Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 134



126 V 134

25. Auszug aus dem Urteil vom 31. Januar 2000 i. S. C. und M. gegen
Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich und Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich Regeste

    Art. 51 Abs. 2 AVIG: Ausschluss vom Anspruch auf
Insolvenzentschädigung.

    - Massgebend für das Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat einer
Aktiengesellschaft ist in Angleichung an die Praxis zu Art. 52 AHVG
der Zeitpunkt des tatsächlichen Rücktritts aus dem Verwaltungsrat und
nicht derjenige der Löschung des Eintrages im Handelsregister oder der
Publikation im Schweizerischen Handelsamtsblatt.

    - Der Ausschluss vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung nach Massgabe
von Art. 51 Abs. 2 AVIG fällt auch für Zeiten nach dem Ausscheiden aus
dem Verwaltungsrat in Betracht, wenn die finanziellen Schwierigkeiten,
die schliesslich zum Konkurs geführt haben, schon vorher bestanden und
das Arbeitsverhältnis weiterdauert.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG haben beitragspflichtige
Arbeitnehmer von Arbeitgebern, die in der Schweiz der Zwangsvollstreckung
unterliegen oder in der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigen, Anspruch auf
Insolvenzentschädigung, wenn gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet
wird und ihnen in diesem Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen.

    Keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung haben laut Abs. 2
derselben Bestimmung, in Kraft seit 1. Januar 1996, Personen, die in ihrer
Eigenschaft als Gesellschafter, als finanziell am Betrieb Beteiligte oder
als Mitglieder eines obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums die
Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder massgeblich beeinflussen
können, sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten.

    Die Insolvenzentschädigung deckt Lohnforderungen für die letzten sechs
Monate (bis 31. Dezember 1995: drei Monate) des Arbeitsverhältnisses,
für jeden Monat jedoch nur bis zum Höchstbetrag nach Art. 3 Abs. 1 AVIG
(Art. 52 Abs. 1 Satz 1 AVIG in der ab 1. Januar 1996 geltenden Fassung).

Erwägung 4

    4.- Zu prüfen ist zunächst, ob das AVIG in seiner alten, bis
Ende 1995 geltenden Fassung oder aber der am 1. Januar 1996 in Kraft
getretene Art. 51 Abs. 2 AVIG anwendbar ist, somit die Frage nach der
intertemporalrechtlichen Anwendbarkeit der neuen Gesetzesbestimmung.

    a) Nach der Rechtsprechung ist eine gesetzliche Ordnung dann
rückwirkend, wenn sie auf Sachverhalte angewendet wird, die sich
abschliessend vor Inkrafttreten des neuen Rechts verwirklicht haben. Eine
solche Rückwirkung ist ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage nur
möglich, wenn sich die Rückwirkung aus dem Gesetzesinhalt als klar
gewollt ergibt und wenn sie durch triftige Gründe veranlasst und
zeitlich beschränkt ist (BGE 122 V 408 Erw. 3b/aa, 120 V 329 Erw. 8b,
je mit Hinweisen). Von dieser Rückwirkung im eigentlichen Sinne zu
unterscheiden ist die so genannte unechte Rückwirkung. Hier findet das
neue Recht - gestützt auf Sachverhalte, die früher eingetreten sind und
noch andauern - lediglich für die Zeit seit Inkrafttreten (ex nunc et
pro futuro) Anwendung. Diese Rückwirkung ist bei kantonalen Erlassen und
bundesrechtlichen Verordnungen grundsätzlich als zulässig zu erachten,
sofern ihr nicht wohlerworbene Rechte entgegenstehen (BGE 124 III 271
Erw. 4e, 122 II 124 Erw. 3b/dd, 122 V 8 Erw. 3a, 408 Erw. 3b/aa, je mit
Hinweisen). Sieht hingegen ein Bundesgesetz ausdrücklich oder sinngemäss
die unechte Rückwirkung vor oder untersagt es eine solche, ist diese
Anordnung gemäss Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3 aBV für den Richter
zum Vornherein verbindlich und kann nicht überprüft werden. Ob einer neuen
bundesgesetzlichen Bestimmung die Bedeutung unechter Rückwirkung zukommt,
muss sich aus dem Wortlaut (insbesondere der Übergangsbestimmungen),
der sinngemässen Auslegung oder durch Lückenfüllung ergeben (BGE 122 V
8 Erw. 3a mit Hinweis).

