Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 II 329



126 II 329

35. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26.
Juli 2000 i.S. Bundesamt für Ausländerfragen gegen A.S., B.S., C.S. und
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 17 Abs. 2 ANAG; Familiennachzug bei zusammenlebenden Eltern.
Nachträgliche Ausübung des Familiennachzugsrechts für Kinder.

    Unterschiedliche Voraussetzungen für getrennte Elternteile einerseits
und zusammenlebende Eltern andererseits; Vorbehalt des Rechtsmissbrauches
(E. 2-4).

Sachverhalt

    Die Ehegatten A.S. und B.S. (geb. 1954 bzw. 1955) sind Staatsangehörige
der Bundesrepublik Jugoslawien. Sie leben seit 1978 bzw. 1979 in der
Schweiz und besitzen die Niederlassungsbewilligung. Von ihren sechs Kindern
leben die beiden jüngsten im elterlichen Haushalt; die drei volljährigen
Kinder haben diesen verlassen, sind aber in der Schweiz bzw. in Österreich
ansässig. Einzig die Tochter C.S. (geb. am 19. Oktober 1982) lebt heute
in Jugoslawien.

    Am 14. Mai 1998 stellten A.S. und B.S. ein Gesuch um Familiennachzug
für ihre Tochter C.S., die in Zürich zur Welt kam, danach aber bei den
Grosseltern väterlicherseits in Kucevo (Serbien) aufgewachsen ist. Seit
der Scheidung der Grosseltern im Jahre 1992 lebt C.S. allein mit ihrer
Grossmutter zusammen; nun sollte sie zu ihren Eltern und ihren zwei
jüngsten Geschwistern nach Dietlikon ziehen.

    Die Direktion der Polizei des Kantons Zürich, Fremdenpolizei, wies
das Gesuch um Familiennachzug am 8. Juli 1998 ab, was der Regierungsrat
des Kantons Zürich auf Rekurs hin schützte (Beschluss vom 31. März
1999). Hiergegen beschwerten sich A.S., B.S. und C.S. erfolgreich beim
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich: Dieses hob den angefochtenen
Regierungsratsbeschluss auf und wies die kantonale Direktion für
Soziales und Sicherheit (vormals: Direktion der Polizei) an, C.S. die
Niederlassungsbewilligung zu erteilen (Entscheid vom 24. November 1999).

    Am 13. Januar 2000 hat das Bundesamt für Ausländerfragen eine
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht eingereicht mit dem
Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 24. November 1999
aufzuheben und die Verfügung der Fremdenpolizei vom 8. Juli 1998 zu
bestätigen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 17 Abs. 2 Satz 3 des Bundesgesetzes vom 26. März
1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20)
haben ledige Kinder von Ausländern, die in der Schweiz niedergelassen sind,
Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung ihrer Eltern, wenn
sie mit diesen zusammenwohnen und noch nicht 18 Jahre alt sind. Zweck des
sogenannten Familiennachzugs ist es, das Leben in der Familiengemeinschaft
zu ermöglichen. Der Gesetzeswortlaut verdeutlicht, dass die rechtliche
Absicherung des Zusammenlebens der Gesamtfamilie angestrebt wird:
Verlangt ist ausdrücklich, dass die Kinder mit ihren Eltern (Plural)
zusammenwohnen werden. Auch die innere Systematik von Art. 17 Abs. 2 ANAG
geht vom Zusammenleben mit Mutter und Vater aus. Die Nachzugsregelung ist
daher auf Familien zugeschnitten, in denen die (leiblichen) Eltern einen
gemeinsamen ehelichen Haushalt führen (grundlegend: BGE 118 Ib 153 E. 2b
S. 159).

