Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 IV 192



126 IV 192

30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. August 2000 i. S. S.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 35 Abs. 1, Art. 44 Abs. 1 und Art. 90 Ziff. 2 SVG; Art.  8 Abs. 3
und Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV; Rechtsüberholen auf der Autobahn; grobe
Verletzung von Verkehrsregeln.

    Der Tatbestand des Rechtsüberholens kann auch eventual-vorsätzlich
erfüllt werden (E. 2c).

    Grobe Verletzung von Verkehrsregeln bejaht bei einem Lenker, der bei
dichtem Feierabendverkehr zwei Fahrzeuge rechts überholt hat (E. 3).

Sachverhalt

    S. fuhr am 2. Juni 1999 um 16.30 Uhr auf der Autobahn A 1,
Fahrtrichtung Bern, mit seinem Personenwagen "Porsche 911" zunächst auf dem
Überholstreifen, schloss auf der Höhe Neuenhof auf einen schwarzen "Alfa"
auf, bog dann rechts auf den Normalstreifen aus, fuhr an insgesamt zwei
Fahrzeugen vorbei und schwenkte anschliessend wieder auf die Überholspur
zurück.

    Das Bezirksamt Baden verurteilte S. mit Strafbefehl vom 21. Juli
1999 wegen Rechtsüberholens auf der Autobahn durch Ausschwenken
und Wiedereinbiegen in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 des
Strassenverkehrsgesetzes (SVG; SR 741.01) zu einer Busse von Fr. 400.-.

    Auf Einsprache der Staatsanwaltschaft hin erliess das Bezirksamt
Baden am 9. August 1999 gestützt auf denselben Sachverhalt, neu aber in
Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG einen neuen Strafbefehl, wiederum mit
einer Busse von Fr. 400.-.

    Auf Einsprache von S. hin verurteilte ihn das Bezirksgericht Baden
am 11. November 1999 wegen unerlaubten Rechtsüberholens auf der Autobahn
in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 300.-.

    Gegen dieses Urteil erhoben sowohl die Staatsanwaltschaft wie auch S.
Berufung. Das Obergericht des Kantons Aargau wies mit Urteil vom 5. Juni
2000 die Berufung von S. ab und hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft
gut. S. wurde wegen unerlaubten Rechtsüberholens auf der Autobahn in
Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG schuldig gesprochen und mit einer
Busse von Fr. 400.- bestraft.

    S. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichtes aufzuheben.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, beim Fahren in parallelen
Kolonnen sei das Ausschwenken von der linken Fahrspur (Überholspur)
auf die rechte Fahrspur (Normalspur) und das Einbiegen von der rechten
Fahrspur auf die linke Fahrspur für sich allein ebenso zulässig, wie
es erlaubt sei, auf der rechten Fahrspur an Fahrzeugen vorbeizufahren,
welche sich auf der linken Fahrspur befinden. Für die Konstellation des
Fahrens in parallelen Kolonnen hätte man ein Kriterium finden müssen, um
zu unterscheiden zwischen der Kombination von erlaubtem Spurwechsel mit
erlaubtem Rechtsvorbeifahren einerseits und unerlaubtem Rechtsüberholen
andererseits. In BGE 115 IV 244 E. 3b sei diese Frage ausführlich
erörtert und festgehalten, unerlaubtes Rechtsüberholen liege dann vor,
wenn das Ausschwenken, Vorbeifahren an einem oder wenigen Fahrzeugen und
das anschliessende Wiedereinbiegen in einem Zuge erfolge; dies treffe
vor allem dort zu, wo ein Fahrzeuglenker die Lücken in den parallelen
Kolonnen so ausnütze, dass er nur um zu überholen kurz auf der rechten
Fahrbahn fahre und gleich wieder nach links einbiege. Das Ausschwenken,
Vorbeifahren an einem oder wenigen Fahrzeugen und das anschliessende
Wiedereinbiegen in einem Zuge und das Ausnützen der Lücken in den
parallelen Kolonnen in dem Sinne, dass der Fahrzeuglenker nur um zu
überholen kurz auf der rechten Fahrbahn fahre und gleich wieder nach links
einbiege, setze direkten Vorsatz voraus. Begrifflich sei insbesondere
ausgeschlossen, dass ein Fahrzeuglenker eventualvorsätzlich nur um
zu überholen in einem Zuge ausschwenkt, rechts an anderen Fahrzeugen
vorbeifährt und wieder einschwenkt. Das angefochtene Urteil gehe -
mit dem erstinstanzlichen Urteil - davon aus, der Beschwerdeführer habe
eventualvorsätzlich gehandelt. Da dies nach dem Gesagten für die Erfüllung
des Tatbestandes des Rechtsüberholens in parallelen Kolonnen nicht genüge,
habe die Vorinstanz mit ihrer Verurteilung Bundesrecht verletzt.

