Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 I 133



126 I 133

17. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 7. Juni 2000 i.S. Stadt Zürich gegen Scientology Kirche Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 31 aBV (Art. 27 BV); Art. 49 aBV (Art. 15 BV); Handels- und
Gewerbefreiheit; Religionsfreiheit; Gemeindeautonomie (Art. 50 BV);
Benützung des öffentlichen Grundes zu Sonderzwecken; gesteigerter
Gemeingebrauch.

    Gemeindeautonomie und Prüfungsdichte (E. 2).

    Wer entgeltliche Leistungen vertreiben will und das damit allenfalls
verbundene Missionierungsziel gegenüber dem anvisierten Publikum nicht
klar zu erkennen gibt, muss in Kauf nehmen, dass seine Werbeaktionen
nicht unter dem Gesichtspunkt der Religionsfreiheit gewürdigt, sondern
als wirtschaftlich motiviert angesehen und nach den hiefür geltenden
Regeln behandelt werden (E. 3).

    Ob die Handels- und Gewerbefreiheit ihre Schutzwirkung entfaltet,
hängt nicht davon ab, ob und wieweit ein Gewerbetreibender auf die
Benützung des öffentlichen Grundes angewiesen ist. Dies spielt erst bei
der Interessenabwägung eine Rolle (E. 4d).

Sachverhalt

    Mit Beschluss vom 16. Juni 1972 hat der Stadtrat der Stadt Zürich
Vorschriften über die vorübergehende Benützung des öffentlichen Grundes
zu Sonderzwecken (VBöGS) erlassen. Die Werbung auf dem öffentlichen Grund
wird darin wie folgt geregelt:

    Art. 20 Verteilen von Werbematerial
      Das Verteilen von Druckerzeugnissen, die Erwerbszwecken dienen,
      und von
Werbeartikeln auf dem öffentlichen Grund ist untersagt.

    Art. 21 Werbeveranstaltungen
      1Werbeveranstaltungen mit Motorfahrzeugen und Tieren sind auf
      dem ganzen
öffentlichen Grund untersagt.
      2Werbeveranstaltungen mit einzelnen Fussgängern können in
      beschränktem
Umfang bewilligt werden. Sie sind jedoch nur auf dem Trottoirgebiet
zugelassen. Die beteiligten Personen dürfen nicht stehenbleiben.

    Mit Verfügung vom 30. November 1994 untersagte der Chef
Verwaltungspolizei der Stadt Zürich der Scientology Kirche Zürich
ab sofort "das Verteilen des Persönlichkeitstestes 'Oxford Capacity
Analysis' und des Handzettels 'Warum Glücklichsein kein Zufall ist'
(....) auf dem öffentlichen Grund der Stadt Zürich". Zur Begründung
führte er an, aufgrund von neuen Erkenntnissen würden den auf der
Strasse angeworbenen Passanten anschliessend im Scientology Zentrum
"teils unter fraglichen Methoden, Bücher zum Kauf oder Bestellen und
kostenpflichtige Seminarien angeboten." Fragen religiösen Inhalts fehlten
bei den Persönlichkeitstests. Das Verteilen der Tests und ihre Anwendung
könnten "deshalb nicht als religiöse Tätigkeit oder als Werbung für eine
Religion angesehen werden". Das Verteilen des Persönlichkeitstestes und des
Handzettels 'Warum Glücklichsein kein Zufall ist' sei daher als unerlaubtes
Verteilen von Werbematerial im Sinne von Art. 20 VBöGS einzustufen.