    b) Bisher hatte das Bundesgericht vornehmlich Streitfälle zu
beurteilen, in denen ein (vom anderen Elternteil) geschiedener oder
getrennt lebender Ausländer allein den Nachzug seiner Kinder verlangte
(so zuletzt: BGE 125 II 633, 585; 124 II 361; 122 I 267; 122 II 385). Weil
der andere Elternteil jeweilen im Ausland verblieb, ging es dabei nicht
um die Zusammenführung der Gesamtfamilie. Das Bundesgericht hat es deshalb
abgelehnt, einen bedingungslosen Anspruch auf Nachzug der Kinder anzunehmen
(grundlegend: BGE 118 Ib 153 E. 2b S. 159). Es erachtete einen solchen
als nicht dem Gesetzeszweck entsprechend und prüfte differenziert,
ob im konkreten Fall ein Nachzugsrecht bestehe. Dabei hat es mehrfach
festgehalten, das Ziel, das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen,
werde verfehlt, wenn der in der Schweiz niedergelassene Elternteil
das Kind erst kurz vor Erreichen des 18. Altersjahres zu sich hole,
nachdem er jahrelang von ihm getrennt gelebt habe (vgl. BGE 125 II 633
E. 3a S. 640 mit Hinweisen). Eine Ausnahme kann nur gelten, wenn aus den
Umständen des Einzelfalls gute Gründe dafür ersichtlich sind, dass die
Familiengemeinschaft in der Schweiz erst nach Jahren hergestellt wird. Das
gilt in besonderem Masse dann, wenn das Kind, welches nachgezogen werden
soll, bereits einmal in der Schweiz gelebt hat und danach definitiv wieder
in sein Heimatland zurückgekehrt ist (vgl. BGE 125 II 585 E. 2a S. 587
mit Hinweisen). Voraussetzung für ein Nachzugsrecht ist generell, dass der
in der Schweiz lebende Elternteil die vorrangige familiäre Beziehung zum
betroffenen Kind unterhält (BGE 125 II 633 E. 3a S. 640 mit Hinweisen),
wobei zu berücksichtigen ist, bei welchem Elternteil das Kind bisher gelebt
hat und wem die elterliche Gewalt zukommt (BGE 125 II 585 E. 2a S. 587).

    c) Die Vorinstanz hat sich im angefochtenen Urteil nicht vorbehaltlos
auf die dargestellte Rechtsprechung gestützt. Sie hat die Auffassung
vertreten, die Einschränkungen des Nachzugsrechts, welche die Praxis
entwickelt hat, gälten nur für geschiedene oder getrennt lebende
Eltern. Einem gemeinsamen Kind von Eltern, die in einer "intakten
Ehe" lebten, komme gestützt auf Art. 17 Abs. 2 ANAG grundsätzlich
ein (unbedingter) Rechtsanspruch auf Einreise und Niederlassung
zu. Vorbehalten bleibe einzig ein Erlöschen des Anspruchs wegen Verstosses
gegen die öffentliche Ordnung (vgl. Art. 17 Abs. 2 Satz 4 ANAG) sowie
das Rechtsmissbrauchsverbot. Das Bundesamt für Ausländerfragen will
demgegenüber aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ableiten, Art. 17
Abs. 2 ANAG sei nur dann direkt anwendbar, wenn die Kinder verheirateter
Eltern zusammen mit dem zunächst im Ausland verbliebenen Ehepartner
nachgezogen würden. Entsprechend komme die fragliche Bestimmung vorliegend
lediglich analog zur Anwendung, lebe die Beschwerdegegnerin 3 doch heute
als einzige der achtköpfigen Familie in ihrer ursprünglichen Heimat. Das
Gesuch der Beschwerdegegner sei mithin bereits deshalb abzuweisen, weil
sich diese - nach einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände - in
Umgehungsabsicht auf ihr Nachzugsrecht beriefen; nicht erforderlich sei,
dass das Gesuch geradezu rechtsmissbräuchlich sei.

Erwägung 3

    3.- a) Die publizierte bundesgerichtliche Rechtsprechung befasst sich
in der Tat überwiegend mit Kindern geschiedener oder getrennt lebender
Eltern (vgl. aber: BGE 119 Ib 81). Die familiäre Situation, welche dieser
Praxis zugrunde liegt, ist damit eine andere als jene von Kindern, deren
Eltern sich beide in der Schweiz niedergelassen haben und einen gemeinsamen
ehelichen Haushalt führen. Bei einem Kind getrennt lebender Eltern führt
der Umzug in die Schweiz - namentlich dann, wenn das Kind bisher im Ausland
vom andern Elternteil selbst betreut worden ist - nicht ohne weiteres zu
einer engeren Einbindung in eine Familiengemeinschaft. Es wird lediglich
die Obhut eines Elternteils durch jene des andern ersetzt, ohne dass die
Familie als Ganzes näher zusammengeführt würde. In solchen Fällen setzt
der nachträgliche Nachzug eines Kindes daher voraus, dass eine vorrangige
Bindung des Kindes zum in der Schweiz lebenden Elternteil nachgewiesen
ist und stichhaltige familiäre Gründe, zum Beispiel eine Änderung der
Betreuungsmöglichkeiten, dieses Vorgehen rechtfertigen (vgl. E. 2b).

