Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 IV 225



126 IV 225

36. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. September
2000 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 196 StGB; Menschenhandel, Vermittlung von Prostituierten.

    Eine Verurteilung wegen Menschenhandels setzt voraus, dass die
betroffene Person in ihrem sexuellen Selbstbestimmungsrecht verletzt
worden ist (E. 1c).

    Ob die Vermittlung von Prostituierten von einem Etablissement zum
andern deren Selbstbestimmungsrecht verletzt, muss an Hand der konkreten
Umstände beurteilt werden (E. 1d).

Sachverhalt

    M. war zwischen November 1996 und Mai 1997 mehrfach bei der Vermittlung
von Frauen an verschiedene Bordelle behilflich. Teilweise war er nur für
den Transport der Frauen verantwortlich, teilweise vermittelte er die
Frauen in eigener Regie an einzelne Etablissements und forderte dafür
einen Teil des täglichen Dirnenlohns. In zwei Fällen erhielt er für seine
Dienste nachweislich Entschädigungen von Fr. 100.- und Fr. 300.-. Die
vermittelten Frauen besassen keine Aufenthaltsbewilligung.

    Das Obergericht des Kantons Thurgau verurteilte M. am 8. Juli 1999
zweitinstanzlich wegen Tätlichkeit, versuchten Raubs, Sachbeschädigung,
geringfügigen Vermögensdelikts, mehrfachen Menschenhandels,
Anstiftung zu falschem Zeugnis sowie mehrfacher Widerhandlung gegen das
Strassenverkehrsgesetz und gegen das ANAG - zum Teil unter Annahme einer
leicht- bis mittelgradig verminderten Zurechnungsfähigkeit - zu einer
Gefängnisstrafe von zwölf Monaten und Fr. 1'000.- Busse.

    M. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt sinngemäss, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Wer mit Menschen Handel treibt, um der Unzucht eines anderen
Vorschub zu leisten, wird mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter
sechs Monaten bestraft (Art. 196 Abs. 1 StGB).

    a) Die Vorinstanz begründet die Verurteilung wegen Menschenhandels
wie folgt: Unter den Begriff "Handel treiben" falle etwa das Beschaffen
der "Ware", die Übernahme von anderen, der "Transport", die Übergabe
an andere mit Einschluss aller Verhandlungen, die dabei etwa zu führen
seien. Handel "treibe", wer Geschäfte dieser Art wiederholt abschliesse
oder abzuschliessen beabsichtige. In der Lehre sei umstritten, ob nur
ein Handeln gegen den Willen einer wahrheitsgetreu informierten Person
als Angriff auf ein Rechtsgut pönalisiert werden könne. Massgeblich sei
nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern dessen Sinn, der sich namentlich
aus den ihm zu Grunde liegenden Zwecken und Wertungen ergebe, im Wortlaut
jedoch unvollkommen ausgedrückt sein könne. Sinngemässe Auslegung könne
auch zu Lasten des Angeklagten vom Wortlaut abweichen. Die Änderung von
Art. 202 aStGB in Art. 196 StGB habe angesichts der von der Schweiz
ratifizierten Konventionen auf diesem Gebiet möglichst zurückhaltend
erfolgen sollen. Art. 202 aStGB habe, den Konventionstexten entsprechend,
ausser dem Handeltreiben Teilakte solchen Verhaltens wie Anwerben,
Verschleppen oder Entführen genannt. Mit "Anwerben" habe der frühere
Gesetzestext zum Ausdruck gebracht, dass als Opfer dieser Tat nicht
nur Personen zu gelten hätten, die in Bezug auf das Schicksal, das sie
erwartete, ahnungslos gewesen seien. Erfasst worden sei damit auch,
wer Prostituierte angeworben habe, die voll einverstanden gewesen seien,
beispielsweise das Etablissement zu wechseln (BBl 1985 II 1086). Da
die erwähnten Konventionen heute noch anwendbar seien und aus dem
Wortlaut der neuen Bestimmung die von einem Teil der Lehre vertretene
Einschränkung des Schutzbereichs der geschützten Personen nicht hervorgehe,
sei davon auszugehen, dass die betroffenen Personen nicht gegen ihren
Willen vermittelt zu werden brauchten oder nur in Bezug auf die für sie
vorgesehene Tätigkeit als Prostituierte ahnungslos seien.