    Der Polizeivorstand der Stadt Zürich wies die hiegegen gerichtete
Einsprache am 1. Juni 1995 ab. Dabei beschränkte er das Verfahren
auf die Frage, ob der Scientology Kirche Zürich das Verbreiten von
Persönlichkeitstests und Handzetteln auf öffentlichem Grund untersagt
werden könne. Unerheblich sei, ob es sich bei der Scientology Kirche
um eine Religionsgemeinschaft handle oder nicht, da auch religiöse
Vereinigungen auf dem öffentlichen Grund nicht Werbeaktionen zu
Erwerbszwecken durchführen dürften. Die verteilten Blätter hätten
mittelbar vor allem zum Ziel, die damit bedienten Personen zum Kauf
von Büchern bzw. zum Belegen der gegen ein fixes Entgelt angebotenen
Kurse zu bewegen. Infolgedessen liege eindeutig eine Veranstaltung zu
Erwerbszwecken auf dem öffentlichen Grund vor, wofür gemäss Art. 20 und
21 VBöGS Bewilligungen grundsätzlich nicht erteilt werden könnten.

    Die von der Scientology Kirche Zürich dagegen erhobenen Rechtsmittel
wurden am 6. März 1996 vom Stadtrat von Zürich, am 28. Januar 1997 vom
Statthalteramt des Bezirks Zürich und schliesslich am 21. April 1999 vom
Regierungsrat des Kantons Zürich abgewiesen.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (im Folgenden:
Verwaltungsgericht) hiess die gegen den Entscheid des Regierungsrats
erhobene Beschwerde mit Urteil vom 28. September 1999 im Sinne der
Erwägungen teilweise gut. Zwar stellte es ebenfalls fest, dass die
Verteilung der fraglichen Druckschriften auf öffentlichem Grund der Stadt
Zürich nicht unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehe. Das Handeln
der Scientology Kirche, die mit professionellen Marketing-Methoden
versuche, ihre Leistungen an ein breites Publikum zu verkaufen, werde
hauptsächlich durch wirtschaftliche Erwägungen bestimmt und falle somit
als Werbetätigkeit unter Art. 20 VBöGS. Für ein völliges Verbot biete
diese Bestimmung im Lichte der Handels- und Gewerbefreiheit allerdings
keine rechtmässige Grundlage; die Stadt Zürich sei aber berechtigt,
den - hier gegebenen - gesteigerten Gemeingebrauch öffentlicher
Strassen einer Bewilligungspflicht zu unterstellen. Entsprechend hob
das Verwaltungsgericht die vorangegangenen Entscheide auf und wies die
Streitsache zu neuer Entscheidung an den Stadtrat Zürich zurück.

    Die hiegegen von der Stadt Zürich eingereichte staatsrechtliche
Beschwerde weist das Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Eine Gemeinde ist in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale
Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise
der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit einräumt (BGE 124 I 223 E. 2b S. 226 f.; 122 I
279 E. 8b S. 290, je mit Hinweisen). Gemäss Art. 48 der Verfassung des
eidgenössischen Standes Zürich vom 18. April 1869 (RS 131.211) sind
die Gemeinden befugt, ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken der
Verfassung und Gesetze selbständig zu ordnen. Die Vorschriften der Stadt
Zürich über die vorübergehende Benutzung des öffentlichen Grundes (VBöGS)
stützen sich (seit 1983) auf § 39 des Gesetzes des Kantons Zürich vom
27. September 1981 über den Bau und den Unterhalt der öffentlichen Strassen
(Strassengesetz). Diese Bestimmung handelt von den strassenpolizeilichen
Vorschriften und lautet wie folgt:

    Staat und Gemeinden stellen, soweit ein Bedürfnis besteht und das

    Planungs- und Baugesetz keine abschliessende Ordnung trifft,

    Polizeivorschriften über das Strassengebiet selbst, seine Benützung
sowie
   über das an die öffentlichen und privaten Strassen im Gemeingebrauch
   grenzende Gebiete auf.>   Vorbehalten bleiben die verkehrspolizeilichen

    Vorschriften.

