Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 III 540



126 III 540

95. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. Oktober 2000
i.S. Heinz Fischer AG gegen Firma Alois Meier (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. Ia des Protokolls Nr. 1 zum Lugano-Übereinkommen (LugÜ).

    Der schweizerische Vorbehalt gemäss Art. Ia des Protokolls Nr. 1
zum LugÜ ist seit dem 31. Dezember 1999 unwirksam und steht auch der
Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen, welche zuvor ergangen sind,
nicht mehr entgegen (E. 2).

Sachverhalt

    Die in Deutschland domizilierte Firma Alois Meier erhob am deutschen
Erfüllungsort Klage gegen die Heinz Fischer AG mit Sitz in der Schweiz. Die
Klage wurde mit Endurteil des Oberlandesgerichts München vom 1. August
1997 gutgeheissen und die Beklagte zur Zahlung von DM 429'763.70 nebst
Zins zu 5% seit dem 4. Juni 1996 an die Klägerin verurteilt.

    Mit Eingabe vom 10. März 2000 an den Einzelrichter des Bezirkes Zürich
ersuchte die Klägerin erneut darum, das Urteil des Oberlandesgerichts
München vom 1. August 1997 vollstreckbar zu erklären. Zudem verlangte
sie die definitive Rechtsöffnung in der Betreibung Nr. 65342 des
Betreibungsamtes Zürich 10 (Zahlungsbefehl vom 21. Februar 2000)
für Fr. 358'637.80 nebst Zins zu 5 % seit 4. Juni 1996 und die
Zahlungsbefehlskosten von Fr. 215.-. Mit Verfügung vom 3. Mai 2000
hiess der Einzelrichter diese Begehren gut. Die von der Beklagten dagegen
erhobenen Rechtsmittel wurden vom Obergericht mit Beschluss vom 18. August
2000 abgewiesen.

    Die Beklagte erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag,
den Beschluss des Obergerichts vom 18. August 2000 aufzuheben.

    Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht ging davon aus, der Vorbehalt gemäss Art. Ia des
Protokolls Nr. 1 zum LugÜ (SR 0.275.11) sei dahingehend zu verstehen,
dass am Vertragserfüllungsort ergangene Entscheidungen, die vor dem
31. Dezember 1999 in einem Vertragsstaat des LugÜ rechtskräftig geworden
seien, während der Geltungsdauer des Vorbehalts in der Schweiz nicht
anerkannt und vollstreckt werden könnten, danach hingegen schon.

    Die Beschwerdeführerin rügt, das Obergericht habe zu Unrecht
angenommen, der Vorbehalt gemäss Art. Ia des Protokolls Nr. 1 zum LugÜ
stelle bloss einen Vollstreckungsaufschub dar. Es habe verkannt, dass
alleine ein Vollstreckungshindernis dem Zweck des Vorbehalts entsprechen
würde, der verlange, dass während der Dauer des Vorbehalts am ausländischen
Erfüllungsort ergangene Urteile in der Schweiz nie vollstreckt werden
könnten.

    a) aa) Die Auslegung eines Staatsvertrages hat in erster Linie
vom Vertragstext auszugehen. Erscheint dieser klar und ist seine
Bedeutung, wie sie sich aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sowie aus
Gegenstand und Zweck des Übereinkommens ergibt, nicht offensichtlich
sinnwidrig, so kommt eine über den Wortlaut hinausgehende ausdehnende
bzw. einschränkende Auslegung in Frage, wenn aus dem Zusammenhang oder
der Entstehungsgeschichte mit Sicherheit auf eine vom Wortlaut abweichende
Willenseinigung der Vertragsstaaten zu schliessen ist (BGE 125 V 503 E. 4b
mit Hinweisen). Diese Auslegungsgrundsätze gelten auch bezüglich des LugÜ
(vgl. BGE 124 III 382 E. 6c S. 394).