    Der Beschwerdeführer habe zwischen November 1996 und Mai 1997
mehrfach Frauen an verschiedene Bordelle vermittelt. So habe er, nachdem
er eine Ungarin einer Bordellbetreiberin in R. abgeliefert habe, für seine
Dienste Fr. 100.- erhalten. Ferner habe er eine Ungarin an einen Salon in
K. vermittelt und von deren Dirnenlohn Fr. 300.- erhalten. Im Übrigen könne
offen bleiben, ob der Beschwerdeführer für seine weiteren Vermittlungs-
und Transportdienste - wie er behaupte - kein Geld erhalten habe, sei
doch der Tatbestand des Menschenhandels nicht von der Grössenordnung
der Gegenleistung abhängig. Auch sei erstellt, dass der Beschwerdeführer
sich durch die Vermittlungstätigkeit eine weitere Verdienstquelle habe
erschliessen wollen.

    b) In der Botschaft des Bundesrats über die Änderung
des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 26. Juni 1985 wird zum
Menschenhandel (Art. 196 StGB) unter anderem ausgeführt, Art. 202
Ziff. 1 aStGB nenne, den Konventionstexten entsprechend, ausser dem
Handeltreiben Teilakte solchen Verhaltens (vgl. BGE 96 IV 118 ff.):
Anwerben, Verschleppen, Entführen. Diese Aufzählung entfalle. Was das
Anwerben betreffe, bringe der geltende Gesetzestext ohnehin nicht zum
Ausdruck, dass als Opfer dieser Tat Personen zu gelten hätten, die in
Bezug auf das Schicksal, das sie erwarte, ahnungslos seien. Erfasst werde
damit auch, wer Prostituierte anwerbe, die voll einverstanden seien,
z.B. das Etablissement zu wechseln. Als überflüssig erweise sich das
Anwerben schon deshalb, weil nach Art. 195 Abs. 2 des Entwurfes unter
Strafe gestellt werde, wer um eines Vermögensvorteils willen eine Person
der Prostitution zuführe. Unter den Tatbestand fielen auch Handlungen,
die einer milderen Strafe bedürften als sie das geltende Recht vorsehe:
Statt Zuchthaus schlechthin würden neu Zuchthaus oder Gefängnis nicht
unter sechs Monaten angedroht (BBl 1985 II 1086).

    In der Literatur wird dem überwiegend entgegengehalten, im Blick auf
die Grundgedanken der Revision überzeuge die Darstellung in der Botschaft
nicht, wonach es weiterhin unerheblich sein soll, ob die betroffene Person,
etwa bei der Vermittlung von einem Bordell zum anderen, überhaupt vor
der Prostitution habe geschützt werden wollen. Wenn Prostituierte voll
einverstanden seien, z.B. das Etablissement zu wechseln, werde deren
Selbstbestimmung nicht tangiert. Von Menschenhandel sollte vielmehr,
wie es schon der Begriff nahe lege, nur dort gesprochen werden, wo
über Menschen wie über Objekte verfügt werde, weil sie ahnungslos
oder doch mangelhaft informiert oder aus irgendwelchen Gründen ausser
Stande seien, sich zu wehren (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht,
Besonderer Teil I, 5. Auflage, S. 174 f. N. 18; ebenso JENNY, Kommentar
zum Schweizerischen Strafrecht, Art. 196 N. 4; TRECHSEL, Schweizerisches
Strafrecht, Kurzkommentar, 2. Auflage, Art. 196 N. 1). In Anlehnung an
die Botschaft sieht REHBERG (Strafrecht III, 7. Auflage, S. 413) den
Tatbestand auch dann als erfüllt an, wenn die Betroffenen nicht gegen
ihren Willen vermittelt worden sind.

    c) Beide Räte stimmten der vom Bundesrat vorgeschlagenen Fassung von
Art. 196 StGB diskussionslos zu (AB 1987 S 401 und AB 1990 N 2329). Nach
der Botschaft soll der Tatbestand des Menschenhandels auch erfüllt
sein, wenn der Täter Prostituierte anwirbt, die voll einverstanden sind,
z.B. das Etablissement zu wechseln (BBl 1985 II 1086). Man könnte deshalb
mit REHBERG (aaO) annehmen, dass die Überlegungen in der Botschaft auch
dem Willen des Gesetzgebers entsprechen. Die grundsätzliche Stossrichtung
der Revision des Sexualstrafrechts und die fehlende Diskussion über den
Art. 196 StGB lassen einen derartigen Schluss jedoch nicht zu:

    Leitidee der Revision des Sexualstrafrechts vom 21. Juni 1991 (AS
1992 S. 1670 1678) war die Freiheit und die freie Selbstbestimmung jedes
Menschen in sexuellen Dingen. Durch alle Parteien hindurch stimmten die
Wortmeldungen im Grundsatz darin überein, dass das neue Sexualstrafrecht
nicht da sei, um Moralvorstellungen durchzusetzen, sondern um sexuelle
Ausnützung zu verhindern und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht
einer jeden Person zu schützen (AB 1987 S 356 ff. und AB 1990 N 2252
ff.). Angesichts dieser klaren Übereinstimmung in den eidgenössischen
Räten in Bezug auf die gesamte Revision des Sexualstrafrechts kommt der in
der Botschaft eher beiläufig geäusserten abweichenden Auffassung keine
besondere Bedeutung zu. Dies umso weniger, als auch Bundespräsident
KOLLER "die unbeeinflusste Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung"
als Schutzbereich in den Vordergrund stellte und für keinen Tatbestand,
auch nicht denjenigen des Menschenhandels, eine Ausnahmeregelung auch
nur andeutete (AB 1990 N 2261 ff.). Folglich ist in Übereinstimmung
mit der herrschenden Lehre nur dann auf Menschenhandel zu erkennen,
wenn das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person beeinträchtigt
wird. Diese Lösung drängt sich auch deshalb auf, weil Art. 196 StGB eine
Mindeststrafdrohung von sechs Monaten Gefängnis vorsieht, weshalb dem
Delikt eine gewisse Schwere zukommen muss (vgl. BGE 116 IV 319 E. 3b
mit Hinweisen).

    d) In Anlehnung an STRATENWERTH kann dort von Menschenhandel gesprochen
werden, wo über Menschen wie über Objekte verfügt wird, weil sie ahnungslos
oder doch mangelhaft informiert oder aus irgendwelchen Gründen ausser
Stande sind, sich zu wehren (aaO, S. 174 f. N. 18).