    b) Demgegenüber stellt der Familiennachzug bei Eltern, die in der
Schweiz zusammenleben, jene Familienverhältnisse her, die durch Art. 17
Abs. 2 ANAG geschützt werden sollen: Sinn und Zweck dieser Bestimmung
ist es, den Eltern zu ermöglichen, ihre gemeinsamen Kinder selbst zu
erziehen und zu betreuen. Dem Schutz des Familienlebens (vgl. Art. 8
EMRK) ist für die Beurteilung des Nachzugsrechts entsprechend mehr
Beachtung zu schenken, wenn sich beide Elternteile zusammen in der Schweiz
aufhalten. Auch erscheint die Missbrauchsgefahr geringer, wenn ein Gesuch
zu beurteilen ist, das verheiratete, zusammenlebende Eltern für ihre
gemeinsamen Kinder stellen. Die Kriterien, nach denen praxisgemäss das
Bestehen eines Nachzugsrechts eines Elternteils allein geprüft wird,
können deshalb nicht ohne weiteres auf intakte Familien übertragen
werden. Entgegen der Auffassung des beschwerdeführenden Bundesamts ergibt
sich aus der publizierten Rechtsprechung nichts anderes: Das Bundesgericht
hat seine restriktive Praxis stets damit begründet, dass bei Kindern
getrennt lebender Eltern nicht der von Art. 17 Abs. 2 ANAG verfolgte
Schutz der Gesamtfamilie in Frage stehe (vgl. E. 2a). Damit hat es sich
(implizit) vorbehalten, im Fall zusammenlebender Eltern andere Akzente
zu setzen. Der nachträgliche Familiennachzug durch zusammenlebende
Eltern ist deshalb möglich, ohne dass besondere stichhaltige Gründe
die beabsichtigte Änderung der Betreuungsverhältnisse rechtfertigen
müssen. Innerhalb der allgemeinen Schranken von Art. 17 Abs. 2 Satz 3
ANAG ist der Nachzug von gemeinsamen Kindern durch beide Elternteile
zusammen grundsätzlich jederzeit zulässig; vorbehalten bleibt einzig das
Rechtsmissbrauchsverbot. Je länger mit der Ausübung des Nachzugsrechtes
ohne sachlichen Grund zugewartet wird und je knapper die verbleibende
Zeit bis zur Volljährigkeit ist, umso eher kann sich auch bei im Ausland
verbliebenen gemeinsamen Kindern zusammenlebender Eltern die Frage stellen,
ob wirklich die Herstellung der Familiengemeinschaft beabsichtigt ist oder
ob die Ansprüche aus Art. 17 ANAG zweckwidrig für die blosse Verschaffung
einer Niederlassungsbewilligung geltend gemacht werden.

Erwägung 4

    4.- a) Das streitige Gesuch um Familiennachzug wurde erst gestellt,
als C.S. 151/2 Jahre alt war. Dennoch schliesst nicht bereits ihr Alter
aus, dass es den Beschwerdegegnern mit ihrem Gesuch tatsächlich um das
familiäre Zusammenleben geht. Soweit das Bundesamt das Gegenteil annimmt,
verkennt es, dass die gesetzliche Altersgrenze nicht ihres Inhalts
entleert werden darf; genau dies wäre das Ergebnis einer Praxis, die
Jugendlichen bereits zweieinhalb Jahre vor Erreichen des 18. Altersjahrs
generell jeglichen Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung
ihrer Eltern absprechen würde. Zwar erscheint umso weniger glaubwürdig,
dass vorrangig die Zusammenführung der Familie angestrebt wird, je näher
das Alter des betreffenden Kindes bei der Grenze von 18 Jahren liegt;
gänzlich ausgeschlossen ist der Familiennachzug jedoch erst bei deren
Erreichen. Vorliegend hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt,
die Beschwerdegegnerin 3 bedürfe auch zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung
noch einer altersgerechten Fürsorge und Erziehung. Es leuchtet ein, dass
ihr diese bei den Eltern und den zwei jüngeren Geschwistern besser zuteil
werden kann als bei ihrer alleinstehenden, offenbar leicht kränkelnden
Grossmutter.