    Den Gemeinden ist somit überlassen, über das Strassengebiet und seine
Benutzung in eigener Kompetenz (Polizei-)Vorschriften zu erlassen, und es
kommt ihnen dabei eine erhebliche Entscheidungsfreiheit zu. Unter Vorbehalt
der allgemeinen verfassungsrechtlichen Schranken geniessen die Gemeinden
daher in diesem Bereich Autonomie. Sie können sich folglich dagegen zur
Wehr setzen, dass eine kantonale Behörde in einem Rechtsmittelverfahren
ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder die den betreffenden Sachbereich
ordnenden kommunalen, kantonalen oder bundesrechtlichen Vorschriften
falsch anwendet. Soweit es um die Handhabung von eidgenössischem oder
kantonalem Verfassungsrecht geht, prüft das Bundesgericht das Vorgehen
der kantonalen Behörden mit freier Kognition, sonst nur auf Willkür hin
(BGE 122 I 279 E. 8c S. 291; 120 Ia 203 E. 2a S. 204, mit Hinweisen). Die
Gemeinden können in diesem Rahmen auch geltend machen, die kantonalen
Instanzen hätten die Tragweite eines Grundrechts verkannt und dieses zu
Unrecht als verletzt betrachtet (BGE 114 Ia 168 E. 2a S. 170; 112 Ia 59
E. 3a S. 63; Urteil des Bundesgerichts vom 12. Oktober 1992, publiziert
in ZBl 94/1993 S. 133 E. 2c, mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- a) Nach dem angefochtenen Entscheid des Verwaltungsgerichts
können vorliegend die Testbogen und Handzettel an sich wie auch ihre
Verteilung und die Auswertung der Tests nicht als unmittelbarer Ausdruck
religiöser oder weltanschaulicher Auffassung gelten; entsprechend handle
es sich nicht um religiöse Handlungen. Folglich stehe das Verteilen
der betreffenden Druckschriften auf dem öffentlichen Grund der Stadt
Zürich nicht unter dem Schutz der Religionsfreiheit (vgl. Art. 49 a BV
und Art. 15 BV). Anderseits sei der Inhalt der Schriften an sich nicht
kommerzieller Natur, doch werde damit das Ziel verfolgt, den interessierten
Passanten anschliessend weitere Güter und Dienstleistungen gegen Entgelt
anzubieten. Die Werbetätigkeit falle daher unter Art. 20 VBöGS, denn es
bestehe zumindest das gleiche Schutzbedürfnis wie bei einer eigentlichen
kommerziellen Werbung.

    b) Diese Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts ist nicht
zu beanstanden. Die Verteilung der fraglichen Druckschriften dient
nach den zutreffenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts primär
dem entgeltlichen Vertrieb von Kursen und Büchern, ohne dass das
Ziel einer religiösen Missionierung aus dem Inhalt der Druckschriften
(direkt) erkennbar ist. Wer - wie vorliegend die Beschwerdegegnerin -
entgeltliche Leistungen vertreiben will und das damit allenfalls verbundene
religiöse Missionierungsziel gegenüber dem anvisierten Publikum nicht
klar zu erkennen gibt, muss in Kauf nehmen, dass seine Werbeaktionen als
wirtschaftlich motiviert angesehen und nach den hiefür geltenden Regeln
behandelt werden.

Erwägung 4

    4.- a) Weiter ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass es sich
beim Verteilen der erwähnten Schriften in der Zürcher Innenstadt um
gesteigerten Gemeingebrauch handle. Hieraus könne aber nicht auf die
"Zulässigkeit des Verbots der Verteilung von Druckschriften und
Werbeartikeln zu kommerziellen Zwecken" geschlossen werden, weil
sich aus den Freiheitsrechten ein 'bedingter Anspruch' auf Gewährung
gesteigerten Gemeingebrauchs an öffentlichem Grund ergebe. Dies gebiete,
dass die Behörden nur dann ein Gesuch ablehnen dürften, wenn die der
beabsichtigten Nutzung im konkreten Fall entgegenstehenden Gesichtspunkte
überwögen. Ein öffentliches Interesse, die Verteilung von Werbung auf
öffentlichem Grund zu Erwerbszwecken von vornherein zu verbieten, bestehe
nicht. Insbesondere könne es nicht mit dem Schutz von Treu und Glauben im
Geschäftsverkehr begründet werden, da die verbotenen Verhaltensweisen nicht
generell dagegen verstiessen. Die hauptsächliche Begründung des Verbots
durch den Stadtrat, eine Freigabe der Verteilung von Druckschriften und
Werbematerial würde eine übermässige Belastung öffentlichen Grundes und
Belästigungen von Passanten bewirken, lasse dessen Unverhältnismässigkeit
erkennen: Milderes Mittel im Verhältnis zu einem Verbot stelle seit jeher
eine blosse Bewilligungspflicht dar, was sowohl die Beschwerdeführerin
als auch die Vorinstanz ausser Acht gelassen hätten.