    b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat in seiner Rechtsprechung - in
Übereinstimmung mit jener des Bundesgerichts und der Doktrin - immer wieder
den intertemporalen Grundsatz bestätigt, dass der Beurteilung einer Sache
jene Rechtsnormen zu Grunde zu legen sind, die in Geltung standen, als sich
der zu den materiellen Rechtsfolgen führende und somit rechtserhebliche
Sachverhalt verwirklichte (vgl. BGE 125 V 128 Erw. 1, 123 V 28 Erw. 3a,
122 V 36 Erw. 1 mit Hinweis). Bei zusammengesetzten Tatbeständen, d.h. bei
Rechtsnormen, welche den Eintritt der in ihr vorgesehenen Rechtsfolge von
der Verwirklichung mehrerer subsumtionsrelevanter Sachverhaltselemente
abhängig machen, hat die Rechtsprechung erkannt, dass für die Entscheidung
der intertemporalrechtlichen Anwendbarkeit massgeblich ist, unter der
Herrschaft welcher Norm sich der Sachverhaltskomplex schwergewichtig,
überwiegend ereignet hat (BGE 123 V 28 Erw. 3a; AHI 1995 S. 3 ff., 1994
S. 140 f. Erw. 5, je mit Hinweisen).

    c) Bei diesen Regeln handelt es sich um Richtlinien, die nicht
stereotyp anzuwenden sind. Vielmehr entscheidet sich auch die Frage der
intertemporalrechtlichen Geltung einer Norm primär nach den allgemein
anerkannten Auslegungsgrundsätzen (BGE 123 V 29 Erw. 3b).

Erwägung 5

    5.- a) Art. 51 Abs. 2 AVIG schliesst einen bestimmten Kreis
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und damit von Versicherten
im Sinne des Arbeitslosenversicherungsrechts (Art. 2 Abs. 1 AVIG)
vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung aus. Demgegenüber waren die
in dieser Bestimmung genannten Personengruppen unter dem alten, bis
31. Dezember 1995 gültig gewesenen Recht nicht grundsätzlich von der
Anspruchsberechtigung ausgeschlossen (BGE 112 V 55; ARV 1986 Nr. 14 S. 53;
Botschaft des Bundesrates zur zweiten Teilrevision des AVIG, BBl 1994 I
361, 379). Diese Schlechterstellung einer bestimmten Kategorie von an sich
Versicherten spricht gegen die rückwirkende Anwendung des Art. 51 Abs. 2
AVIG in dem Sinne, dass es für die intertemporalrechtliche Frage einzig
auf den Zeitpunkt der Konkurseröffnung ankommen könnte. Es kommt dazu,
dass das Datum des Konkurserkenntnisses oft von Zufälligkeiten abhängt,
auf welche die Versicherten praktisch keinen Einfluss haben (vgl. BGE
114 V 58 Erw. 3c). Dieser Gesichtspunkt hat in Art. 52 Abs. 1 AVIG (in
den ab 1. Januar 1992 geltenden Fassungen) seinen Niederschlag gefunden,
indem für die zeitliche Bemessung der Insolvenzentschädigung nicht, wie
unter früherem Recht, der Tag der Konkurseröffnung (vgl. BGE 114 V 56),
sondern der Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses massgebend
ist (vgl. BGE 119 V 61 Erw. 4b). Auf Grund der vorstehenden Ausführungen
widerspricht es Bundesrecht, für die Frage nach der intertemporalen Geltung
des Art. 51 Abs. 2 AVIG einzig auf den - mehr oder weniger zufälligen -
Zeitpunkt der Konkurseröffnung abzustellen. Vielmehr sind weitere Umstände
mit zuberücksichtigen, insbesondere der Zeitpunkt des Eintritts der
Insolvenz des Arbeitgebers, welcher nicht mit dem Konkurs zusammenfallen
muss, und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses (BGE 114 V 59 Erw. 3d).

