Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 II 206



126 II 206

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. März 2000 i.S.
Bundesamt für Strassen gegen X. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 16 Abs. 2, Art. 16 Abs. 3 lit. a, Art. 31 Abs. 2 SVG;
Führerausweisentzug, Einnicken am Steuer.

    Das Einnicken am Steuer (Fahren in übermüdetem Zustand) stellt in
der Regel einen obligatorischen Entzugsgrund gemäss Art. 16 Abs. 3 lit. a
SVG dar.

Sachverhalt

    A.- X. fuhr am 18. August 1998 um ca. 05.45 Uhr auf dem
Normalstreifen der Autobahn A6-Süd von Kiesen Richtung Rubigen. Bei
einer Fahrgeschwindigkeit von zwischen 120 und 130 km/h nickte er
plötzlich kurz ein. Als er wieder erwachte, sah er ca. 20 m vor sich
einen VW-Bus. Trotz Vollbremsung und Ausweichens nach rechts kam es zu
einer Kollision mit dem Heck des voranfahrenden VW-Busses und in der
Folge auch mit dem Wildschutzzaun am rechten Fahrbahnrand. Beim Unfall
entstand ein Sachschaden von Fr. 25'000.-.

    B.- Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern entzog
X. am 6. Januar 1999 den Führerausweis wegen Führens eines Personenwagens
in nicht fahrfähigem Zustand (kurzes Einnicken) für die Dauer eines Monats
in Anwendung von Art. 16 Abs. 2 SVG (SR 741.01).

    Eine Beschwerde des Betroffenen wies die Rekurskommission des Kantons
Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern am 24. März 1999 ab.

    C.- Das Bundesamt für Strassen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und X. sei der
Führerausweis für die Dauer von sechs Monaten zu entziehen in Anwendung
von Art. 16 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und weist die
Sache zur Neubeurteilung an die Rekurskommission zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führerausweis entzogen
werden, wenn der Fahrzeuglenker Verkehrsregeln verletzt und dadurch den
Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat. Hat der Führer den Verkehr
in schwerer Weise gefährdet, ist gemäss Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG der
Entzug des Führerausweises obligatorisch. Nach der Rechtsprechung ist der
Führerausweis nur dann gestützt auf Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG zu entziehen,
wenn dem Fahrzeuglenker ein schweres Verschulden anzulasten ist (BGE 105
Ib 121), mithin bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit
(BGE 123 IV 88 E. 4a). Diese ist zu bejahen, wenn der Täter sich der
allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst
ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber auch vorliegen, wenn der Täter die
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht
zieht, also unbewusst fahrlässig handelt. In solchen Fällen bedarf jedoch
die Annahme grober Fahrlässigkeit einer sorgfältigen Prüfung (BGE 118 IV
285 E. 4, S. 290; 106 IV 49/50 mit Hinweisen).

    Wer angetrunken, übermüdet oder sonst nicht fahrfähig ist, darf kein
Fahrzeug führen (Art. 31 Abs. 2 SVG). In der Literatur (H.P. HARTMANN,
Der Kranke als Fahrzeuglenker, Berlin u.a. 1980, S. 39 f., zitiert in
SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band
I, N. 378 f.) werden als wichtige ermüdungsfördernde Faktoren solche
unterschieden, die in der Person oder Situation des Fahrzeugführers
liegen (Alleinfahrt, Dauerfahrt von Stunden mit ständiger Konzentration,
ununterbrochen langsame Fahrt, Bekanntheit der Strecke, vorausgegangene
schwere körperliche oder geistige Arbeit, Hunger oder voller Magen,
Alkohol, dämpfende Medikamente, Krankheit, Rekonvaleszenz), von vom
Fahrzeug ausgehenden (Monotonie von Motorlärm und Vibration, Überheizung,
schlechte Lüftung, mangelhafter Sitz- oder Bedienungskomfort) und von
strassen- bzw. witterungsbedingten Faktoren (Eintönigkeit der Strasse,
Dauerregen, Hitze, Sonne, Nacht, Zwielicht). Charakteristische Symptome
von (unterschiedlich starker) Ermüdung lassen sich feststellen im
Augen-/Sehbereich (Lidschwere, Trübung des Blickes, Fremdkörperreiz,
Konvergenzschwäche mit Schielen und Doppelbildern, Schattensehen,
"schwimmende" Strasse), in psychischer Hinsicht (Abschweifen in Gedanken,
Dösen, "Autobahn-Hypnose", Gleichgültigkeit, Lustlosigkeit, Unruhe,
Aufschrecken, kurze Absenz mit offenen Augen), in der allgemeinen
körperlichen Verfassung (Gähnen, Mundtrockenheit mit Durst, Erschrecken
mit Schweissausbruch, plötzlicher Tonusverlust der Muskulatur) und
in der Fahrweise (verzögerte Reaktionen, hartes Kuppeln, brüskes
Bremsen, Schaltmüdigkeit, Abweichen von der Fahrspur, verlorenes
Geschwindigkeitsgefühl).

