Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 IV 131



126 IV 131

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Mai 2000 in Sachen X.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 217 Abs. 1 StGB; Vernachlässigung von Unterhaltspflichten,
Pflicht des Schuldners zur hinreichenden wirtschaftlichen Nutzung seiner
Arbeitskraft.

    Zumutbarkeit des Wechsels in eine unselbständige Erwerbstätigkeit
bejaht bei einem Schuldner, der als selbständig Erwerbender in einem
ungünstigen Markt tätig war und als unselbständig Erwerbender wesentlich
mehr hätte verdienen können (E. 3).

Sachverhalt

    Am 8. Dezember 1994 schied das Bezirksgericht Baden die Ehe X. Es
stellte die Kinder Y. und Z. unter die elterliche Gewalt der Mutter
und verpflichtete X. zu folgenden monatlich vorschüssig zu leistenden
Unterhaltszahlungen:

    - je Fr. 450.- bis zum vollendeten 6. Altersjahr,

    - je Fr. 500.- ab dem 7. bis zum vollendeten 12. Altersjahr,

    - je Fr. 600.- ab dem 13. Altersjahr bis zum Erreichen der

    wirtschaftlichen Selbständigkeit, längstens jedoch bis zur

    Mündigkeit.

    Seit April 1995 erfüllte X. die Unterhaltspflicht nicht. Am 6. August
1998 erstattete die Gemeinde, welche die Unterhaltszahlungen bevorschusst
hatte, Strafanzeige.

    Am 20. April 1999 verurteilte das Bezirksgericht Baden X. wegen
Vernachlässigung von Unterhaltspflichten zu 4 Wochen Gefängnis, bedingt
bei einer Probezeit von 3 Jahren.

    Die von X. dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons
Aargau am 30. September 1999 ab.

    X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichtes aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung
an dieses zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                   Aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 217 StGB wird, auf Antrag, mit Gefängnis bestraft,
wer seine familienrechtlichen Unterhalts- oder Unterstützungspflichten
nicht erfüllt, obschon er über die Mittel dazu verfügt oder verfügen könnte
(Abs. 1). Das Antragsrecht steht auch den von den Kantonen bezeichneten
Behörden und Stellen zu. Es ist unter Wahrung der Interessen der Familie
auszuüben (Abs. 2).

    Die Teilrevision des Strafgesetzbuches von 1989 hat Art. 217 StGB neu
gefasst und vereinfacht. Eine sachliche Änderung war damit nicht bezweckt
(GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II,
4. Aufl., Bern 1995, § 26 N. 21).

    a) Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von 3 Monaten (Art. 29
StGB). Die Antragsfrist beginnt, sobald dem Antragsberechtigten Täter und
Tat, d.h. deren Tatbestandselemente, bekannt sind; erforderlich ist dabei
eine sichere, zuverlässige Kenntnis, die ein Vorgehen gegen den Täter als
aussichtsreich erscheinen lässt. Wenn der Pflichtige während einer gewissen
Zeit ohne Unterbrechung schuldhaft die Zahlung der Unterhaltsbeiträge
unterlässt, beginnt nach der Rechtsprechung die Antragsfrist erst mit
der letzten schuldhaften Unterlassung zu laufen. Der Antrag ist gültig
für den Zeitraum, in dem der Täter ohne Unterbrechung den Tatbestand
erfüllt hat. Der Strafantragsberechtigte darf also mit der Stellung
des Strafantrages - auch wenn er ihn schon vor Beginn des Fristenlaufs
stellen kann - solange unbeschadet zuwarten, als der Unterhaltspflichtige
schuldhaft die geschuldeten Unterhaltsbeiträge nicht bezahlt. Bei mehreren
monatlich geschuldeten Unterhaltsbeiträgen, die während einer bestimmten
Zeitspanne nicht geleistet wurden, beginnt somit die Strafantragsfrist
beispielsweise erst dann, wenn der Pflichtige wieder mit Zahlungen beginnt,
oder dann, wenn er mangels Leistungsfähigkeit seiner Zahlungspflicht
nicht nachkommen kann. Dies gilt entsprechend dem Sinn und Zweck von
Art. 29 StGB jedoch nur, wenn der Antragsberechtigte vom Unterbruch in
der schuldhaften Vernachlässigung der Unterhaltspflicht Kenntnis hatte
oder zumindest haben konnte, wenn er also wusste oder zumindest wissen
konnte, dass der Unterhaltspflichtige die geschuldeten Unterhaltsbeiträge
schuldlos, etwa wegen Arbeitsunfähigkeit, nicht erbringen konnte. Dafür
genügen - im Unterschied zur sicheren, zuverlässigen Kenntnis von Tat und
Täter bei der gewöhnlichen Fristauslösung - bereits konkrete Anhaltspunkte
(BGE 121 IV 272 E. 2a mit Hinweisen).