    Für den Fall, dass seine Beschwerde in diesem Punkt nicht begründet
sei, macht der Beschwerdeführer geltend, die Anwendung von Art. 90 Ziff. 2
statt von Art. 90 Ziff. 1 SVG auf den von der Vorinstanz festgestellten
Sachverhalt verletze Bundesrecht.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 35 Abs. 1 SVG ist links zu überholen, woraus
ein Verbot des Rechtsüberholens folgt. Ein Überholen liegt nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug ein
in gleicher Richtung langsamer vorausfahrendes einholt, an ihm vorbeifährt
und vor ihm die Fahrt fortsetzt, wobei weder das Ausschwenken noch das
Wiedereinbiegen eine notwendige Voraussetzung des Überholens bildet
(BGE 115 IV 244 E. 2, 114 IV 55 E. 1 mit Hinweisen).

    Eine Ausnahme vom Verbot des Rechtsüberholens sieht Art. 8 Abs. 3 Satz
1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11)
allgemein und Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV besonders auf Autobahnen "beim
Fahren in parallelen Kolonnen" vor, jedoch lediglich in der Weise, dass
bloss das Rechtsvorbeifahren an anderen Fahrzeugen gestattet ist. Das
Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen ist gemäss Art. 8
Abs. 3 Satz 2 VRV ausdrücklich untersagt. Ein Ausschwenken für sich allein
oder ein Einbiegen für sich allein sind hingegen gemäss Art. 44 Abs. 1
SVG wiederum gestattet; danach darf der Führer auf Strassen, die für den
Verkehr in gleicher Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind,
seinen Streifen verlassen, allerdings nur, wenn er dadurch den übrigen
Verkehr nicht gefährdet (BGE 115 IV 244 E. 2). Beim Fahren in parallelen
Kolonnen auf Autobahnen darf deshalb in keinem Falle durch Ausschwenken
und Wiedereinbiegen rechts überholt werden. Blosses Rechtsvorbeifahren
an anderen Fahrzeugen unter Wechsel des Fahrstreifens, wenn dies ohne
Behinderung des übrigen Verkehrs möglich ist, ist hingegen gestattet
(BGE 115 IV 244 E. 3).

    Nicht blosses Vorbeifahren, sondern ein Überholen durch Ausschwenken
nach rechts und Wiedereinbiegen nach links liegt jedenfalls dann vor, wenn
das Ausschwenken, das Vorbeifahren an einem oder bloss wenigen Fahrzeugen
und das anschliessende Wiedereinbiegen in einem Zuge erfolgten; also etwa
dann, wenn ein Fahrzeuglenker die Lücken in den parallelen Kolonnen so
ausnützt, dass er nur um zu überholen kurz auf der rechten Fahrbahn fährt
und gleich wieder nach links einbiegt (BGE 115 IV 244 E. 3b).

    b) Der Beschwerdeführer fuhr auf dem Überholstreifen, schloss
auf ein anderes Auto auf, bog rechts auf den Normalstreifen aus, fuhr
an insgesamt zwei Fahrzeugen vorbei und schwenkte anschliessend auf
die Überholspur zurück. Objektiv sind damit die Voraussetzungen des
verbotenen Rechtsüberholens auf der Autobahn offensichtlich gegeben,
was im Übrigen auch der Beschwerdeführer nicht in Abrede stellt.

    c) Neu und vom Bundesgericht bisher nicht entschieden ist die vom
Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, ob die Durchführung des verbotenen
Manövers "in einem Zuge" nur mit direktem Vorsatz begangen werden kann.

    Der Straftatbestand der qualifizierten Verkehrsregelverletzung gemäss
Art. 90 Ziff. 2 SVG kann grundsätzlich auch fahrlässig begangen werden
(BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation routière, Kommentar,
3. Aufl., Lausanne 1996, Art. 90 N. 4.3 mit Hinweisen). Schon deshalb
kommt für die Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG grundsätzlich auch dolus
eventualis in Betracht.