    Diese Umschreibung bedarf im Zusammenhang mit der Vermittlung von
Prostituierten von einem Etablissement in ein anderes der Erörterung. In
der herrschenden Lehre wird die Meinung vertreten, die Selbstbestimmung
von Prostituierten werde nicht tangiert, wenn sie voll einverstanden
seien, z.B. das Etablissement zu wechseln (TRECHSEL, aaO, Art. 196 N
1). Diese Überlegung trifft zu, wenn eine Person aus freien Stücken
der Prostitution nachgeht und dabei für einen Stellenwechsel gleich wie
in anderen Berufszweigen Vermittlungsdienste gegen Entgelt in Anspruch
nimmt. Doch gilt es zu bedenken, dass die Verhältnisse in anderen Berufen
nicht ohne weiteres auf den Berufszweig der Prostitution übertragen werden
können. Prostituierte sind immer wieder der Diskriminierung und Doppelmoral
ausgesetzt, und entsprechend hoch ist ihr Grad an Isolation. Soziale
Kontakte pflegen die Betroffenen vorwiegend zu Leuten, die sich im Umfeld
der Prostitution bewegen. Schon daraus ergeben sich gerade in persönlicher
und finanzieller Hinsicht vielfältige Abhängigkeiten, insbesondere von
Zuhältern, Bordell- und Salonbetreibern (LISCHETTI-GREBER/SÉQUIN/STAMPFLI,
Prostitution, Verein XENIA, Bern 1986, S. 53 f.; BUNDESAMT FÜR POLIZEI,
Szene Schweiz, Drogen - Falschgeld - Menschenhandel - Organisierte
Kriminalität, Lagebericht 1999, S. 55; vgl. auch STUDER/PETER,
Kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in der
Schweiz, arge kipro, März 1999, S. 66 und 78). Ganz besonders gilt dies für
Prostituierte, die sich illegal in der Schweiz aufhalten (HEINZ HELLER,
Schwarzarbeit: Das Recht der Illegalen unter besonderer Berücksichtigung
der Prostitution, Diss. Zürich 1999, S. 135). Da vorwiegend Leute aus
dem Milieu die Vermittlung von Prostituierten bewerkstelligen, werden
dabei diese Abhängigkeitsverhältnisse (vgl. dazu auch die Hinweise
auf andere Entscheide des Bundesgerichts in BGE 126 IV 76 E. 3) erneut
ausgenützt. Deshalb wird in der Regel die Selbstbestimmung der Betroffenen
bei der Vermittlung von einem Etablissement zum andern nicht grösser
sein als bei der Ausübung der Prostitution selbst. Jedenfalls dort, wo
Vermittler und Bordellbetreiber über die Köpfe der Betroffenen hinweg deren
Vermittlung vornehmen oder wo die angesprochenen Abhängigkeitsverhältnisse
der Betroffenen ausgenützt werden, ist keine Selbstbestimmung der
Prostituierten gegeben.

    Ob die Betroffenen im Einzelfall selbstbestimmt gehandelt haben,
muss an Hand der konkreten Umstände beurteilt werden. Wie dargelegt,
darf dabei nicht bloss auf ihr faktisches "Einverständnis" abgestellt
werden, weil die Vermittlung rein formal nicht gegen ihren Willen
erfolgte. Vielmehr ist zu prüfen, ob die Willensäusserung dem tatsächlichen
Willen entsprach. Jedenfalls kann auch bei angeblicher Zustimmung unter
Umständen Menschenhandel vorliegen.

    e) Die Vorinstanz geht davon aus, dass der Tatbestand des
Menschenhandels selbst dann erfüllt sei, wenn die betroffenen Personen
nicht gegen ihren Willen vermittelt worden sind. Diese Auslegung
hält nach dem Gesagten vor Bundesrecht nicht stand. Deshalb ist der
angefochtene Entscheid aufzuheben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Diese wird im Rahmen der Anklage oder allenfalls nach
einer Anklageergänzung tatsächliche Feststellungen darüber zu treffen
haben, ob und inwiefern der Beschwerdeführer durch sein Vermitteln das
Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Frauen beeinträchtigt hat, um dann
auf der dargestellten rechtlichen Grundlage zu entscheiden, ob sich der
Beschwerdeführer des Menschenhandels schuldig gemacht hat oder ob er von
diesem Vorwurf freizusprechen ist.