    bb) Art. Ia des Protokolls Nr. 1 über bestimmte Zuständigkeits-,
Verfahrens- und Vollstreckungsfragen zum LugÜ (nachstehend: Prot. Nr. 1
LugÜ) lautet:
      (1) Die Schweizerische Eidgenossenschaft behält sich das Recht vor,
      bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zu erklären,

    dass eine in einem anderen Vertragsstaat ergangene Entscheidung in der

    Schweiz nicht anerkannt oder vollstreckt wird, wenn
      a) die Zuständigkeit des Gerichts, das die Entscheidung erlassen hat,

    sich nur auf Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens stützt;
      b) der Beklagte zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens seinen

    Wohnsitz in der Schweiz hatte; im Sinne dieses Artikels hat eine

    Gesellschaft oder juristische Person ihren Sitz in der Schweiz,
wenn ihr

    statutarischer Sitz und der tatsächliche Mittelpunkt ihrer Tätigkeit in

    der Schweiz liegen und
      c) der Beklagte gegen die Anerkennung oder die Vollstreckung der

    Entscheidung in der Schweiz Einspruch erhebt, sofern er nicht auf den

    Schutz der in diesem Absatz vorgesehenen Erklärung verzichtet hat.
      (2) Dieser Vorbehalt ist nicht anzuwenden, soweit in dem Zeitpunkt,
      zu

    dem die Anerkennung oder Vollstreckung beantragt wird, eine Änderung
von

    Art. 59 der Schweizerischen Bundesverfassung stattgefunden hat. Der

    Schweizerische Bundesrat teilt solche Änderungen den

    Unterzeichnungsstaaten und den beigetretenen Staaten mit.
      (3) Dieser Vorbehalt wird am 31. Dezember 1999 unwirksam. Er kann

    jederzeit zurückgezogen werden.

    Bei der Ratifizierung des LugÜ hat die Schweiz diesen Vorbehalt
angebracht (AS 1991 III 2478). Dessen Befristung begründete der
Bundesrat in seiner Botschaft vom 21. Februar 1990 betreffend das
LugÜ damit, dass der Zeitraum bis zum 31. Dezember 1999 der Schweiz
Gelegenheit geben soll, für den Grundsatz des Artikels 59 aBV auf dem
Weg der ordentlichen Verfassungsänderung eine europafähige Fassung zu
finden (BBl 1990 II 294). Diese Neufassung wurde in Art. 30 Abs. 2 der
revidierten Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV) geschaffen, welche
am 1. Januar 2000, d.h. unmittelbar nach Ablauf der Geltungsdauer des
Vorbehalts in Kraft trat. In Art. 30 Abs. 2 BV wird die Garantie des
Wohnsitzgerichtsstandes gemäss Art. 59 aBV grundsätzlich beibehalten,
jedoch eingeschränkt, indem das Gesetz einen anderen Gerichtsstand
vorsehen kann. Unter "Gesetz" im Sinne dieser Bestimmung sind nicht
nur Bundesgesetze sondern auch Staatsverträge zu verstehen (JOLANTA
KREN KOSTKIEWICZ, Vorbehalt von Art. 1a des Protokolls Nr. 1 zum
Lugano-Übereinkommen - quo vadis?, SJZ 95/1999 S. 237 ff., S. 243;
Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996,
BBl 1997 I 184, bezüglich Art. 26 des Entwurfs, der insoweit vom
Parlament nicht abgeändert wurde: vgl. AB 1998 S 49 f., Votum Dick).
Die Einschränkung des Wohnsitzgerichtsstandes durch das LugÜ ist daher
mit der totalrevidierten Verfassung vereinbar (OSCAR VOGEL, Grundriss
des Zivilprozessrechts und des internationalen Zivilprozessrechts der
Schweiz, 6. Aufl., S. 101 f. Rz. 29c; KURT SIEHR, Entwicklungen im
schweizerischen internationalen Privatrecht, SJZ 96/2000 S. 84; vgl.
auch ALEXANDER MARKUS, Der schweizerische Vorbehalt nach Protokoll Nr. 1
Lugano-Übereinkommen: Vollstreckungsaufschub oder Vollstreckungshindernis?,
ZBJV 135/1999 S. 57 ff., S. 60 Fn. 15 und FRANÇOIS KNOEPFLER, La Convention
de Lugano au soir du 31 décembre 1999, in: De la constitution, études en
l'honneur de Jean-François Aubert, S. 531 ff., S. 533; AB 1999 N 1029 f.,
Votum Baader).