    Es besteht kein Anlass, von diesen Regeln abzuweichen beim hier
in Frage stehenden verbotenen Rechtsüberholen und insbesondere für die
Frage, ob ein Fahrzeuglenker das verbotene Ausschwenken, Vorbeifahren
und anschliessende Wiedereinbiegen in einem Zuge vorgenommen hat. Ob
ein derartiges Manöver in einem Zuge geschehen ist, beurteilt
sich nach objektiven Kriterien. Das Bezirksgericht hat gestützt
auf die Zeugenaussagen des Polizeibeamten festgestellt, dass der
Beschwerdeführer im Vorfeld des umstrittenen Manövers auffällig die
Fahrspuren gewechselt habe. Der "Porsche" sei "pressant unterwegs"
gewesen. Im Ermittlungsverfahren habe der Zeuge angegeben, dass es
"den Anschein machte, als würde der Angeklagte verschiedene Fahrzeuge
rechts überholen". Das Bezirksgericht kommt einerseits auf Grund der
vorangegangenen Fahrweise und andererseits zufolge des Manövers, welches
zur Verurteilung des Lenkers führte (in einem Zug ausscheren, vorbeiziehen
und wieder einschwenken), zum Schluss, der Beschwerdeführer habe verbotenes
Rechtsüberholen jedenfalls in Kauf genommen. Sowohl der Schluss des
Bezirksgerichtes, dass gestützt auf diese Vorsatz-Indizien auf dolus
eventualis geschlossen werden kann, wie auch die Auffassung, dass dolus
eventualis unter solchen Umständen für die Erfüllung des Tatbestandes
genügt, verletzt kein Bundesrecht. Dasselbe gilt für das Urteil der
Vorinstanz, die insoweit teilweise implizit dem Bezirksgericht folgt.

Erwägung 3

    3.- Es bleibt zu prüfen, ob die Vorinstanz durch die Anwendung
von Art. 90 Ziff. 2 SVG Bundesrecht verletzt hat. Die einfache
Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder Busse
bestraft. Demgegenüber wird, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln
eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf
nimmt, nach Art. 90 Ziff. 2 SVG mit Gefängnis oder mit Busse bestraft. Die
grobe Verkehrsregelverletzung ist also ein Vergehen und führt auch zu
einem Führerausweisentzug (BGE 120 Ib 285). Art. 90 Ziff. 2 SVG ist
objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in
objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit abstrakt
oder konkret gefährdet. Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter
aufgrund eines rücksichtslosen oder sonst wie schwerwiegend regelwidrigen
Verhaltens zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (BGE 118
IV 84 E. 2a mit Hinweisen).

    Das Verbot des Rechtsüberholens ist eine für die Verkehrssicherheit
objektiv wichtige Vorschrift, deren Missachtung eine erhebliche Gefährdung
der Verkehrssicherheit mit beträchtlicher Unfallgefahr nach sich zieht
und daher objektiv schwer wiegt (vgl. BGE 95 IV 84 E. 3). Wer auf
der Autobahn fährt, muss sich darauf verlassen können, dass er nicht
plötzlich rechts überholt wird. Das Rechtsüberholen auf der Autobahn,
wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden, stellt eine erhöht abstrakte
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer dar.

    Für den vorliegenden Fall hat die Vorinstanz Folgendes festgestellt:
Zur fraglichen Zeit herrschte Kolonnenverkehr; die Fahrzeuge fuhren
mit reduzierter Geschwindigkeit. Ein eigentlicher Stau habe sich nicht
gebildet; es habe sich um den üblichen Baregg-Verkehr gegen Feierabend
gehandelt. Die Vorinstanz kommt zum Schluss, der Beschwerdeführer habe
durch seine Fahrweise eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer
geschaffen. Zwar sei nicht mit den hohen Geschwindigkeiten gefahren worden,
welche auf Autobahnen sonst üblich seien. Die verminderte Geschwindigkeit
sei aber nicht auf eine entsprechende Signalisation zurückzuführen
gewesen, sondern auf ein erhöhtes Fahraufkommen. Eine solche Situation
erfordere von allen Verkehrsteilnehmern eine erhöhte Disziplin, vermehrte
Aufmerksamkeit sowie Rücksichtnahme. Es sei allgemein bekannt, dass es sich
bei den Automobilisten, die sich gegen Abend auf der Strasse befinden, in
der Regel um solche handle, welche auf dem Heimweg seien, bereits einen
Arbeitstag hinter sich hätten und entsprechend in ihrer Konzentration
eingeschränkt seien. Das Überholmanöver des Beschwerdeführers sei unter
solchen Umständen speziell geeignet gewesen, andere Verkehrsteilnehmer
zu gefährlichen Fehlreaktionen zu veranlassen (etwa brüskes Bremsen, wenn
sie überraschend rechts überholt würden; oder unvermitteltes Ausweichen,
wenn sie selber gerade dazu ansetzen wollten, auf die rechte Spur zu
wechseln). Dadurch hätte eine ganze Gefahrenkette ausgelöst werden können.

    Derartige Gesichtspunkte haben das Bundesgericht in BGE 123 IV 88
E. 3b veranlasst, eine grobe Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Ziff. 2
SVG anzunehmen. Zutreffend bemerkt die Vorinstanz, dass bei dichtem
Feierabendverkehr ein Rechtsüberholmanöver leicht zu einer Massenkollision
mit unabsehbaren Folgen führen kann.

    Die Annahme einer qualifizierten Verkehrsregelverletzung nach Art. 90
Ziff. 2 SVG verletzt damit kein Bundesrecht.