    Angesichts dieser Ermüdungssymptome kann heute bei einem gesunden
und nicht aus anderen Gründen fahrunfähigen Fahrzeugführer Einschlafen
am Steuer (sog. "Sekundenschlaf") ohne vorherige subjektiv erkennbare
Ermüdungserscheinungen ausgeschlossen werden (HARTMANN/SCHAFFHAUSER,
aaO, S. 40 bzw. N. 381). Zum selben Ergebnis gelangt auch H. JOACHIM:
"Unter forensischen Aspekten ist zusammenfassend festzustellen, dass es ein
unvorhersehbares Einschlafen am Steuer nach übereinstimmenden Ansichten
nur unter aussergewöhnlichen und krankhaften Bedingungen gibt. Eine
zunehmende Ermüdung ist zunehmend erkennbar. Die Ermüdungszeichen sind
Kraftfahrern bekannt" (Praxis der Rechtsmedizin für Mediziner und Juristen,
herausgegeben von BALDUIN FORSTER, Stuttgart/New York/München 1986,
S. 385 ff., insbesondere S. 388; z.T. abweichend JAGUSCH/HENTSCHEL,
Strassenverkehrsrecht, 34. Auflage, StVZO § 2 N. 9b-d und StGB § 315c
N. 14).

    Das Verschulden eines Fahrzeugführers, der am Steuer einschläft,
ist deshalb in aller Regel als schwer zu bezeichnen. Zutreffend führt
SCHAFFHAUSER (aaO, S. 211 f. Fn. 1) dazu aus, dass wer während der Fahrt
einschlafe, offensichtlich überhaupt keine Möglichkeit mehr habe, auf den
Gang des Geschehens einzuwirken. Das Fahrzeug fahre ungeführt, "herrenlos"
irgendwohin. Dass solche Phasen in der Regel kurz seien, sei meist der
Tatsache zuzuschreiben, dass bald einmal eine Kollision erfolge, in deren
Gefolge der Führer erwache. Damit dürfte regelmässig ein qualifizierter
Fall einer erhöhten abstrakten Verkehrsgefährdung vorliegen. Auch das
Verschulden sei regelmässig als schwer zu qualifizieren. Wer sich so
übermüdet ans Lenkrad setze, dass er bei nächster Gelegenheit ohne
weitere Vorwarnung einschlafe, handle grobfahrlässig. Wer hingegen in
fahrfähigem Zustand losfahre, schlafe regelmässig nicht ohne vorherige
subjektiv erkennbare Ermüdungserscheinungen ein. Es erscheine daher
als grob pflichtwidrig, solche deutliche Zeichen unbeachtet zu lassen
in der Hoffnung, man werde weiterhin wach bleiben. Es gehöre wohl zu den
elementarsten und wichtigsten Pflichten des Lenkers, aktiv dafür zu sorgen,
dass er wach bleibe, solange er sich im Verkehr bewege.

    b) Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdegegner zu Recht vor, er habe
weder auf die ersten Ermüdungssymptome reagiert noch etwas dagegen
unternommen, als diese in vermehrtem Masse aufgetreten seien. Da
die Gefährlichkeit eines Einnickens am Steuer allgemein bekannt sei,
und der Beschwerdegegner trotz der vermehrt auftretenden und für ihn
erkennbaren Übermüdungsanzeichen seine Fahrt nicht abgebrochen habe,
habe die erste Instanz zu Recht auf ein nicht mehr leichtes Verschulden
erkannt. Das kurze Einnicken am Steuer stelle in aller Regel eine grobe
Verkehrsregelverletzung dar; dass die erste Instanz den vorliegenden
Fall nur als mittelschwer qualifiziert habe, müsse deshalb als milde
Massnahme bezeichnet werden. Dennoch hat sie die erstinstanzliche Verfügung
bestätigt.

