälftiger Arbeitsfähigkeit für diese Tätigkeit die
Rede. Da die Regionalstelle jedoch festhielt, die Arbeit im Aussendienst
sei mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand nicht zumutbar, was vom
Hausarzt später im Bericht vom 18. Januar 1993 ausdrücklich bestätigt
wurde, bestand für die Invalidenversicherungs-Kommission auf Grund
des Schlussberichts kein zwingender Anlass, diesbezüglich ergänzende
Abklärungen zu treffen. Da der Verwaltung entsprechend den Darlegungen des
kantonalen Gerichts, auf welche verwiesen werden kann, keine Verletzung
des Untersuchungsgrundsatzes vorzuwerfen, sondern vielmehr von einer
krassen Verletzung der Mitwirkungspflicht seitens des Beschwerdeführers
auszugehen ist, indem er das Anmeldeformular unvollständig ausfüllte,
durfte und musste sich die Invalidenversicherungs-Kommission für die
Invaliditätsbemessung auf die ihr seinerzeit zur Verfügung stehenden
Unterlagen abstützen.

    Bezüglich der Arbeit des Beschwerdeführers bei der Firma Y AG kann
sodann nicht von einer unverschuldeterweise unbekannt gebliebenen neuen
Tatsache gesprochen werden, was nach der Rechtsprechung Voraussetzung
für die Anerkennung ihrer prozessualrevisionserheblichen Rechtsnatur
ist (BGE 122 V 273 Erw. 4, 108 V 168 Erw. 2b mit Hinweis). Vielmehr
hat es der Beschwerdeführer sich selbst zuzuschreiben, dass er die
Invalidenversicherung nicht bereits in der Anmeldung zum Rentenbezug über
die am 1. November 1990 aufgenommene Aussendiensttätigkeit in Kenntnis
setzte, woran die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
nichts zu ändern vermögen. Sollte er tatsächlich der Auffassung gewesen
sein, der Anspruch auf eine Invalidenrente entstehe mit dem Verlust der
Arbeitsfähigkeit im bisherigen Beruf, ist nicht ersichtlich, weshalb
er durch diesen Irrtum davon abgehalten wurde, das Anmeldeformular
vollständig auszufüllen. Abgesehen davon ist der Beschwerdeführer darauf
hinzuweisen, dass nach einem allgemeinen Grundsatz niemand Vorteile aus
seiner eigenen Rechtsunkenntnis ableiten kann (BGE 124 V 220 Erw. 2b/aa,
111 V 405 Erw. 3).

    Mit den weiteren Vorbringen weist der Beschwerdeführer wohl auf
gewisse Ungereimtheiten und Unklarheiten im Verwaltungsverfahren der
Invalidenversicherung hin, vermag aber nicht zu begründen, weshalb der von
der Kommission ermittelte Invaliditätsgrad von 100% ab 1. Oktober 1990
angesichts der Aktenlage bei Verfügungserlass offensichtlich unhaltbar
sein soll.

Erwägung 3

    3.- Ob das Verhalten des Beschwerdeführers, der sich zunächst zum
Rentenbezug bei der Invalidenversicherung anmeldete, hernach eine ganze
Rente bezog und erst im Zusammenhang mit der Möglichkeit, in den Genuss
einer Invalidenrente der Vorsorgeeinrichtung der Y AG zu gelangen, der
Invalidenversicherungs-Kommission unkorrektes Vorgehen bei der Abklärung
der Anspruchsvoraussetzungen und der Ermittlung des Invaliditätsgrades
vorwirft, mit dem kantonalen Gericht als widersprüchlich und treuwidrig
(venire contra factum proprium; vgl. dazu BGE 125 III 259 Erw. 2a)
bezeichnet werden muss, das keinen Rechtsschutz verdient, kann
offen gelassen werden. Denn nach den vorstehenden Erwägungen kann
jedenfalls keine Rede davon sein, dass die Invaliditätsbemessung
der Invalidenversicherungs-Kommission offensichtlich unhaltbar ist;
die Beschwerdegegnerin ist deshalb daran gebunden mit der Folge, dass
der Beschwerdeführer nach Art. 1 Abs. 1 lit. d BVV 2 und Art. 3 Abs. 2
lit. c des Reglements für die Personalversicherung der Firma Y AG weder
im obligatorischen noch im überobligatorischen Bereich der beruflichen
Vorsorge unterstellt ist. Ein Leistungsanspruch entfällt damit.