Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 I 207



126 I 207

26. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
23. August 2000 i.S. X. gegen A. und Obergericht des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 87 OG (in der Fassung vom 8. Oktober 1999).  Anfechtbarkeit des
Entscheids über die Bewilligung des Wechsels des amtlichen Verteidigers.

    Der Entscheid über die Bewilligung eines Wechsels des amtlichen
Verteidigers ist kein Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 1 OG
(E. 1).

    Ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur im Sinne
von Art. 87 Abs. 2 OG droht in der Regel durch die Verweigerung der
unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung (E. 2a), nicht aber
durch die Ablehnung des Gesuchs, den amtlichen Verteidiger zu wechseln
(E. 2b). In concreto droht kein solcher Nachteil (E. 2c).

Sachverhalt

    Das Geschworenengericht des Kantons Zürich verurteilte X. am
22. Juni 1993 wegen vorsätzlicher Tötung und Widerhandlungen gegen das
Betäubungsmittelgesetz zu 10 Jahren Zuchthaus. Ausserdem ordnete es eine
ambulante Behandlung im Sinn von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB an. Das
Amt für Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Zürich (ASMV) regelte
mit Verfügung vom 6. Juni 1997 den gemeinsamen Vollzug dieser und einer
bereits in einem früheren Urteil angeordneten Massnahme.

    Mit Verfügung vom 27. Januar 1999 erwog das ASMV, X. sei laut den
Berichten des psychiatrisch-psychologischen Dienstes der Justizdirektion
nicht bereit, sich der ambulanten Behandlung zu unterziehen, weshalb
seit Juni 1997 keine Therapiesitzungen mehr stattgefunden hätten. Es
verfügte die Einstellung des Vollzuges der vom Geschworenengericht
angeordneten ambulanten Massnahme ab Verfügungsdatum und beantragte dem
Obergericht des Kantons Zürich, die ambulante Massnahme aufzuheben und
in Anwendung von Art. 43 Ziff. 3 StGB auf die erneute Anordnung einer
bessernden wie auch einer sichernden Massnahme zu verzichten. Mit
Vernehmlassung vom 29. Juni 1999 beantragte die Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich, die vom Geschworenengericht angeordnete ambulante
Massnahme aufzuheben und stattdessen eine Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1
Abs. 2 StGB anzuordnen. Mit Eingabe vom 26. Juli 1999 beantragte der
amtliche Verteidiger von X., Rechtsanwalt A., die ambulante Massnahme
aufzuheben und auf die Anordnung von sichernden oder bessernden
Massnahmen zu verzichten. Eventuell sei an der vom Geschworenengericht
angeordneten ambulanten Massnahme festzuhalten und von einer Verwahrung
abzusehen. X. sei vom Obergericht anzuhören.

    Mit Schreiben vom 28. Februar 2000 teilte Rechtsanwalt A. dem
Obergericht mit, dass ihm sein Klient anlässlich seines heutigen Besuches
mitgeteilt habe, dass er weder in seine Person noch in seine beruflichen
Fähigkeiten Vertrauen habe. Da die Angelegenheit für X. von grosser
Bedeutung sei, erachte er es für unabdingbar, dass dieser von einer
Person seines Vertrauens vertreten werde. Am 2. März 2000 setzte der
Präsident der III. Strafkammer X. Frist an, um sein Gesuch um Beigabe
eines neuen amtlichen Verteidigers zu begründen und dem Gericht für den
Fall der Gutheissung einen Verteidiger seiner Wahl vorzuschlagen. Am
14. März 2000 meldete sich Rechtsanwalt B. beim Obergericht und erklärte,
X. wünsche durch ihn vertreten zu werden. Am 30. März 2000 begründete er
das Gesuch. In seiner Stellungnahme vom 10. April 2000 wies Rechtsanwalt
A. die Vorwürfe B.s gegen seine Mandatsführung zurück, widersetzte sich
aber seiner Entlassung als amtlicher Verteidiger nicht. Am 19. April
2000 wies das Obergericht das Gesuch von X. um Wechsel des amtlichen
Verteidigers ab.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 24. April 2000 wegen Verletzung
von Art. 9 BV, 29 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK (SR 0.101)
beantragt X., den Entscheid des Obergerichts vom 19. April 2000 aufzuheben
und die Sache diesem zu neuer Entscheidung zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht tritt auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition,
ob und inwieweit auf eine Beschwerde einzutreten ist (BGE 126 I 81 E. 1 ;
125 I 14 E. 2a, 253 E. 1a).