    b) Der Beschwerdeführer setzt sich nicht mit dieser Rechtsprechung
auseinander. Auf diese durfte sich die antragstellende Gemeinde
verlassen. Ein Rechtsmissbrauch kann der Gemeinde nicht vorgeworfen werden,
wenn sie mit der Stellung des Antrages bis zum August 1998 zugewartet
hat. Dass die Gemeinde auf den Antrag verzichtet hätte, macht der
Beschwerdeführer nicht geltend und ist nicht ersichtlich. Was er vorbringt,
ist nicht geeignet, eine Änderung der Rechtsprechung herbeizuführen. Der
Beschwerdeführer ist unstreitig seit April 1995 seiner Unterhaltspflicht
nicht nachgekommen. Sofern er ununterbrochen schuldhaft nicht geleistet
hat (dazu unten E. 3), erfasst der Strafantrag sämtliche Unterlassungen
bis zum April 1995.

Erwägung 3

    3.- a) Die Bestrafung nach Art. 217 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass
der Täter über die Mittel zur Erfüllung der Unterhaltspflicht verfügt
oder verfügen könnte.

    Damit wird auch erfasst, wer zwar einerseits nicht über ausreichende
Mittel zur Pflichterfüllung verfügt, es anderseits aber unterlässt, ihm
offen stehende und zumutbare Möglichkeiten zum Geldverdienen zu ergreifen
(Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und
des Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1055).

    aa) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss der
Unterhaltspflichtige in einem Umfang einer entgeltlichen Tätigkeit
nachgehen, dass er seine Unterhaltspflichten erfüllen kann. Gegebenenfalls
muss er sogar seine Stelle oder seinen Beruf wechseln, wobei diese
Pflicht durch den generellen Gesichtspunkt der Zumutbarkeit begrenzt
ist. So wird man etwa bei einem Feinmechaniker oder einem Pianisten
kaum verlangen können, dass er eine berufsfremde Tätigkeit mit schwerer
körperlicher Belastung übernimmt, wenn dadurch etwa das Feingefühl seiner
Hände und damit die Möglichkeit, später wieder im angestammten Beruf zu
arbeiten, beeinträchtigt würde. Das Recht auf freie berufliche Tätigkeit
wird beschränkt durch die Pflicht des Unterhaltspflichtigen, für seine
Familie aufzukommen. Die Betätigungsfreiheit entbindet einen Künstler
nicht von der Pflicht, neben einer künstlerischen Tätigkeit, die seinen
eigenen Notbedarf nur ungenügend deckt, in dem Umfang einer ihm zumutbaren
entgeltlichen Tätigkeit nachzugehen, dass er seine familienrechtlichen
Verpflichtungen erfüllen kann (BGE 114 IV 124).

    bb) In der kantonalen Rechtsprechung ist die Strafbarkeit nach Art. 217
StGB bejaht worden bei Tätern, die einer uneinträglichen selbständigen
Tätigkeit nachgegangen sind und es unterlassen haben, durch eine
anderweitige, gegebenenfalls unselbständige Tätigkeit ein hinreichendes
Einkommen zu erzielen (BJM 1983 S. 86 ff. [Appellationsgericht
Basel-Stadt]; SJZ 82/1986 S. 212 f. [Kantonsgericht Schwyz]).

    cc) Wie im Schrifttum dargelegt wird, kann sich der
Unterhaltspflichtige auch dadurch strafbar machen, dass er aus
eigenem Entschluss darauf verzichtet, seine Arbeitskraft im Rahmen des
Zumutbaren optimal ökonomisch zu nutzen (STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches
Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Art. 217 N. 13
mit Hinweisen). Art. 217 StGB verlange vom Schuldner unter Strafdrohung,
dass er alles mache, was von ihm vernünftigerweise erwartet werden könne,
um sich hinreichende Einnahmen zu verschaffen. Man müsse sich fragen,
ob der Schuldner unter anderem eine andere einträglichere Tätigkeit hätte
ausüben können (BERNARD CORBOZ, Les principales infractions, Bern 1997,
S. 294 f. N. 26 ff.). Alimentenschuldner seien generell verpflichtet,
sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten das notwendige Geld zur Erfüllung der
Unterhaltsbeiträge zu beschaffen (sog. "Anspannungspflicht"). Sie müssten
die ihnen zumutbaren Bemühungen unternehmen, um ausreichende finanzielle
Mittel zu erlangen. Dies bedeute, dass der Unterhaltspflichtige gewisse
Einschränkungen seiner Lebensführung auf sich nehmen müsse, wenn er
dadurch in die Lage komme, überhaupt oder wesentlich höhere Einkünfte
zu erzielen. Insoweit sei das Recht auf eine freie Berufswahl und
Selbstverwirklichung beschränkt. Wo die Grenze genau liege, lasse sich
angesichts der vielfältigen familiären und sozialen Verhältnisse kaum
allgemein formulieren; sie sei fliessend und werde in der Praxis von
Fall zu Fall bestimmt. Allenfalls sei eine berufsfremde Beschäftigung
oder ein Wechsel der bisherigen Tätigkeit erforderlich. Von praktischer
Bedeutung sei hier beispielsweise die Pflicht eines Wechsels der
Arbeitsstelle. Ebenso sei ein selbständig Erwerbstätiger, dessen Geschäft
nicht (mehr) lebensfähig sei, verpflichtet, eine unselbständige Tätigkeit
aufzunehmen. Von Bedeutung sei, wie gross die Chancen eines Mehrverdienstes
bei einem Berufswechsel seien. Der Wechsel einer Arbeitsstelle oder gar
die Aufnahme einer berufsfremden Beschäftigung sei nur dann zumutbar,
wenn ernsthaft mit einem Mehrverdienst zu rechnen sei (PETER ALBRECHT,
Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, 4. Band, Bern 1997, Art. 217
N. 58 ff. mit Hinweisen).