    b) Im Unterschied zum Sachverhalt, der in BGE 119 Ib 81 zu beurteilen
war, hat das vorliegende Gesuch um Familiennachzug nicht missbräuchlichen
Charakter (vgl. BGE 119 Ib 81 E. 3b S. 89). Im Gegenteil: Die Vorinstanz
hat festgestellt, die Eltern hätten mit dem Nachzugsbegehren bis
zum Frühjahr 1998 zugewartet, weil sie schlechte Erfahrungen mit dem
Schulwechsel von C.S.s älterer Schwester gemacht hatten, die als 13-Jährige
in die Schweiz gekommen sei; nach einer pädagogischen Beratung hätten sie
entschieden, den Schulabschluss von C.S. abzuwarten. An dieser Stelle ist
nicht zu beurteilen, ob und inwieweit das Vorgehen der Eltern sachgerecht
gewesen ist. Entscheidend ist, dass die Vorinstanz die Ausführungen der
Beschwerdegegner für glaubwürdig erachtet und festgehalten hat, diese
hätten mit ihrem Gesuch vornehmlich die Zusammenführung der Familie
angestrebt. Derartige Feststellungen über innere, psychische Vorgänge
betreffen nach der Rechtsprechung tatsächliche Verhältnisse (BGE 125
IV 242 E. 3c S. 252 mit Hinweisen) und sind für das Bundesgericht -
gestützt auf Art. 105 Abs. 2 OG - grundsätzlich verbindlich (vgl. E. 1c).
Deshalb ist der Vorinstanz auch zuzustimmen, wenn sie ausführt, die Absicht
der Eltern, ihrer Tochter bessere Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten
zu verschaffen, sei nicht rechtsmissbräuchlich. Ein Rechtsmissbrauch wäre
vorliegend erst gegeben, wenn es allein - bzw. vor allem - wirtschaftliche
Interessen gewesen wären, welche die Beschwerdegegner zum Familiennachzug
bewogen hätten. Im Übrigen darf bei der Würdigung der konkreten Umstände
durchaus berücksichtigt werden, dass die Eltern beide seit über 20
Jahren in der Schweiz leben und arbeiten und offenbar selbst kurz vor der
Einbürgerung stehen, während ihr jüngster Sohn bereits Schweizer Bürger
ist. Unter den gegebenen Umständen ist unerheblich, dass die Betreuung
der Beschwerdeführerin 3 in der Heimat an sich noch möglich wäre.

    c) Schliesslich schadet vorliegend nicht, dass die Beschwerdegegnerin
3, die in der Schweiz geboren wurde, in ihre Heimat (Jugoslawien)
ausgereist ist (vgl. E. 2b), hat sie doch weder wirklich in der Schweiz
"gelebt" noch ist sie definitiv in ihr Heimatland zurückgekehrt: Sie wurde
bereits wenige Wochen nach ihrer Geburt zu den Grosseltern väterlicherseits
in Pflege gegeben. Die Ausreise hatte nicht endgültigen Charakter,
war doch gemäss den plausiblen Ausführungen der Beschwerdegegner stets
beabsichtigt, die Beschwerdegegnerin 3 später wieder mit ihrer Familie zu
vereinen. Ihre Situation unterscheidet sich deshalb nicht wesentlich von
jener eines Kindes, das im Ausland geboren und aufgewachsen ist. Im Übrigen
ist es verständlich, dass die Eltern, welche offenbar beide erwerbstätig
sind, sich nicht in der Lage sahen, alle Kinder selbst zu betreuen; wie
die Vorinstanz richtig erkannt hat, dürfte sich die (Gross-)Familie der
Beschwerdegegner mit nicht unbedeutenden Problemen bezüglich Finanzen und
Kinderbetreuung konfrontiert gesehen haben. Inwieweit damals allenfalls
auch in der Schweiz eine Betreuung durch Drittpersonen hätte organisiert
(und bezahlt) werden können, wie dies der Beschwerdeführer annimmt,
kann heute nicht mehr zuverlässig beurteilt werden.

    d) Das angefochtene Urteil steht nach dem Gesagten mit Art. 17 Abs. 2
ANAG in Einklang, und die dagegen erhobene Beschwerde ist unbegründet.