Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 II 361



126 II 361

39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. Juli 2000 i. S.
Bundesamt für Strassen gegen X. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 14 Abs. 2 lit. c, Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1bis SVG;
Art. 30 Abs. 1 VZV; Sicherungsentzug des Führerausweises, Trunksucht,
Abklärung der Fahreignung bei Rückfall mit hoher Blutalkoholkonzentration.

    Fall eines Lenkers, der mit mindestens 1,74 Promille gefahren und ein
Jahr später mit mindestens 1,79 Promille rückfällig geworden ist. Pflicht
zur medizinischen Abklärung einer allfälligen Trunksucht bejaht (E. 3c).

Sachverhalt

    X., geboren 1957, besitzt den Führerausweis der Kategorie B seit 1980.

    Am 5. Januar 1997, um ca. 03.15 Uhr, lenkte X. seinen Personenwagen
mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,74 Promille. Das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen (im Folgenden:
Strassenverkehrsamt) entzog ihm deshalb den Führerausweis für die Dauer
von 6 Monaten. Dieser Entzug war am 5. Juli 1997 vollzogen.

    Am 6. Januar 1998, um ca. 23.50 Uhr, kam X. mit seinem
Personenwagen von der Fahrbahn ab. Die angeordnete Blutprobe ergab eine
Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,79 Promille.

    Wegen dieses neuen Vorfalles entzog das Strassenverkehrsamt X. am
26. Juli 1999 den Führerausweis in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 lit. b
i.V.m. Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG (SR 741.01) für die Dauer von 21 Monaten.

    In teilweiser Gutheissung des von X. dagegen erhobenen Rekurses
reduzierte die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am
5. April 2000 die Dauer des Entzuges auf 17 Monate.

    Das Bundesamt für Strassen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Antrag, den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission aufzuheben;
die Sache sei an das Strassenverkehrsamt zur medizinischen Abklärung der
Eignung von X. zum Führen von Motorfahrzeugen im Sinne von Art. 14 Abs. 2
lit. c SVG zurückzuweisen mit der Auflage, dass das Strassenverkehrsamt
von Amtes wegen die Notwendigkeit einer vorsorglichen Massnahme prüfe;
sollte die medizinische Abklärung ergeben, dass bei X. kein Eignungsmangel
vorliegt, sei das Strassenverkehrsamt anzuweisen, gemäss dem Entscheid
der Verwaltungsrekurskommission einen Warnungsentzug für die Dauer von 17
Monaten anzuordnen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdeführer bringt vor, nach der im Schrifttum
vertretenen Auffassung ergebe sich ein konkreter und erheblicher Verdacht
auf eine verkehrsmedizinisch relevante Alkoholproblematik unter anderem
bei einem zweiten FIAZ-Ereignis innerhalb von fünf Jahren mit einer
Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,6 Promille. Der Beschwerdegegner
sei ein halbes Jahr nach der Wiederaushändigung des Führerausweises mit
einer Blutalkoholkonzentration von 1,79 Promille rückfällig geworden. Schon
bei der ersten Trunkenheitsfahrt sei die Blutalkoholkonzentration
mit 1,74 Promille erheblich gewesen. Die beiden hohen BAK-Werte und
der Umstand, dass die beiden FIAZ-Ereignisse kurze Zeit nacheinander
erfolgt seien, stellten erhebliche Indizien für eine Trunksucht im
Sinne des Strassenverkehrsgesetzes dar. Indem die Vorinstanz lediglich
die Dauer des Führerausweisentzuges von 21 auf 17 Monate herabgesetzt
und auf die Anordnung einer medizinischen Abklärung der Fahreignung des
Beschwerdegegners verzichtet habe, habe sie Bundesrecht verletzt.

