Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 V 130



126 V 130

24. Auszug aus dem Urteil vom 5. Juni 2000 i. S. M. gegen Kantonales Amt
für Industrie, Gewerbe und Arbeit, Abteilung Arbeitslosenkasse, Bern,
und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 30 Abs. 1 AVIG; Art. 16 Abs. 2 AVIV; Art. 4 aBV; Art. 29 Abs. 2
BV: Rechtliches Gehör. Vor Erlass einer Verfügung über die Einstellung
in der Anspruchsberechtigung ist der versicherten Person das rechtliche
Gehör zur beabsichtigten Sanktion zu gewähren.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 17 Abs. 1 AVIG muss der Versicherte, unterstützt
durch das Arbeitsamt, alles Zumutbare unternehmen, um Arbeitslosigkeit
zu vermeiden oder zu verkürzen. Insbesondere ist er verpflichtet, Arbeit
zu suchen, wenn nötig auch ausserhalb seines bisherigen Berufes. Er muss
seine Bemühungen nachweisen können. Nach Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG ist
er in der Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er sich persönlich
nicht genügend um zumutbare Arbeit bemüht.

    Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG sanktioniert eine Verletzung der in
Art. 17 Abs. 1 AVIG statuierten Schadenminderungspflicht, insbesondere
auch der Pflicht, sich genügend um Arbeit zu bemühen. Mittels Einstellung
in der Anspruchsberechtigung soll dieser Pflicht zum Durchbruch verholfen
werden. Praxisgemäss handelt es sich dabei nicht um eine strafrechtliche,
sondern um eine verwaltungsrechtliche Sanktion (BGE 124 V 227 Erw. 2b
mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen
Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (AS 1999 2556) haben die Parteien
Anspruch auf rechtliches Gehör. Die unter der Marginalie "Allgemeine
Verfahrensgarantien" stehende Regelung des Art. 29 BV bezweckt namentlich,
verschiedene durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 4 der
Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (aBV) konkretisierte Teilaspekte des
Verbots der formellen Rechtsverweigerung in einem Verfassungsartikel
zusammenzufassen (Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom
20. November 1996 [BBl 1997 I 181]). Hinsichtlich des in Art. 29 Abs. 2
BV nicht näher umschriebenen Anspruchs auf rechtliches Gehör ergibt
sich daraus, dass die unter der Herrschaft der aBV hiezu ergangene
Rechtsprechung (vgl. etwa BGE 124 I 51 Erw. 3a, 242 Erw. 2, 124 II 137
Erw. 2b, 124 V 181 Erw. 1a, 375 Erw. 3b, je mit Hinweisen) nach wie vor
massgebend ist (nicht veröffentlichtes Urteil I. vom 9. Mai 2000). Die
BV bringt insoweit keine materiellen Neuerungen, sondern eine Anpassung an
die Verfassungswirklichkeit (DIETER BIEDERMANN, Die neue Bundesverfassung:
Übergangs- und Schlussbestimmungen sowie Anpassungen auf Gesetzesstufe, in:
AJP 1999 S. 744; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz: im Rahmen
der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, 3. Aufl., Bern
1999, S. 493 ff.). Die diesbezügliche Nachführung war in den Räten denn
auch unbestritten (Amtl.Bull. BV 1998 [Separatdruck] N 234 und S 50 f.).

    Die BV ist gemäss Art. 1 des Bundesbeschlusses vom 28. September
1999 (AS 1999 2555; BBl 1999 VIII 7922) auf den 1. Januar 2000 in Kraft
getreten. Die aBV ist von einigen Ausnahmen abgesehen (vgl. Art. 2
des eben genannten Bundesbeschlusses, worin auf Ziff. II Abs. 2 des
Bundesbeschlusses vom 18. Dezember 1998 verwiesen wird) formell aufgehoben
worden. Ob die BV vorbehältlich abweichender Übergangsbestimmungen
darüber hinaus auf sämtliche hängigen Verfahren Anwendung findet,
ist nicht geregelt. Dagegen liesse sich anführen, die Rechtmässigkeit
eines Verwaltungsaktes sei grundsätzlich nach der Rechtslage zur Zeit
seines Erlasses zu beurteilen (BGE 122 V 89 Erw. 3 mit Hinweisen). Dies
würde vorliegend zur Massgeblichkeit der aBV führen. Umgekehrt sind die
Verhältnisse bei einer Verfassungsnovelle insoweit speziell, als die
Natur der Verfassung als wichtigste und grundlegendste Rechtsquelle des
innerstaatlichen Rechts indiziert, neues Recht - soweit keine abweichende
Regelung besteht - grundsätzlich ab Inkrafttreten integral, mithin auch
auf hängige Verfahren, zur Anwendung zu bringen. Da sich für den Anspruch
auf rechtliches Gehör kein Unterschied daraus ergibt, ob die aBV oder
die BV massgebend ist, kann diese Frage vorliegend indes offen bleiben
(erwähntes Urteil I. vom 9. Mai 2000).

    b) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst die Rechte der Parteien
auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der
Entscheidfindung. Bevor die Behörde einen Entscheid trifft, der in die
Rechtsstellung des Einzelnen eingreift, hat sie ihn davon in Kenntnis zu
setzen und ihm Gelegenheit zu geben, sich vorgängig zu äussern (BGE 120
Ib 383 Erw. 3b mit Hinweisen).

    Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des
rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde
in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Es kommt
mit andern Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für
den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die
Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht (BGE
125 I 118 Erw. 3, 124 V 389 Erw. 1, 183 Erw. 4a mit Hinweisen). Nach der
Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwer wiegende - Verletzung
des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn die betroffene Person
die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern,
die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die
Heilung eines - allfälligen - Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE
125 V 371 Erw. 4c/aa, 124 V 392 Erw. 5a und 183 Erw. 4a, je mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
zur Hauptsache wie bereits im kantonalen Beschwerdeverfahren geltend,
es sei ihm das rechtliche Gehör vor Erlass der Einstellungsverfügung
nicht gewährt worden.

    a) Aus den Akten geht hervor, dass der Beschwerdeführer am 29. Mai
1997 der Arbeitslosenkasse das Formular "Nachweis der persönlichen
Arbeitsbemühungen" ohne Angabe einer Arbeitsbemühung unterschrieben
eingereicht hat. Daraufhin hat ihn die Arbeitslosenkasse mit Verfügung
vom 6. Juni 1997 für 9 Tage "wegen erstmals ungenügenden persönlichen
Arbeitsbemühungen" in der Anspruchsberechtigung eingestellt, ohne ihn vor
Erlass der Verfügung anzuhören. Arbeitslosenkasse und Vorinstanz sind
im Wesentlichen der Auffassung, dem Beschwerdeführer sei das rechtliche
Gehör durch das Einreichen des von ihm selbst ausgefüllten Formulars
"Nachweis der persönlichen Arbeitsbemühungen" gewährt worden.

    b) Die Einstellung in der Anspruchsberechtigung ist eine
verwaltungsrechtliche Sanktion (vgl. Erw. 1 hievor), die erheblich in
die Rechtsstellung der versicherten Person eingreift. Ob vor einer
solchen Sanktion das rechtliche Gehör zu gewähren ist, regelt das
AVIG nicht. Immerhin schreibt Art. 16 Abs. 2 AVIV der zuständigen
Amtsstelle vor, der versicherten Person Gelegenheit zur Stellungnahme
zu geben, wenn sie abklärt, ob ein Einstellungsgrund in den in Art. 16
Abs. 1 AVIV genannten Fällen im Zusammenhang mit der zumutbaren Arbeit
vorliegt. Diese Vorschrift bezieht sich indessen lediglich auf einzelne
Einstellungstatbestände. Die Arbeitslosenversicherung kennt im Unterschied
zu anderen Sozialversicherungszweigen auch nicht ein Vorbescheid- oder ein
Einspracheverfahren. Das Verwaltungsverfahren findet direkt mit dem Erlass
einer (förmlichen) Verfügung seinen Abschluss (Art. 100 AVIG), so dass
die Wahrung des rechtlichen Gehörs auch nicht in einem vorgeschalteten
Verfahren erfolgen kann. Angesichts dieser verfahrensrechtlichen
Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens in der Arbeitslosenversicherung
gebietet der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör, dass
einer betroffenen Person vor Erlass der Verfügung Gelegenheit gegeben
wird, sich zur beabsichtigten Einstellung in der Anspruchsberechtigung zu
äussern. Nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts ist denn
auch einer versicherten Person vor Erlass einer Einstellungsverfügung
das rechtliche Gehör zu gewähren (nicht veröffentlichte Urteile
P. vom 27. Juni 1996 und G. vom 9. Oktober 1985). Im Schrifttum
wird der Anspruch auf rechtliches Gehör angesichts des erheblichen
Eingriffs in die Rechtsstellung der versicherten Person ebenfalls
generell bei allen Einstellungstatbeständen bejaht (THOMAS NUSSBAUMER,
Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht
[SBVR], Bd. Soziale Sicherheit, Rz. 719; vgl. auch THOMAS LOCHER, Grundriss
des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997, S. 342 N 14).

    c) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und der Arbeitslosenkasse
ist die Einreichung des Formulars über die im vergangenen Monat getätigten
Arbeitsbemühungen nicht gleichbedeutend mit der Gewährung des rechtlichen
Gehörs. Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer zuvor bereits
mehrmals ein solches Formular eingereicht hatte, verlangt der Anspruch
auf rechtliches Gehör, dass sich eine Person zur in Aussicht genommenen
Sanktion - hier zur Einstellung in der Anspruchsberechtigung - äussern
und gegebenenfalls zusätzliche entlastende Gründe vorbringen kann. Da
es sich bei der verwaltungsrechtlichen Sanktion der Einstellung fraglos
um einen erheblichen Eingriff in die Rechtsstellung der betroffenen
Person handelt, stellt der Erlass einer Einstellungsverfügung ohne
vorherige Anhörung eine schwer wiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs
dar, welche im nachfolgenden Beschwerdeverfahren grundsätzlich nicht
geheilt werden kann (vgl. Erw. 2b hievor). Die Sache geht daher an die
Arbeitslosenkasse zurück, damit diese dem Beschwerdeführer das rechtliche
Gehör gewähre und hernach erneut über eine allfällige Einstellung in der
Anspruchsberechtigung wegen ungenügender Arbeitsbemühungen befinde.