    a) Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen
Zwischenentscheid, der das Verfahren gegen den Beschwerdeführer
weiterbringt, aber nicht abschliesst. Er ist kantonal letztinstanzlich
(Art. 86 Abs. 1 OG), da die Nichtigkeitsbeschwerde ans Kassationsgericht
nur gegen "Urteile und Erledigungsbeschlüsse" des Obergerichts offen steht
(§ 428 Ziff. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919).

    b) Art. 87 OG über die Anfechtbarkeit von Zwischenentscheiden wurde
im Zuge der "prozessualen Anpassungen an die neue Bundesverfassung"
(Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999, in Kraft seit 1. März 2000)
revidiert. Nach dessen Abs. 1 ist die staatsrechtliche Beschwerde
gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und den Ausstand zulässig; diese Entscheide können später
nicht mehr angefochten werden. Gegen andere selbständig eröffnete Vor-
und Zwischenentscheide ist die staatsrechtliche Beschwerde zulässig, wenn
sie einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken können (Abs. 2); ist
diese Beschwerde nicht zulässig oder wurde von ihr kein Gebrauch gemacht,
ist ein solcher Zwischenentscheid durch Beschwerde gegen den Endentscheid
anfechtbar (Abs. 3). Zwischenentscheide, die unter Art. 87 Abs. 1 OG
fallen, können danach nur unmittelbar nach ihrer selbständigen Eröffnung,
solche nach Abs. 2 unmittelbar oder auch erst mit einer Beschwerde gegen
den Endentscheid angefochten werden.

    Mit Art. 87 Abs. 1 OG hat der Gesetzgeber die vom Bundesgericht
entwickelte Praxis kodifiziert, welche die staatsrechtliche Beschwerde
gegen Zwischenentscheide über gerichtsorganisatorische Fragen, die
ihrer Natur nach endgültig zu entscheiden sind, bevor das Verfahren
weitergeführt werden kann - im Wesentlichen solche über die (sachliche
oder örtliche) Zuständigkeit und die Zusammensetzung der entscheidenden
Behörde (Ausstand) -, ausnahmsweise zuliess, auch wenn sie nicht
einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken konnten, wie dies
Art. 87 aOG verlangte (BGE 124 I 255 E. 1b mit Hinweisen). Gleichzeitig
wird mit dieser Gesetzesbestimmung klargestellt, dass selbständig
eröffnete Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und den Ausstand der
entscheidenden Behörde unmittelbar angefochten werden müssen und nicht
auch erst zusammen mit dem Endentscheid anfechtbar sind (BE 126 I 204,
E. 1). Neu ist, dass der Anwendungsbereich von Artikel 87 OG nicht mehr
auf Beschwerden wegen Verletzung von Art. 4 aBV beschränkt ist, sondern
auf alle staatsrechtlichen Beschwerden gegen Vor- und Zwischenentscheide
ausgedehnt wird (Botschaft, BBl 1999 S. 7937 ff.).

    c) Der angefochtene Entscheid des Obergerichts über die Bewilligung
des Wechsels des amtlichen Verteidigers ist weder ein solcher über eine
Frage der Zuständigkeit noch des Ausstandes der entscheidenden Behörde
und damit kein Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 1
OG. Er stellt daher einen "anderen" Vor- oder Zwischenentscheid dar,
der gemäss Art. 87 Abs. 2 OG nur anfechtbar ist, wenn er einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann.

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung zu Art. 87 aOG, die grundsätzlich in
gleicher Weise auch bei der Anwendung des neuen Art. 87 Abs. 2 OG Geltung
beanspruchen kann, muss es sich um einen Nachteil rechtlicher Natur
handeln, der auch mit einem späteren günstigen Entscheid nicht gänzlich
behoben werden kann (BGE 123 I 325 E. 3c; 106 Ia 226 S. 229 E. 2 u. 3).

    a) Ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur droht
in aller Regel durch die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege
und Verbeiständung; so z.B. wenn dem Gericht oder dem Anwalt innert
kurzer Frist ein Kostenvorschuss geleistet werden muss (BGE 111 Ia 276
E. 2; 99 Ia 437 E. 2). Die Nachteile, die einem nicht verbeiständeten
Angeschuldigten in einem Strafverfahren entstehen können, sind durch eine
Wiederholung des Verfahrens nach einem erfolgreichen Rechtsmittelverfahren
wegen der Verweigerung der unentgeltlichen Verbeiständung kaum je gänzlich
zu beheben.

