Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 237



126 V 237

40. Auszug aus dem Urteil vom 29. Mai 2000 i. S. Ausgleichskasse
des Kantons St. Gallen gegen S. und Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen Regeste

    Art. 52 AHVG; Art. 819 und 827 OR: Organhaftung bei der GmbH.
Formell eingesetzte Geschäftsführer einer GmbH wie auch Personen, die
faktisch die Funktion eines Geschäftsführers ausüben, haften für den der
Ausgleichskasse zufolge nicht bezahlter Bundessozialversicherungsbeiträge
entstandenen Schaden nach den gleichen Grundsätzen wie Organe einer
Aktiengesellschaft. Dagegen besteht für den blossen Gesellschafter einer
GmbH vorbehältlich einer abweichenden statutarischen Regelung keine
Pflicht zur Kontrolle oder Überwachung der Geschäftsführung, weshalb ihm
das Fehlverhalten der Gesellschaft auch nicht angerechnet werden darf.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Im Falle einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begründet die
Stellung eines blossen Gesellschafters für sich alleine keine Kontroll-
oder Überwachungspflichten. Dies ergibt sich aus Art. 819 Abs. 1 OR, der
für von der Geschäftsführung ausgeschlossene Gesellschafter lediglich ein
Einsichtsrecht vorsieht (vgl. JANGGEN/BECKER, Kommentar zum Schweizerischen
Zivilgesetzbuch [Berner Kommentar; Band VII, Teil 3], Bern 1939, N 28 zu
Art. 819 OR; PEDROJA/WATTER, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht
[Basler Kommentar, Obligationenrecht II], Basel/Frankfurt a.M. 1994,
N 1 und N 7 zu Art. 819 OR; LUKAS HANDSCHIN, Die GmbH, Zürich 1996, §
19 N 7; HERBERT WOHLMANN, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung,
in: Schweizerisches Privatrecht, Band VIII/2, Basel/Frankfurt a.M. 1982,
S. 427 f. und S. 430; derselbe, GmbH-Recht, Basel/Frankfurt a.M. 1997,
S. 119 und S. 124). Hätte der Gesetzgeber darüber hinaus die blossen
Gesellschafter zur Kontrolle der Geschäftsführung verpflichten wollen,
hätte dies unzweifelhaft im Gesetz einen Niederschlag gefunden, was
indessen nicht der Fall ist. Folgerichtig sieht Art. 827 OR bezüglich
der auf Pflichtverletzungen beruhenden Verantwortlichkeit nur für bei
der Gesellschaftsgründung beteiligte und mit der Geschäftsführung
und der Kontrolle betraute Personen sowie die Liquidatoren eine
Normierung vor. Auch wenn die gesetzliche Lösung als wenig geglückt
bezeichnet wird, weil die Kontrollstelle nicht nur im Interesse
der Anteilsinhaber, sondern auch im Interesse der Gläubiger und des
Rechtsverkehrs agiert (PEDROJA/WATTER, aaO; WOHLMANN, aaO), liegt
darin kein triftiger Grund, der ein Abweichen von der vom Gesetzgeber
getroffenen Regelung rechtfertigen würde (vgl. BGE 125 II 196 Erw. 3a,
244 Erw. 5a, 125 V 130 Erw. 5, je mit Hinweisen). Soweit die Kasse in
diesem Zusammenhang aus Art. 814 Abs. 1 OR etwas anderes ableiten will,
ist dies nicht nachvollziehbar, wird in dieser Bestimmung doch einzig
die Vertretungsbefugnis der Geschäftsführer näher umschrieben. Wenn
daher ein nicht geschäftsführender Gesellschafter die Einhaltung der
sozialversicherungsrechtlichen Abrechnungs- und Beitragszahlungspflichten
(Art. 14 Abs. 1 AHVG; Art. 34 ff. AHVV) durch die Firma nicht überprüft,
kann er für den von der Kasse wegen der Beitragsausfälle erlittenen
Schaden auch nicht haftbar gemacht werden. Ist er indessen statutarisch
zur Kontrolle oder Überwachung der Geschäftsführertätigkeit verpflichtet,
was nicht mit der Einsetzung einer (externen) Revisionsstelle nach
Art. 819 Abs. 2 OR zu verwechseln ist, kann er wegen unterlassener oder
unzureichender Kontrolle genauso in die Pflicht genommen werden, wie wenn
er in Kenntnis mangelhafter Geschäftsführung keine Vorkehren trifft (in
diesem Sinne nicht veröffentlichtes Urteil A. vom 17. Dezember 1999). Hat
er innerhalb der GmbH gar eine Stellung inne, die einem Geschäftsführer
entspricht, ist er weiter gehenden Pflichten unterworfen (Näheres hiezu:
ROLF WATTER, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht [Basler Kommentar,
Obligationenrecht II], Basel/Frankfurt a.M. 1994, N 16 zu Art. 811 OR mit
Hinweis auf N 3 ff. zu Art. 717 OR; WERNER VON STEIGER, Die Gesellschaft
mit beschränkter Haftung, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch
[Zürcher Kommentar, Band V, Teil 5c], Zürich 1965, N 33 zu Art. 811 OR;
HANDSCHIN, aaO, § 19 N 40 ff.; WOHLMANN, Die Gesellschaft mit beschränkter
Haftung, aaO, S. 419 ff.; derselbe, GmbH-Recht, S. 112 f.), deren
Verletzung ebenfalls eine Verantwortlichkeitsklage nach sich ziehen kann
(Art. 827 in Verbindung mit Art. 754 OR). Als mit der Geschäftsführung
befasst gelten nicht nur Personen, die ausdrücklich als Geschäftsführer
ernannt worden sind (sog. formelle Organe); dazu gehören auch Personen, die
faktisch die Funktion eines Geschäftsführers ausüben, indem sie etwa diesem
vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche Geschäftsführung
besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft massgebend beeinflussen
(materielle oder faktische Organe; BGE 117 II 441 Erw. 2, 571 Erw. 3, 114 V
78, 213). Darunter fallen typischerweise Personen, die kraft ihrer Stellung
(z.B. Mehrheitsgesellschafter) dem formell eingesetzten Geschäftsführer
Weisungen über die Geschäftsführung erteilen.