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 14 Abs. 2 lit. c SVG darf der Führerausweis
nicht erteilt werden, wenn der Bewerber dem Trunke oder anderen die
Fahrfähigkeit herabsetzenden Süchten ergeben ist. Wird nachträglich
festgestellt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht
oder nicht mehr bestehen, ist der Führerausweis nach Art. 16 Abs. 1 SVG
zu entziehen. Ein solcher Sicherungsentzug dient gemäss Art. 30 Abs. 1
der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und
Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51) der Sicherung des Verkehrs
vor Führern, die aus medizinischen oder charakterlichen Gründen, wegen
Trunksucht oder anderen Süchten oder wegen einer anderen Unfähigkeit zum
Führen von Motorfahrzeugen nicht geeignet sind. In solchen Fällen wird der
Führerausweis gemäss Art. 17 Abs. 1bis SVG auf unbestimmte Zeit entzogen.

    Voraussetzung für den Sicherungsentzug gemäss Art. 14 Abs. 2 lit. c
i.V.m. Art. 17 Abs. 1bis SVG ist das Vorliegen einer Sucht. Trunksucht
ist nach der Rechtsprechung gegeben, wenn der Betreffende regelmässig so
viel Alkohol konsumiert, dass seine Fahrfähigkeit vermindert wird und er
diese Neigung zum übermässigen Alkoholgenuss durch den eigenen Willen
nicht zu überwinden vermag. Der Sicherungsentzug wegen Trunksucht
oder anderer Suchtkrankheiten wird gemäss Art. 17 Abs. 1bis SVG auf
unbestimmte Zeit angeordnet und mit einer Probezeit von mindestens einem
Jahr verbunden. Nach Ablauf der Probezeit kann der Ausweis bedingt
und unter angemessenen Auflagen wieder erteilt werden; in der Regel
wird hierfür der Nachweis der Heilung durch eine mindestens einjährige
kontrollierte Abstinenz verlangt. Der Sicherungsentzug greift damit tief in
den Persönlichkeitsbereich des Betroffenen ein. Nach der Rechtsprechung ist
daher eine genaue Abklärung der persönlichen Verhältnisse und insbesondere
der Trinkgewohnheiten des Betroffenen in jedem Fall und von Amtes wegen
vorzunehmen. Das Ausmass der notwendigen behördlichen Nachforschungen,
namentlich die Frage, ob ein medizinisches Gutachten eingeholt werden
soll, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles und liegt im
pflichtgemässen Ermessen der Entzugsbehörde. Bei Drogensucht ist die
Entzugsbehörde in aller Regel verpflichtet, ein gerichtsmedizinisches
Gutachten einzuholen; der Verzicht auf eine spezialärztliche Begutachtung
wird nur ausnahmsweise, etwa in Fällen offensichtlicher, schwerer
Drogenabhängigkeit, gerechtfertigt sein (BGE 126 II 185 E. 2a mit
Hinweisen; vgl. auch KARL HARTMANN, Der Sicherungsentzug in der neuen
bundesgerichtlichen Rechtsprechung, Collezione Assista, Genf 1998, S. 259).

    Wie das Bundesgericht in BGE 126 II 185 entschieden hat,
sind Personen, die während der letzten fünf Jahre vor der aktuellen
Trunkenheitsfahrt keine einschlägige Widerhandlung begangen haben, einer
Fahreignungsuntersuchung zu unterziehen, wenn die Blutalkoholkonzentration
2,5 und mehr Promille beträgt. Personen mit einer so hohen
Blutalkoholkonzentration verfügen über eine sehr hohe Alkoholtoleranz,
die in aller Regel auf eine Alkoholabhängigkeit hinweist (E. 2e).

    b) Im Schrifttum wird ausgeführt, es könne davon ausgegangen
werden, dass bei Personen, die im Strassenverkehr mit 1,6 Promille
und mehr auffällig werden, eine Missbrauchstoleranz oder auch robuste
Alkoholgewöhnung vorliege, die nur durch chronischen, die Persönlichkeit,
die soziale Umwelt und die Gesundheit belastenden Alkoholmissbrauch
erworben werden könne (EGON STEPHAN, Trunkenheitsdelikte im Verkehr:
Welche Massnahmen sind erforderlich?, AJP 1994, S. 453; vgl. auch derselbe,
Trunkenheitsdelikte im Verkehr und Alkoholmissbrauch, Blutalkohol 1988,
S. 203).