    Entscheidend für den Verfahrensausgang ist häufig das erstinstanzliche
Beweisverfahren. Wurde dieses fehlerhaft, d.h. ohne Mitwirkung eines
Rechtsvertreters, durchgeführt, so lässt sich dieser Mangel in der
Regel nicht mehr ganz beheben, weil es z.B. für die Abnahme wichtiger
Beweismittel wie Zeugenaussagen von entscheidender Bedeutung ist, was diese
Zeugen zuerst und möglichst rasch nach dem umstrittenen Ereignis aussagen;
die Anwesenheit eines Verteidigers ist hier deshalb wichtig. Stellt
sich die Frage der unentgeltlichen Verbeiständung bereits am Anfang des
Verfahrens - was die Regel bildet -, gebieten auch prozessökonomische
Gesichtspunkte, die Anforderungen an einen nicht wiedergutzumachenden
Nachteil weniger streng zu handhaben, damit die Wiederholung umfangreicher
Verfahren gegebenenfalls vermieden werden kann. In diesen Fällen ist ein
nicht wiedergutzumachender Nachteil gemäss Art. 87 Abs. 2 OG zu bejahen
und auf die staatsrechtliche Beschwerde gegen den Zwischenentscheid,
mit dem die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung verweigert
wurde, einzutreten.

    b) Weniger einschneidende Folgen hat dagegen die Ablehnung
eines Gesuchs, den unentgeltlichen Verteidiger im Strafverfahren
zu wechseln. In diesem Fall wird der Gesuchsteller weiterhin von
einem Verteidiger vertreten, der verpflichtet ist, die Interessen
seines Mandanten nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen und
der aufsichtsrechtliche Konsequenzen zu gewärtigen hat, falls er
seine Pflichten vernachlässigt. Der Umstand, dass der Verteidiger das
Vertrauen seines Mandanten verloren hat, erschwert zwar die Verteidigung,
verunmöglicht sie aber in aller Regel nicht, da es trotzdem Pflicht des
Verteidigers ist, im Einvernehmen mit seinem Klienten oder in dessen
mutmasslichem Interesse eine geeignete Verteidigungsstrategie festzulegen
und diese im Verfahren zu verfolgen. Die Abweisung eines Gesuches um
einen Wechsel des amtlichen Verteidigers hat somit, besondere Umstände
vorbehalten, keinen nicht wiedergutzumachenden rechtlichen Nachteil
zur Folge, da dem Gesuchsteller, anders als im Falle der Verweigerung
der unentgeltlichen Verbeiständung, auf jeden Fall ein Verteidiger zur
Seite steht, welcher die Waffengleichheit und damit ein faires Verfahren
sicherstellt. Allfällige Mängel einer solchen Verteidigung können durch
eine Wiederholung des Verfahrens nach einem erfolgreichen Rechtsmittel
gegen den Endentscheid gänzlich behoben werden, zumal wenn das Gesuch
um Verteidigerwechsel, wie dies vielfach der Fall ist, erst in einem
fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens erfolgt. Deshalb sind die
Voraussetzungen für ein Eintreten auf eine staatsrechtliche Beschwerde
gegen einen entsprechenden Zwischenentscheid nicht gegeben.

    c) Vorliegend steht zwar für den Beschwerdeführer viel auf dem Spiel -
die Staatsanwaltschaft beantragt seine Verwahrung -, das Verfahren selber
ist indessen nicht besonders aufwändig, geht es doch im Wesentlichen
darum, psychiatrische Gutachten zu würdigen und allenfalls neue zu
beantragen sowie den Beschwerdeführer anzuhören. Mit der Wiederholung
eines derartigen Verfahrens, bei dem kein eigentliches Beweisverfahren
durchgeführt werden muss, kann ein allfälliger Verfahrensmangel infolge
des abgelehnten Verteidigerwechsels gänzlich behoben werden. Der
angefochtene Zwischenentscheid des Obergerichts hat somit nicht einen
rechtlichen Nachteil im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG zur Folge, der
auf dem Rechtsmittelweg gegen den Endentscheid nicht korrigiert werden
könnte, falls die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers im Verfahren
vor dem Obergericht als verletzt zu betrachten sein sollten. Auf die
staatsrechtliche Beschwerde ist daher nicht einzutreten.