    b) Die Beschwerdeführerin anerkennt, dass Personen, die den
öffentlichen Grund für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit benutzen,
sich auf die Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31 aBV; vgl. auch
Art. 27 BV) berufen können, soweit der Zweck des öffentlichen Bodens
es gestattet. Hingegen rügt sie als willkürlich die Auffassung des
Verwaltungsgerichts, wonach sich aus den Freiheitsrechten auch für
rein kommerzielle Zwecke ein sog. bedingter Anspruch auf Gewährung
gesteigerten Gemeingebrauchs am öffentlichen Grund ergebe; dies gehe
ungerechtfertigterweise über die herrschende Lehre und Rechtsprechung
hinaus, die einen solchen Anspruch nur einräumten, wenn die Ausübung
der Erwerbstätigkeit zwingend mit der Benutzung öffentlichen Grundes
verbunden sei. Das generelle Verbot, in der Stadt Zürich Druckerzeugnisse
zu verteilen, die Erwerbszwecken dienen, sei bereits deshalb nicht
zu beanstanden. Da dieses Verbot die Beschwerdegegnerin bei ihrer
Erwerbstätigkeit, wenn überhaupt, nur unwesentlich beeinträchtige und im
öffentlichen Interesse liege, erweise es sich auch als verhältnismässig;
die gegenteilige Interpretation der geltenden Lehre und Rechtsprechung
sei willkürlich. Die vom Verwaltungsgericht angeordnete Einführung einer
Bewilligungspflicht werde in der Praxis zudem kaum zu bewerkstelligen
sein. Die Bewilligungserteilung und die Kontrolle über deren Einhaltung
wäre mit einem unverhältnismässigen Verwaltungsaufwand verbunden.

    Die Beschwerdeführerin rügt, dass das Verwaltungsgericht mit
seinem Entscheid in ungerechtfertigter Weise in die Gemeindeautonomie
eingegriffen habe, indem es der Beschwerdegegnerin ohne jede Grundlage in
Lehre und Rechtsprechung und insbesondere ohne sachliche Rechtfertigung
und damit willkürlich einen grundsätzlichen Anspruch auf Benützung des
öffentlichen Grundes zu ausschliesslich kommerziellen Zwecken einräume. Die
praktischen Auswirkungen des angefochtenen Entscheids seien für die
Stadt unhaltbar. Durch das Verbot, auf öffentlichem Grund Werbematerial
zu verteilen, werde die gewerbliche Tätigkeit der Beschwerdegegnerin nur
in einem geringfügigen Nebenaspekt untersagt: Der eigentliche Kernbereich
der Handels- und Gewerbefreiheit werde vom Verbot nicht im Geringsten
tangiert. Das gegen die Beschwerdegegnerin ausgesprochene Verbot, auf
dem öffentlichen Grund Persönlichkeitstests und Handzettel zu verteilen,
erweise sich daher als verhältnismässig und zum Schutz der Bevölkerung
als notwendig.