    Wie das beschwerdeführende Amt zutreffend geltend macht, ist diese
Argumentation nicht nachvollziehbar. Nachdem die Vorinstanz zu Recht
davon ausgeht, dass das Einnicken am Steuer in der Regel eine grobe
Verkehrsregelverletzung darstellt, hätte sie entweder eine solche annehmen
oder aber darlegen müssen, weshalb das Verschulden des Beschwerdegegners
weniger schwer wiege als im Regelfall. Dafür findet sich im angefochtenen
Entscheid keine Begründung, weshalb er aufzuheben ist.

    In ihrer Vernehmlassung weist die Vorinstanz darauf hin, dass das
Bundesgericht auch schon kantonale Entscheide geschützt hat, wo das
Einnicken am Steuer als mittelschwerer beziehungsweise als leichter Fall
beurteilt worden sei. Der unveröffentlichte Entscheid vom 4. September
1991 i.S. Département de justice et police du canton de Genève gegen
S. ging davon aus, es fehlten tatsächliche Feststellungen, wonach der
Autofahrer wegen seiner Überarbeitung mit einem plötzlichen Einnicken hätte
rechnen müssen oder dass sich bei ihm Ermüdungsanzeichen bemerkbar gemacht
hätten. Angesichts der vorerwähnten Literatur muss diese Rechtsprechung
als überholt bezeichnet werden. Im unveröffentlichten Entscheid vom
20. Dezember 1991 i.S. Verkehrsamt des Kantons Schwyz gegen B. hatte der
Fahrzeuglenker versucht, der Gefahr des Einnickens durch verschiedene -
wenn auch ungenügende - Vorkehren vorzubeugen. Deshalb traf ihn auch
ein weniger schweres Verschulden als einen Fahrzeuglenker, der bei immer
stärker auftretenden Ermüdungsanzeichen nichts Besonderes unternimmt im
Vertrauen darauf, es werde schon gut gehen.

    Soweit die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung auf die berufliche
Sanktionsempfindlichkeit des Beschwerdegegners hinweist, ist zunächst
festzuhalten, dass dieser Umstand bei der Beurteilung des Verschuldens, ob
ein mittelschwerer oder ein schwerer Fall vorliegt, nicht von Bedeutung
ist. Im Weiteren ist offensichtlich, dass der Beschwerdegegner, der
in Leissigen wohnt und in Gümligen in einem Schichtbetrieb arbeitet,
im Verhältnis zum Durchschnittsfahrer stärker auf den Führerausweis
angewiesen ist. Hingegen ist er nicht so schwer betroffen wie ein
Fahrzeuglenker, dessen Berufsarbeit ganz oder teilweise im Führen von
Motorfahrzeugen besteht. Im Übrigen wäre es für den Beschwerdegegner
zumindest teilweise möglich, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln die
normalen Schichtarbeitszeiten einzuhalten.

    Das beschwerdeführende Amt betont zu Recht die Gefährlichkeit, die
von übermüdeten Fahrzeuglenkern ausgeht, und dass ein unvorhersehbares
Einschlafen am Steuer bei einem gesunden Fahrzeugführer ohne vorherige
subjektiv erkennbare Ermüdungserscheinungen ausgeschlossen werden
könne. Soweit das Amt deshalb den Tatbestand des Fahrens in übermüdetem
Zustand in der Regel als grobe Verkehrsregelverletzung bezeichnet,
ist ihm zuzustimmen. Aus dem Umstand, dass das Fahren in angetrunkenem
Zustand einen obligatorischen Entzugsgrund darstellt (Art. 16 Abs. 3
lit. b SVG), kann jedoch nicht geschlossen werden, angesichts der noch
grösseren Gefährdung der übrigen Verkehrsteilnehmer gelte dies erst
recht für den Tatbestand des Fahrens in übermüdetem Zustand. Zwar sind
beide Tatbestände Varianten fehlender Fahrfähigkeit (Art. 31 Abs. 2 SVG).
Doch behandelt der Gesetzgeber die beiden Tatbestände unterschiedlich,
indem in Art. 16 Abs. 3 lit. b SVG die Übermüdung nicht erwähnt ist und
gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG nur das Fahren in angetrunkenem Zustand
mit einer Mindestentzugsdauer von zwei Monaten geahndet wird. Hätte der
Gesetzgeber die beiden Tatbestände gleich behandeln wollen, so hätte er
in den erwähnten Bestimmungen nur den Begriff in "angetrunkenem" Zustand
durch den Begriff in "fahrunfähigem" Zustand ersetzen müssen.