Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 III 497



126 III 497

87. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. Oktober
2000 i.S. X. gegen Y. & Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Anhörung der Kinder gemäss Art. 144 Abs. 2 ZGB im Verfahren betreffend
Erlass vorsorglicher Massnahmen für die Dauer des Scheidungsverfahrens
(Art. 137 ZGB).

    Die Kinder sind bereits im Massnahmeverfahren nach Art.  137 ZGB in
geeigneter Weise durch den Richter oder durch eine beauftragte Drittperson
persönlich anzuhören, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe
dagegen sprechen.

Sachverhalt

    A.- Y. und X. heirateten im Jahre 1985. Aus dieser Ehe gingen
die Kinder L. (geb. 15. Februar 1986), G. (geb. 24. Februar 1987),
F. (geb. 3. April 1989) und T. (geb. 2. März 1991) hervor.

    B.- Nachdem das Scheidungsverfahren am 18. November 1998 eingeleitet
worden war, wies der Bezirksgerichtspräsident Unterlandquart am 3. Februar
2000 die Kinder für die Dauer des Verfahrens zur Pflege und Erziehung
Y. zu und stellte sie unter deren alleinige Obhut. X. räumte er ein
Besuchsrecht ein und verpflichtete ihn zu Unterhaltsbeiträgen für seine
Kinder. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde von X. wies der
Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart mit Beiurteil vom 3. Mai 2000 ab.

    C.- X. führt staatsrechtliche Beschwerde unter anderem wegen Verletzung
von Art. 9 BV mit dem Antrag, das angefochtene Beiurteil aufzuheben.

    Y. sowie der Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart schliessen auf
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesgericht
heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt das angefochtene
Beiurteil auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Nach Art. 144 Abs. 1 ZGB sind die Eltern persönlich anzuhören,
wenn Anordnungen über die Kinder zu treffen sind. Abs. 2 der genannten
Bestimmung sieht vor, dass die Kinder in geeigneter Weise durch das Gericht
oder durch eine beauftragte Drittperson persönlich anzuhören sind, soweit
nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen.

    b) Aus dem Wortlaut von Abs. 1 des Art. 144 ZGB in Verbindung mit
Abs. 2 der Bestimmung lässt sich folgern, dass auch eine persönliche
Anhörung der Kinder vorgeschrieben ist, wenn sie betreffende
Anordnungen getroffen werden; daraus ergibt sich, dass es sich bereits
im Massnahmeverfahren nach Art. 137 ZGB von Gesetzes wegen aufdrängt,
die Kinder persönlich anzuhören, sofern die im Gesetz umschriebenen
Massnahmen verfügt werden. Die hier vertretene Auslegung rechtfertigt
sich denn auch im Lichte von Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens vom
20. November 1989 über die Rechte des Kindes (SR 0.107); diese Bestimmung
gebietet grundsätzlich eine Anhörung der Kinder, wenn ein Gerichts- oder
Verwaltungsverfahren ihre Angelegenheiten betrifft (vgl. dazu auch: BGE 124
III 90). In der Literatur wird eine Anhörung bereits im Massnahmeverfahren
nach Art. 137 ZGB unter anderem aus den vorgenannten Gründen befürwortet
(vgl. insbes. SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht,
Zürich 1999, N. 6 zu Art. 144 ZGB; SPÜHLER, Neues Scheidungsverfahren,
Zürich 1999, S. 30; RUMO-JUNGO, Die Anhörung des Kindes unter besonderer
Berücksichtigung verfahrensrechtlicher Fragen, AJP 1999 S. 1587, VII. 2.;
etwas nuancierter: SCHWEIGHAUSER, in Schwenzer [Herausg.], Praxiskommentar
zum Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 18 zu Art. 144 ZGB, wonach sich die
Anhörung lediglich aufdrängt, wenn die Frage der Zuteilung der Obhut oder
des Besuchsrechts strittig ist).

    c) Im vorliegenden Fall sind keine Gründe ersichtlich, die im Sinne
von Art. 144 Abs. 2 ZGB gegen eine solche Anhörung sprechen würden. Dies
gilt bezüglich des Alters der Kinder; dabei wird keineswegs übersehen,
dass das Jüngste derzeit erst ca. 9 1/2 Jahre alt ist. In dem in BGE 124
III 93/94 beschriebenen Fall wurde ein 6-jähriges Kind vor allem wegen
des bis dahin fehlenden Kontaktes zum Vater, aber auch wegen anderer
wichtiger Gründe nicht persönlich angehört (vgl. hiezu auch RUMO-JUNGO,
aaO, S. 1581/1582). Ferner besteht auch keine Dringlichkeit, bei der eine
Anhörung im Verfahren der vorsorglichen Massnahmen allenfalls unterbleiben
könnte (RUMO-JUNGO, aaO, S. 1587 Anm. 129).