    c) Strassen sind öffentliche Sachen im Gemeingebrauch, d.h. sie
stehen der Allgemeinheit zur Benutzung offen; diese kann mehr oder weniger
intensiv sein. Verwaltungsgericht und Stadtrat sind sich darüber einig,
dass das Verteilen von Druckschriften in der Zürcher Innenstadt über
den schlichten Gemeingebrauch hinausgeht und gesteigerten Gemeingebrauch
darstellt. Ein gesteigerter Gemeingebrauch liegt vor, wenn die Benützung
einer öffentlichen Sache entweder nicht bestimmungsgemäss oder nicht
gemeinverträglich ist (vgl. BGE 122 I 279 E. 2e/cc S. 286; ULRICH
HÄFELIN/GEORG MÜLLER, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts,
3. Aufl. 1998, Rz. 1867 ff., S. 471 ff.; TOBIAS JAAG, Gemeingebrauch
und Sondernutzung öffentlicher Sachen, in ZBl 93/1992 S. 151; ders.,
Verwaltungsrecht des Kantons Zürich, 2. Aufl. 1999, Rz. 2434, S. 221).
Auf die Abgrenzung können auch örtliche Gegebenheiten Einfluss haben
(BGE 122 I 279 E. 2e/aa S. 286 mit Hinweis). Die von den Stadtbehörden
und vom Verwaltungsgericht vertretene Auffassung erscheint zwar streng,
lässt sich aber für die Stadt Zürich vertreten, zumal die Aktionen der
Beschwerdegegnerin, wie das Verwaltungsgericht mit Recht festhält, über
das blosse Verteilen von Druckschriften hinausgehen und die Mitarbeiter
darauf angewiesen sind, bereits auf dem öffentlichen Grund Gespräche mit
Passanten zu führen, um deren Interesse für die angebotenen Leistungen
zu wecken. Entsprechend können etwa Ausweichbewegungen von Passanten,
Menschenansammlungen, Diskussionen oder gar Auseinandersetzungen in stark
frequentierten Lagen zu Störungen des Verkehrsflusses führen.

    d) Gesteigerter Gemeingebrauch bedarf grundsätzlich
der Bewilligung. Diese ist als Bewilligung sui generis von der
Polizeierlaubnis und von der Konzession zu unterscheiden. Sie dient
nicht nur dem Schutz der Polizeigüter, sondern der Koordination und
Prioritätensetzung zwischen verschiedenen Nutzungen der öffentlichen
Sachen (vgl. ULRICH HÄFELIN/GEORG MÜLLER, aaO, Rz. 1878, S. 474; TOBIAS
JAAG, in ZBl 93/1992 S. 157; URS SAXER, Die Grundrechte und die Benutzung
öffentlicher Strassen, Diss. Zürich 1988, S. 249 ff.; vgl. auch BGE 124
I 267 E. 3a S. 268 f.; 109 Ia 208 E. 4a S. 210 f.). Wer zur Ausübung
eines Gewerbes öffentlichen Grund beansprucht, kann sich auf die
Handels- und Gewerbefreiheit berufen; es besteht insoweit ein "bedingter
Anspruch" auf Bewilligung des gesteigerten Gemeingebrauchs (BGE 121 I
279 E. 2a S. 282 mit Hinweisen). Die Verweigerung einer entsprechenden
Bewilligung kann einem Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit
gleichgestellt werden und unterliegt daher bestimmten Schranken: Sie
muss im öffentlichen Interesse notwendig sein, wobei freilich nicht
nur polizeilich motivierte Einschränkungen zulässig sind, auf sachlich
vertretbaren Kriterien beruhen und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit
wahren; die Bewilligung darf zudem die Freiheitsrechte weder allgemein
noch zu Lasten einzelner Bürger aus den Angeln heben (BGE 121 I 279 E. 2a
S. 282; 108 Ia 135 E. 3 S. 137). Kommunale Autonomie kann demnach nur
im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grundsätze bestehen. "Bedingter
Anspruch" bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Behörde im Rahmen
der auf ein Bewilligungsgesuch hin vorzunehmenden Interessenabwägung dem
institutionellen Gehalt der Handels- und Gewerbefreiheit Rechnung trägt
und die Interessen der Beteiligten an der Ausübung ihrer wirtschaftlichen
Tätigkeit angemessen berücksichtigt (vgl. BGE 117 Ib 387 E. 6d S. 395;
nicht veröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 21. November 1995
i.S. Untere Mühle Bottighofen AG, E. 4a). Als öffentliches Interesse
steht die Gewährleistung des möglichst ungestörten Gemeingebrauchs
durch die Allgemeinheit im Vordergrund, bei den privaten Interessen
ist zwischen ideellen und anderen, namentlich kommerziellen Interessen
zu unterscheiden. Bei der Ausübung ideeller Grundrechte ist eine
Beeinträchtigung des Gemeingebrauchs oder anderer öffentlicher Interessen
eher in Kauf zu nehmen als bei sonstigen Aktivitäten. Bei nicht ideellen
Motiven für die Beanspruchung von öffentlichem Grund darf das öffentliche
Interesse am ungestörten Gemeingebrauch stärker veranschlagt werden, und
es widerspricht unter anderem nicht der Handels- und Gewerbefreiheit,
wenn rein kommerzielle weniger stark gewichtet werden als ideelle
Interessen (TOBIAS JAAG, in ZBl 93/1992 S. 158 f.). Ob die Handels- und
Gewerbefreiheit ihre Schutzwirkung überhaupt entfaltet, hängt allerdings
nicht davon ab, ob und wieweit ein Gewerbetreibender jeweils auf die
Benützung des öffentlichen Grundes angewiesen ist. Ist dies nach der
Art des Gewerbes zwingend der Fall, werden seine privaten Interessen bei
der vorzunehmenden Abwägung entsprechend höher zu gewichten sein als etwa
dann, wenn der gewünschte gesteigerte Gemeingebrauch zwar Vorteile bringt,
aber nicht geradezu betriebsnotwendig ist. Das Mass der Notwendigkeit
der Inanspruchnahme des öffentlichen Grundes durch den Betroffenen ist
nicht für den Umfang des Schutzbereiches, sondern für das Ergebnis der
vorzunehmenden Interessenabwägung von Bedeutung.