    Nach Art. Ia Abs. 2 Prot. Nr. 1 LugÜ ist der Vorbehalt nicht
anzuwenden, wenn im Zeitpunkt, in dem die Anerkennung oder Vollstreckung
beantragt wird, eine Änderung von Art. 59 aBV stattgefunden hat. Damit wird
die Unwirksamkeit des Vorbehalts für Vollstreckungsgesuche, welche nach
einer Verfassungsänderung gestellt werden, ausdrücklich vorgesehen, ohne
dass diesbezüglich eine Beschränkung auf nachträglich ergangene Urteile
vorgesehen wäre. Aus dem Wortlaut des Vorbehalts ist daher abzuleiten, dass
dieser lediglich einen Vollstreckungsaufschub gewährt (VOGEL, aaO, S. 115
Rz. 45s; MARKUS, aaO, S. 62 f.). Dieses Verständnis wird dadurch bestätigt,
dass Art. Ia Abs. 3 Prot. Nr. 1 LugÜ davon spricht, der Vorbehalt werde
am 31. Dezember 1999 "unwirksam" bzw. "cessera de produire ses effets",
was ebenfalls darauf schliessen lässt, dass er nach diesem Datum überhaupt
keine Wirkung mehr entfaltet (SIEHR, aaO, S. 84; vgl. auch KNOEPFLER,
aaO, S. 539). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann aus
der Entstehungsgeschichte und dem Zweck des Vorbehalts nicht auf eine
vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der Vertragsstaaten geschlossen
werden, weil diese abgesehen von der Schweiz an einer möglichst umfassenden
Geltung des LugÜ und damit an einer eingeschränkten Wirkung des Vorbehalts
interessiert waren, was gegen eine extensive Auslegung spricht (vgl.
MARKUS, aaO, S. 63 f.). So kann auch der Umstand, dass mit einem blossen
Vollstreckungsaufschub die Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes gemäss
Art. 59 aBV vor allem gegen Ende der Vorbehaltsdauer faktisch nur noch
beschränkt gewährleistet wurde, zu keinem anderen Ergebnis führen, zumal
im Zeitpunkt der Aushandlung des Vorbehalts eine Anpassung von Art. 59
aBV absehbar war und diese Bestimmung durch die nationale Gesetzgebung
und das LugÜ auch andere Einschränkungen erfahren hatte (vgl. Botschaft
betreffend das LugÜ, aaO, S. 293 f.; VOGEL, aaO, S. 101 Rz. 29 und 29a;
a.M. MARKUS, aaO, S. 67 ff.). Da der Vorbehalt selbst bestimmt, welche
Wirkung er nach der Änderung von Art. 59 aBV bezüglich vorher ergangener
Urteile entfaltet, liegt insoweit keine Lücke vor. Damit besteht entgegen
der Annahme der Beschwerdeführerin kein Raum für eine analoge Anwendung
von Übergangsbestimmungen des LugÜ (vgl. KNOEPFLER, aaO, S. 538 f.;
a.M. MARKUS, aaO, S. 70 ff.).

    b) Nach dem Gesagten ist das Obergericht zu Recht davon ausgegangen,
der schweizerische Vorbehalt gemäss Protokoll Nr. 1 zum LugÜ gewähre
bloss einen Vollstreckungsaufschub. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.