    dd) Auch in Deutschland, wo in § 170 b dStGB (Verletzung der
Unterhaltspflicht) eine mit Art. 217 StGB vergleichbare Strafbestimmung
besteht, entspricht es allgemeiner Auffassung, dass der Unterhaltsschuldner
verpflichtet sein kann, den Arbeitsplatz, gegebenenfalls auch den
Wohnort, oder den Beruf zu wechseln. Dem selbständig Erwerbstätigen,
dessen Existenz sich als wirtschaftlich unzulänglich erweist, sei unter
Umständen zuzumuten, eine Arbeit in abhängiger Stellung anzunehmen
(DIPPEL, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., 4. Band, 1988, § 170 b N. 45;
SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER, Kommentar, 25. Aufl., 1997, § 170 b N. 21,
je mit Hinweisen).

    b) Wann vom Schuldner die Aufnahme einer anderen Erwerbstätigkeit
verlangt werden kann, kann nicht allgemein gesagt werden; es kommt auf
die Umstände des Einzelfalles an.

    Im hier zu beurteilenden Fall spielen folgende G-esichtspunkte eine
Rolle: Es geht nicht um die Aufnahme einer berufsfremden Tätigkeit. Der
Beschwerdeführer hätte weiterhin im erlernten Beruf tätig bleiben
können. Verlangt wird lediglich der Wechsel von einer selbständigen
zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit. Das geht weniger weit als
die Aufnahme einer berufsfremden Tätigkeit und ist eher zumutbar. Der
Beschwerdeführer verdiente durch seine selbständige Tätigkeit nach seiner
Aussage vom Juli 1997 Fr. 3'000.-, nach seiner Aussage vom September
1998 rund Fr. 1'800.- monatlich. Nach den Darlegungen im angefochtenen
Urteil hätte er bei unselbständiger Arbeit ein Einkommen von Fr. 4'500.-
bis Fr. 6'000.- pro Monat erzielen können. Dass dies unzutreffend sei,
macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist nicht ersichtlich. Dieser
erhebliche Einkommensunterschied spricht für die Zumutbarkeit des Wechsels
in die unselbständige Erwerbstätigkeit. Je höher die Verdienstmöglichkeiten
bei unselbständiger im Vergleich zur selbständigen Erwerbstätigkeit sind,
desto eher ist der Wechsel zumutbar. Für die Frage der Zumutbarkeit
der Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit ist überdies von
Bedeutung, wie sich die Marktlage bei selbständiger Tätigkeit darstellt. Je
erfolgversprechender der Markt ist, in dem der selbständig Erwerbende
tätig ist, desto weniger ist es ihm zumutbar, die selbständige Tätigkeit
aufzugeben. Das gilt auch umgekehrt. Wie der Beschwerdeführer in der
Beschwerde selber darlegt, nahm er seine selbständige Tätigkeit in der
"besonders flauen Baubranche" auf. Da die Marktlage somit ungünstig
war, war ihm der Wechsel in eine unselbständige Erwerbstätigkeit auch
unter diesem Gesichtspunkt zumutbar. Zwar bringt der Beschwerdeführer
zutreffend vor, dass dem selbständig Erwerbenden eine gewisse Zeit zum
Aufbau seines Geschäftes einzuräumen ist. Diese Zeit darf aber im Interesse
der Unterhaltsberechtigten nicht zu lange bemessen werden. Namentlich kann
sich der selbständig Erwerbende insoweit nicht - wie der Beschwerdeführer -
darauf berufen, dass der Markt, in dem er tätig ist, ungünstig ist. Verhält
es sich so, hat der selbständig Erwerbende umso mehr Grund, eine
unselbständige Tätigkeit aufzunehmen. Das Geschäft des Beschwerdeführers
hat nach zwei Jahren noch keinen hinreichenden Ertrag abgeworfen. Wenn
die Vorinstanz annimmt, dass der Beschwerdeführer spätestens nach zwei
Jahren eine unselbständige Arbeit hätte annehmen müssen, ist das unter den
Umständen des vorliegenden Falles nicht unverhältnismässig und verletzt
kein Bundesrecht. Der Beschwerdeführer hat seine Unterhaltspflichten
somit seit April 1995 ununterbrochen schuldhaft nicht erfüllt.