    Hiervon ausgehend erscheint die Vorschrift der Beschwerdeführerin,
wonach die Verteilung von Werbematerial auf öffentlichem Grund generell
verboten ist (Art. 20 VBöGS), als unverhältnismässige Beschränkung. Damit
ist der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts im Lichte der
Verfassung und namentlich der Handels- und Gewerbefreiheit zu bestätigen
und eine Verletzung der Gemeindeautonomie zu verneinen. Zwar besteht ein
öffentliches Interesse daran, dass möglichst keine Werbeaktionen auf den
Strassen stattfinden, weil sie den Fussgängerverkehr beeinträchtigen und
einen zusätzlichen Reinigungsaufwand verursachen können. Zudem ist ein
Gewerbetreibender auf die Verteilung von Flugblättern und dergleichen
auf öffentlichem Grund normalerweise auch nicht angewiesen. In der Regel
werden derartige Werbematerialien in die Briefkästen verteilt. Gleichwohl
sind besondere Situationen denkbar, wo das Interesse eines einzelnen
Gewerbetreibenden die erwähnten öffentlichen Anliegen überwiegen kann,
z.B. wenn es darum geht, Passanten auf eine in der Nähe stattfindende
Veranstaltung aufmerksam zu machen. Wie vom Verwaltungsgericht
angeordnet, muss daher eine Interessenabwägung vorgenommen und gestützt
hierauf entschieden werden, ob und gegebenenfalls mit welchen Auflagen
eine Bewilligung zu erteilen ist. Dass dies nicht bloss vermehrten
Aufwand erfordert, sondern in der praktischen Handhabung auch gewisse
Probleme bringen mag, entbindet das Gemeinwesen nicht von der Pflicht zu
rechtsstaatlichem Vorgehen; dazu gehört die Beachtung der Grundrechte und,
bei deren Einschränkung, des Verhältnismässigkeitsprinzips.