    b) Die Vorinstanz hat erwogen, dass der Beschwerdeführer per
12. November 1995 aus dem Verwaltungsrat der Arbeitgeberin ausgeschieden
ist, dies ungeachtet des Umstandes, dass die Änderung im Handelsregister
nicht eingetragen worden ist. Das Eidg. Versicherungsgericht hat bisher
offen gelassen, ob es im Rahmen des Art. 51 Abs. 2 AVIG auf den Zeitpunkt
des tatsächlichen Rücktritts oder auf die Löschung im Handelsregister
ankommt (unveröffentlichtes Urteil G. vom 12. Mai 1998). Diese Frage
ist nunmehr entsprechend der Praxis zur Haftbarkeit der Verwaltungsräte
für Schadenersatz nach Art. 52 AHVG zu beantworten. Eine parallele
Betrachtungsweise drängt sich auf, weil es in beiden Bereichen um die
Frage geht, bis wann der Verwaltungsrat tatsächlich auf die Tätigkeit der
Gesellschaft Einfluss nehmen kann. Dies ist der Zeitpunkt des effektiven
Rücktritts, welcher unmittelbar wirksam ist, und nicht die Löschung
im Handelsregister oder das Datum der Publikation im Schweizerischen
Handelsamtsblatt (BGE 112 V 5 Erw. 3c mit Hinweisen; vgl. FORSTMOSER,
Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2. Aufl., S. 238 Rz. 769; THOMAS
NUSSBAUMER, Die Haftung des Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, in: AJP
1996 S. 1081; JEAN-MAURICE FRÉSARD, La responsabilité de l'employeur pour
le non-paiement de cotisations d'assurances sociales selon l'art. 52 LAVS,
in: SVZ 1987 S. 11).

    c) Die massgebliche Einflussmöglichkeit als Verwaltungsrat als
wesentliches Sachverhaltselement hat sich demzufolge vorliegend
vor dem 1. Januar 1996 verwirklicht. Ebenso haben die finanziellen
Schwierigkeiten, die schliesslich zum Konkurs geführt haben, bereits
beim Austritt aus dem Verwaltungsrat und somit vor dem 1. Januar 1996
bestanden, wurde doch bereits im Schreiben der I. AG vom 22. November
1995 erwähnt, dass möglicherweise die Bilanz der Arbeitgeberfirma
hinterlegt werden müsse, und erfolgte die Kündigung am 28. November 1995
aus wirtschaftlichen Gründen. Der Beschwerdeführer äusserte denn auch
in seinem Rücktrittsschreiben vom 12. November 1995, vom bevorstehenden
Verkauf der Firma gehört zu haben. Bis ins Jahr 1996 hinein, nämlich
bis 20. Februar 1996 und somit bis einen Tag vor der Konkurseröffnung,
dauerte indessen sein Arbeitsverhältnis als Bauführer. Wohl fiel demzufolge
der Zeitraum der Einflussmöglichkeit des Beschwerdeführers ins Jahr 1995
(10. Februar bis 12. November 1995) und war der in Art. 51 Abs. 2 AVIG
angesprochene Sachverhalt an sich vor dem 1. Januar 1996 abgeschlossen,
doch dauerten die Folgen, nämlich die misslichen finanziellen Verhältnisse,
die schliesslich zum Konkurs führten und für die ein in der Firma selber
mitarbeitender Verwaltungsrat ohne weitere Prüfung seiner effektiven
Einflussmöglichkeiten einzustehen hat (vgl. ARV 1997 Nr. 41 S. 226
Erw. 1b), über den Austritt aus dem Verwaltungsrat an. Dieser Sachverhalt
ist nach den erwähnten Grundsätzen der unechten Rückwirkung auch unter
der Herrschaft des neuen Art. 51 Abs. 2 AVIG zu berücksichtigen. Der
Beschwerdeführer hat daher ab 1. Januar 1996 für den vorher verwirklichten
Sachverhalt einzustehen.

    d) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Übereinstimmung mit
den Verfügungen der Arbeitslosenkasse und dem vorinstanzlichen Entscheid
ein Anspruch auf Insolvenzentschädigung zu verneinen ist, soweit es um Lohn
ab 1. Januar 1996 geht. Wie aus den Akten hervorgeht, sind vorliegend
jedoch auch Löhne für das Jahr 1995 streitig, nämlich Entschädigung
für nicht bezogene Ferientage. Diesbezüglich besteht auf Grund der
Rechtslage bis Ende 1995 grundsätzlich ein Entschädigungsanspruch, der
näher abzuklären und verfügungsweise zu erledigen sein wird.