    RENÉ SCHAFFHAUSER (Zur Entwicklung von Recht und Praxis des
Sicherungsentzugs von Führerausweisen, AJP 1992, S. 35) führt aus, es
stehe fest und unter Medizinern und Psychologen sei heute grundsätzlich
unangefochten, dass ein höherer BAK-Wert selbst beim Alkoholersttäter in
aller Regel ein Indiz für gewisse Suchtprobleme darstelle. Diese (nicht
ganz neue) Erkenntnis scheine unseren Verwaltungen und Gerichten noch
nicht ausreichend bekannt zu sein. Betrachte man die Entscheide zu den
Sicherungsentzügen wegen Trunksucht, gewinne man (überspitzt formuliert)
oft den Eindruck, es werde nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit
zunächst einmal wiederholt ein Warnungsentzug ausgesprochen, ohne
sich vorerst die Frage nach der Trunksucht überhaupt zu stellen. Erst
wenn man zur Erkenntnis komme, dass auch lange Warnungs-Entzugsdauern
keine Wirkung hätten, werde die Frage nach Art. 14 Abs. 2 lit. c
SVG ernsthaft aufgeworfen. Die Frage, ob ein Warnungs- oder ein
Sicherungsentzug auszusprechen sei, sei nicht aufgrund von Erwägungen zur
Verhältnismässigkeit, sondern in Beantwortung der Rechtsfrage zu klären,
ob Ungeeignetheit - hier: Trunksucht im strassenverkehrsrechtlichen Sinne
- vorliege.

    R. SEEGER (Fahreignung und Alkohol, in: Probleme der Verkehrsmedizin,
hrsg. vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich, 1999, S. 7)
legt dar, mit einem FIAZ-Ereignis habe die betreffende Person mindestens
einmal bewiesen, dass sie Trinken und Fahren nicht trennen könne. Nicht
selten liege dem ein chronisches Alkoholproblem zugrunde. Ein konkreter
und erheblicher Verdacht auf das Vorliegen einer verkehrsmedizinisch
relevanten Alkoholproblematik ergebe sich unter anderem bei einem zweiten
FIAZ-Ereignis innerhalb von fünf Jahren und einer Blutalkoholkonzentration
von mindestens 1,6 Promille.

    c) Der Beschwerdegegner lenkte bereits am 5. Januar 1997 seinen
Personenwagen in angetrunkenem Zustand. Die Blutalkoholkonzentration
betrug beim damaligen Vorfall mindestens 1,74 Promille. Rund ein halbes
Jahr nach Ablauf des dafür ausgesprochenen Führerausweisentzuges von 6
Monaten setzte sich der Beschwerdegegner erneut angetrunken ans Steuer. Die
Blutalkoholkonzentration war mit mindestens 1,79 Promille beim neuen
Vorfall wiederum beträchtlich. Angesichts dessen hätten im Lichte der
angeführten Äusserungen im Schrifttum die kantonalen Behörden abklären
lassen müssen, ob der Beschwerdegegner an einer Trunksucht im Sinne des
Strassenverkehrsgesetzes leidet. Indem sie das nicht getan haben, haben
sie Bundesrecht verletzt. Da Alkohol nebst übersetzter Geschwindigkeit
eine der Hauptursachen für schwere Unfälle im Strassenverkehr darstellt,
ist der mit der medizinischen Abklärung verbundene Eingriff gegenüber dem
Fahrzeuglenker verhältnismässig. Im Übrigen liegt es auch im Interesse
des Lenkers selbst, wenn in einem Fall wie hier geklärt wird, ob er an
einer Sucht leidet oder nicht.

    d) Die Sache wird an das Strassenverkehrsamt zur Durchführung der
entsprechenden Abklärung zurückgewiesen. Dabei wird das Strassenverkehrsamt
von Amtes wegen auch die Notwendigkeit einer vorsorglichen Massnahme zu
prüfen haben. Die Beschwerde wird insoweit gutgeheissen.